Die Verfassungserneuerung
Die Deutschen verständigen sich auf Basis des Grundgesetzes neu, erklärt Menschenrechtsaktivist Ralph Boes im Interview.
Die Bundesrepublik soll zum ersten Mal eine liberale, soziale und basisdemokratische Verfassung auf Grundlage des Grundgesetzes erhalten. Auch Volksentscheide sollen ermöglicht werden. Wie genau dies zustandekommen soll, erklärt der Menschenrechtsaktivist Ralph Boes in einem ausführlichen Interview mit der Wochenzeitung „Demokratischer Widerstand“.
Demokratischer Widerstand (Anselm Lenz): Sehr geehrter Herr Boes, warum brauchen wir ein neues Grundgesetz? Ist das alte denn nicht gut genug?
Ralph Boes: Lieber Herr Lenz, wir brauchen nicht wirklich ein neues Grundgesetz. Das Grundgesetz ist fantastisch gut, jedenfalls wenn man es nach seiner Grundsubstanz betrachtet. Unser Problem ist nicht, dass das Grundgesetz nichts taugt, sondern dass unsere Politiker sich nicht daran halten.
Was ist denn das „fantastisch Gute“ am Grundgesetz?
Mit dem Grundgesetz haben wir die einzige Verfassung in der Welt, die direkt die Würde des Menschen und seine Grundrechte und nicht das Wohl des Staates, nicht das Wohl oder die Vorstellungen bestimmter Interessensgruppen, der Wirtschaft oder Parteien ins Zentrum stellt. Zudem haben wir im Grundgesetz die einzige Verfassung der Welt, in der diese zentrale Stellung der Menschenwürde nicht bloße Verlautbarung ist, sondern die Achtung und der Schutz der Menschenwürde zum Bildungsprinzip der Staatsstruktur genommen wurden.
Wie sollen wir das nun näher verstehen?
In den Artikeln 1 bis 19 sind die allgemeinen Menschenrechte als sogenannte Grundrechte formuliert. In Artikel 20 sind die Prinzipien der Staatsstruktur beschrieben. Diese Staatsstruktur ist nicht aus irgendwelchen Machtkalkülen, sondern vollständig aus den Menschenrechten gehoben. Wenn zum Beispiel in Artikel 20 Absatz 1 „die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ steht, ist sie deswegen ein sozialer Bundesstaat, weil bereits in Artikel 1 steht, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Und das ist nur in einem sozialen Bundesstaat möglich. Und wenn da steht, sie sei ein demokratischer Bundes staat, dann kommt das daher, dass in Artikel 2 das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit steht und dieses nur in einer Demokratie und nicht in einer Diktatur zu verwirklichen ist.
Ist das nicht alles nur Papier?
Im Sinne des Grundgesetzes deutlich: Nein! Dort ist es sogar so, dass die Grundrechte-Artikel 1 bis 19 unmittelbar geltendes Recht und alle Gesetze nur mittelbar geltendes Recht sind, sich also vor den Grundrechten zu rechtfertigen haben. Außerdem gibt es in Artikel 20 Absatz 4 das Recht auf Widerstand gegen jeden, der es unternimmt, die durch Artikel 1 und 20 festgelegte Ordnung zu beseitigen. In den letzten 25 Jahren hat sich die Bindung unserer Politiker an das Grundgesetz immer mehr gelockert.
Was meinen Sie konkret?
Denken wir nur an die radikal menschenrechtswidrigen Sanktionen in Hartz IV, an die zunehmende, aber nicht weniger radikale menschenrechts- und grundgesetzwidrige Totalüberwachung der Bevölkerung (Stichwort Staatstrojaner), an die grundgesetzwidrige Entfesselung unseres Militärs für Auslandseinsätze nach Jugoslawien und so fort.
Denken wir an TTIP, CETA, womit so genannte Freihandelsgesetze eingeführt werden sollten und teils auch wurden, die vollständig unabhängig von jeder parlamentarischen Mitbestimmung und Kontrolle, unabhängig auch von jeder Anbindung an Demokratie und Rechtsstaat waren. Denken wir an die unglaubliche Selbstentmachtung unseres Parlaments durch die massenweise Abgabe von zentralen Kompetenzen an eine nicht demokratisch organisierte EU. Und denken wir auch an die Corona-Krise, in der die Politiker ihre Losgelöstheit von der Verfassung jetzt auch täglich in höchst fragwürdigen Entscheidungen ausleben.
