Die verdrängte Coronazeit
Das Wiederzusammenkleben jüngst zerbrochener Freundschaften scheitert häufig am Unwillen zur unabdingbaren Aufarbeitung der Coronajahre.
Alles wieder wie früher? Könnte man meinen. Wären da nicht die vergangenen drei Jahre mit all ihren Ungeheuerlichkeiten gewesen. So inbrünstig mancher bei der Zementierung dieser neuen Normen der neuen Normalität dabei war, so sehr wird sich heute ins Schweigen gehüllt. Aufarbeitung? Darauf habe man keine Lust, so teilt es ein Freund der Autorin mit. Dies scheint symptomatisch für die Zeit nach den „drei Jahren“ zu sein. So schildert die Autorin eindrücklich die verschiedenen sozialen Inkompatibilitäten, die aus den Coronajahren geblieben sind.
Ich habe keine Lust auf Aufarbeitung. Diesen Satz las ich dieser Tage. Nicht in einem Interview, nicht in einem Artikel, nicht in einem philosophischen Diskurs von mir geschätzten Menschenfreunden. Nein, er stand in einer Mail an mich. Endlich! Dichter an das Thema Aufarbeitung kam ich noch nie.
Ich gebe zu, diesen Satz provoziert zu haben. Als Antwort auf eine Partyeinladung, die ich gerne annehmen würde, bat ich um gemeinsame Anerkennung der vergangenen drei Jahre. Als Methode schlug ich ein Gespräch vor.
Die Welt des gemeinen Tages. Natürlich war ich auf die Abfuhr vorbereitet. Aber die Schlichtheit dieser sechs Worte verschlug mir noch während des Lesens die Sprache. Nun waren sie da, nicht für andere, für mich. Endlich! Endlich sagt mir einer ganz konkret, dass er nicht mehr mit mir „spielen“ will.
Warum zum Teufel lädst du mich dann zu deiner Party ein?, schrieb ich zurück.
Ich habe keine Lust auf Aufarbeitung! Genauso steht es dort. Aber nichts von spielen. Bin ich in die gute alte Vermutungsfalle getappt? Oder denke ich jetzt zu kompliziert?
Keine Aufarbeitung gewünscht — das muss ich anerkennen. Ich schmecke nach — ja, das kann ich anerkennen. Nichts regt sich. Irritiert warte ich auf das rockzipfelnde Aber.
Wann ist mir mein Lieblingsgefühl der letzten drei Jahre abhandengekommen? Dieser unerträgliche Schmerz der Ausgrenzung? Die verstörende Erfahrung, mancherorts weniger als Luft zu sein, nicht mal Luft? Nicht mal eine Ecke im Raum?
Ich entziehe dir die Existenz, indem ich dich aus meiner Anwesenheit lösche. Wie genial ist das denn? Auch ich bediente mich in den letzten drei Jahren dieses Zaubers, als Notfallmagie: im Dorfkonsum, in diversen Zügen, in Supermärkten ..., wohl wissend, dass ich keine echte Magierin bin.
Ich bemerkte es in diesen Sieh-mich-nicht-an-Momenten, es gelang mir einfach nicht, unsichtbar zu werden. So wie es mir jetzt nicht mehr gelingt, die erlebte Pein der letzten Jahre wieder lebendig werden zu lassen.
Ich bin nicht nachtragend, dafür danke ich Gott oder wem auch immer es eingefallen ist, mich in dieses wundervolle Leben entsendet zu haben. Ja, Kind, wenn du nicht nachtragend bist, was willst du denn? Ich will die gemeinsam erlittene Pein der letzten Jahre auf alle beteiligten Schultern verteilen. Dazu müsste ich mich erinnern. Ich probiere. Langeweile greift mich an. Vorbei, einfach vorbei.
Folge ich diesem Pfad, lande ich beim Thema Abschied.
Überschreiten der Schwelle
Ich habe keine Lust auf Aufarbeitung, so steht es geschrieben. Ich auch nicht, sage ich laut. Der Himmel fällt mir nicht auf den Kopf.