Dagegen müsste eine unabhängige Verfassungsjustiz doch einschreiten?
Der jetzt ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Ferdinand Kirchhof hat noch zu seinen Dienstzeiten in seinem Artikel „Democrazy“ in der FAZ vom Dezember 2017 die sich bildenden antidemokratischen Strukturen aufs Schärfste kritisiert.
Der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Dieter Grimm hat schon 2016 die Entwicklung der EU als einen stillen Putsch gegen das Grundgesetz bezeichnet. Und der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat noch unter dem Präsidenten Voßkuhle ein scharfes Urteil gegen die gefährlichen, das Grundgesetz und die Souveränität der Bundesrepublik außer Kraft setzenden Selbstermächtigungstendenzen der Europäischen Zentralbank und des Europäischen Gerichtshofs gefällt. Inzwischen ist das Grundgesetz so gut wie nicht mehr gültig.
Eine sehr harte Analyse. Wäre da jetzt nicht schon fast das Recht auf Widerstand in Betracht zu ziehen?
Im Prinzip ja. Das Recht auf Widerstand endet aber mit den Worten, dass Widerstand nur gestattet sei, „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Und das zu bestimmen und die Richter zu überzeugen, dass andere Abhilfe nicht möglich ist, ist ein sehr weites und konfliktreiches Feld. Besser ist es sicherlich, die Sache vom Ideal der Bundesrepublik her anzugreifen.
Vom Ideal der Bundesrepublik her? Wie das?
Nach dem Grundgesetz geht alle Staatsgewalt vom Volke aus und eben nicht von Seiten seines Personals. Und da gibt uns das Grundgesetz — auch unabhängig vom Recht auf Widerstand — eine ungeheure Chance. Eine Besonderheit am Grundgesetz ist nämlich, dass es noch keine echte Verfassung darstellt. Nach Artikel 146 kann es sowohl außer Kraft gesetzt als auch selbst zur Verfassung erhoben werden. Diesen Weg werden wir gehen.
Das müssen Sie jetzt genauer erklären!
1949 konnte und durfte das Grundgesetz nach der Auffassung seiner Väter und Mütter nicht als Verfassung eingerichtet werden, weil erstens nur der den westlichen Besatzungsmächten unterstehende Teil des Volkes zur Abstimmung berechtigt gewesen wäre. Und zweitens, weil die Mütter und Väter des Grundgesetzes einen sehr hohen Begriff vom Wesen einer Verfassung hatten und dieser Begriff eine Verfassungsbildung 1948/49 verbot.
Wie äußerte sich das?
Sie hatten nach dem Staatsrechtler Carlo Schmid die Auffassung, dass eine Verfassung „nichts anderes als die in Rechtsform gebrachte Selbstverwirklichung der Freiheit eines Volkes“ sei.
Und an eine „Selbstverwirklichung der Freiheit des Volkes“ war so kurz nach den Verbrechen des Dritten Reiches und der dann folgenden Allmacht der Besatzer noch in keiner Weise zu denken. Deswegen hat man sich im parlamentarischen Rat darauf geeinigt, auf die Herstellung einer Verfassung zu verzichten und nur eine provisorische Ordnungsstruktur für den von den Westalliierten besetzten Teil Deutschlands herzustellen — und hat das Ganze folglich auch nur als Grundgesetz bezeichnet. Als Grundgesetz nicht der Bundesrepublik Deutschland, sondern nur als Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Und Weiteres hat man zum Abschluss des Grundgesetzes geschrieben:
„Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die vom deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Vom Einband des Grundgesetzes bis hin zu seinem letzten Artikel 146 geht der provisorische, nicht vom deutschen Volk erstellte Charakter des Grundgesetzes sichtbar hervor.
Seit der Wende sagen die Politiker uns aber, dass das Grundgesetz jetzt unsere Verfassung ist.
Deshalb haben sie 1990 auch gleich die entsprechende Lüge in die Präambel des Grundgesetzes hineingeschrieben. Dort steht, dass sich bei der Wiedervereinigung das deutsche Volk „kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt“ das Grundgesetz gegeben habe. Das ist eine Lüge insofern, als es sich bei der verfassungsgebenden Gewalt nicht um die Politiker handelt, sondern um das Volk selbst. Es gab aber weder eine Volksabstimmung über das Grundgesetz noch eine allgemeine Auseinandersetzung über seine Inhalte.
Wie das?
Unsere Politiker, die nur verfasste Gewalt sind, haben die sogenannte Wiedervereinigung instrumentalisiert und sich selbst zur verfassungsgebenden Gewalt erklärt. Schon Carlo Schmid hat ausgeführt, dass selbst die Wiedervereinigung kein Kriterium für eine Umwandlung des Grundgesetzes in eine Verfassung ist, indem er gesagt hat:
„Auch der Beitritt aller deutschen Gebiete wird dieses Grundgesetz nicht zu einer gesamtdeutschen Verfassung machen können. Diese wird es erst dann geben, wenn das deutsche Volk Inhalt und Form seines politischen Lebens in freier Entschließung bestimmt haben wird.“
Ist also eine verfassungsgebende Versammlung möglich?
Ja, selbstverständlich. Und es ist langsam unabdinglich, dass sich das deutsche Volk um seine Verfassung kümmert. Insofern habe ich auch die Unternehmungen, die Sie gestartet haben, mit großer Sympathie verfolgt.Ob da allerdings eine verfassungsgebende Versammlung der beste Weg ist, ist die Frage. In der Bevölkerung hat das Grundgesetz ja einen allerbesten Ruf. Und da herrscht selbstverständlich die Befürchtung, dass das Grundgesetz durch eine verfassungsgebende Versammlung außer Kraft gesetzt und durch etwas völlig Neues, vielleicht auch schlechteres ersetzt werden soll. Der Streit darüber wird unendlich.
Keine verfassungsgebende Versammlung aber doch den Schritt zur neuen Verfassung — wie soll das gehen?
Wir wollen das Grundgesetz selbst zur Verfassung erheben. Da ist zunächst keine "verfassungsgebende Versammlung" sondern nur eine allgemeine Abstimmung von Nöten.
Wie gelangen wir zu unserer Verfassung?
Wir wollen das Grundgesetz zur Verfassung erheben. Da ist zunächst keine „verfassungsgebende Versammlung“, sondern nur eine allgemeine Abstimmung vonnöten. Deswegen sind es drei Entscheidungen, die wir auf unsereverfassung.de zur Abstimmung stellen:
Erstens, ich stimme zu, das Grundgesetz der Bundesrepublik nach Artikel 146 zur Verfassung der Bundesrepublik zu erheben. Zweitens, ich stimme zu, das Recht auf Volksabstimmung vollumfänglich in der Verfassung zu verankern. Drittens, ich stimme zu, dass über die Inhalte der Verfassung nur per Volksabstimmung entschieden werden kann.
Das Ganze kann nur als Paket mit einem Ja oder Nein beantwortet werden.
Manch einer würde fragen: Könnten per Totalzugriff des Volkes auf die Verfassung nicht sogar Demokratie und Rechtsstaat außer Kraft gesetzt werden?
An und für sich genommen ist eine Volksabstimmung immer gefährlich. Man denke nur an Recep Tayyip Erdoğans Versuch, per Volksabstimmung in der Türkei die Todesstrafe wieder einzuführen — oder an den Brexit. Da haben jeweils Obrigkeiten und Interessensgruppen versucht, das Volk für ihre eigene Meinung aufzupeitschen. Demgegenüber ist eine Volksabstimmung, wenn sie als Kind von Artikel 1 und Artikel 20 in die Welt kommt, unbedingt an die Achtung und den Schutz der Menschenwürde und der sozialstaatlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung gebunden.
Das heißt: Die Durchführung von Abstimmungen, die Menschen oder Menschengruppen diskriminieren oder die die freiheitlich demokratische Verfassungsstruktur selbst außer Kraft setzen wollen, wären bei solchen Volksabstimmungen nicht möglich. Indem das Volk durch Volksabstimmung das Grundgesetz zur Verfassung erhebt, hat es sich selbst an die Ewigkeitsgültigkeit von Artikel 1 (die Würde des Menschen ist unantastbar) und von Artikel 20 (sozialstaatliche, demokratische und rechtsstaatliche Strukturen) gebunden.
Wie wollen Sie sicherstellen, dass nach Ihrer Abstimmung solche Gesetze auch eingerichtet werden?
Dazu sind zwei Schritte nötig. In einem ersten Schritt haben wir sämtliche Textänderungen, die auf dem Übergang vom Grundgesetz zur Verfassung notwendig sind, und auch die zur vollumfänglichen Volksabstimmung notwendigen und dementsprechend auch ausgebildeten Gesetze gleich mit in unseren Fragen zusammen zur Abstimmung gestellt. Dies aber nur provisorisch bis das, was wir so vorgeschlagen haben, in einem zweiten Schritt durch eine verfassungsklärende Versammlung auf den Prüfstand des Souveräns kommt.
Keine verfassungsgebende, sondern eine verfassungsklärende Versammlung, nachdem das Grundgesetz selbst zur Verfassung erhoben worden ist?
Ja, in dieser kann dann alles, was von uns provisorisch vorgeschlagen ist — sowohl der Text der neuen Verfassung als auch die von uns schon eingebrachten Volksabstimmungsgesetze —, überprüft, verworfen, gegebenen falls aber auch verbessert werden.
Das sollen dann unsere Politiker machen?
Um Himmels Willen nein! Das ist allein die Sache des Souveräns. Weder sein Personal noch die Wirtschaft noch irgendwelche Interessensgruppen haben da irgendwas zu sagen. Es wird eine große Anzahl von Menschen in die verfassungsklärende Versammlung hinein gelost. Das Grundgesetz hat elf Kapitel. Die Ausgelosten werden in elf große Gruppen eingeteilt, die jeweils ein Kapitel zu bearbeiten haben. Von außen stehen ihnen die notwendige Expertise und all die Fragen, was zu klären und zu verbessern wäre, zur Verfügung. Im Innern werden die Klärungsprozesse in Ruhe moderiert. Die Ergebnisse der Gruppen werden dann zusammengefasst und dem Volke zur Entscheidung vorgelegt.
Und wenn es die verfassungsklärende Versammlung nicht gibt?
… dann gelten die von uns bereits vorgeschlagenen und in der Abstimmung bereits provisorisch mit beschlossenen Artikel und Gesetze. Sie müssten dann jeweils nur in Einzelschritten per Volksabstimmung verändert oder verbessert werden, was etwas komplizierter ist. Die Artikel und Gesetze für solche Volkabstimmungen wären aber auch da schon abgestimmt und gültig.
Es gibt von unserer Seite da aber keine Zweifel: Wenn die von uns intendierte Abstimmung überhaupt zum Erfolg führen sollte, wird es auch die verfassungsklärende Versammlung geben: Wie über die drei großen Fragen im Beginn wird nämlich auch über sie in unserer Abstimmung mit entschieden. Da dann der Souverän der Auftraggeber ist, kann die Versammlung im Schloss Herrenchiemsee stattfinden, so dass auch der Schritt zur Verfassung wieder von Herrenchiemsee, dem Geburtsort des Grundgesetzes aus, gestartet würde.
Sehr geehrter Herr Boes, wir danken Ihnen für das Interview zu diesem doch sehr ambitionierten Projekt. Zum Abschluss nur noch eine Frage: Ist die Sache denn schon abzustimmen?
Ja klar. Die Abstimmung kann unter unserer-verfassung.de unternommen werden Wir freuen uns auf viele Unterschriften und auch auf die Unterstützung vieler Initiativen.
Redaktionelle Anmerkung: Dieses Interview erschien zuerst in leicht abgewandelter Form in der 58. Ausgabe der Wochenzeitung Demokratischer Widerstand.