Und jetzt kommt er, der Schmerz, stellt seinen Namen direkt vor mich. Trennungsschmerz. Oh ja, dich kenne ich.
Ich beginne zu verstehen. Keine Lust auf Aufarbeitung? Ich übersetze: Solange deine Annäherung an mich an Bedingungen geknüpft ist, mach ich nicht mit.
Irgendwie bewundere ich diese kompromisslose Haltung, deren Ziel nicht weniger als die Aufrechterhaltung der inneren Integrität zu sein scheint. Ist das unser Dilemma?
Vielleicht ist das Wort Aufarbeitung viel zu groß, zu alt, zu historisch für den Platz zwischen Menschen. Und wenn es mir gelänge, anstatt dieses fossilen Riesen das richtige Wort zu finden? Könnten wir uns dann verstehen?
Die Sucht nach dem Verstehen ... ein guter Sachbuchtitel. Da fremdeln also zwei tief verletzte Integritäten bis aufs Blut, und was sie eint, ist Hilflosigkeit. Das ist nicht wenig, eigentlich eine große Nummer. Hilflosigkeit balanciert am Rande der Ohnmacht, da hält sich keiner gerne auf.
Ich hacke mein Beziehungsangebot in die Tasten: Lass uns über unsere Hilflosigkeit sprechen. Und lösche es wieder.
Ein Krümchen, nur ein klitzekleines Krümchen Gemeinsamkeit möchte ich teilen, eine Traumatherapie zusammen feiern ... Geht's noch?
Weigerung
Ich drehe mich um. Die Langeweile verdreht ihre Augen, alles nur Verzögerung, sagt sie und lackiert ihre Nägel weiter. Es ist der Schmerz, den du festhalten willst. Besserwisserin! Und die Hoffnung?, frage ich. Sieh dich um, antwortet sie, nenn mir einen guten Grund zu hoffen. Aber sie würde mir fehlen, meine Hoffnung. Mein Gott, lasziv pustet sie über ihre gespreizten Finger, dann such dir eine andere, eine vielversprechendere Hoffnung, die gibt's wie Sand am Meer, sieh dich um!
Die Welt des gemeinen Tages 2
Eine persönliche Einladung zu einem Kostümfest im Briefkasten. Mein Mann überreicht sie mir. „Schau mal, ist das nicht ein Angebot?!“
Beim Überfliegen der Einladung überwältigt mich eine nahezu heilige Wut. Nein, ich will nicht fühlen!
An diesen handgemalten Einladungen wirkte ich vor drei Jahren mit ... legte mein Holz ins wärmende Feuer der Gemeinschaft.
Eine lustige Angelegenheit, Winter auf Winter, ein Ritual im Jahreskreis. Unsere Vorbereitungen wurden effizienter, Namenslisten füllten sich, um niemanden zu vergessen, aus Sorge, dass sich, wer auch immer, ausgegrenzt fühlen könnte. Persönlich wollten wir sein, wegen der Liebe. Wir meinten es ernst.
Gut, einmal grenzten wir.. Da gab es einen Reichsbürgerverdacht. Woher er kam? Warum ich das gerade jetzt erinnere? Weil Luft an die Sache will. Der Verdacht war einfach im Raum, jemand hatte ein Video gesehen, der erzählte es weiter und weiter und weiter ... bis die Legende vor mir stand und eine Antwort von mir verlangte. Nein, bis meine Einladungsfreundinnen eine Haltung von mir verlangten. Oh, mein Gott ... niemals gedacht ... geht gar nicht ... hier im Dorf hinter den roten Linien, einer von uns ... nie wieder kann ich mit ihm sein ...
Ich sah mir das Video an und traf dort den älteren vertrauten Mann. Ja, so kannte ich Wolfgang, leicht verstiegen, anstrengend in seiner wortgewaltigen Kontroverse, irgendwie mit der Welt beleidigt, und das konsequent. Mehr davon brauchte ich nicht, musste ich ja auch nicht, zumal ich auf dieses Video nie gestoßen wäre ohne Anlass zur Gesinnungsrecherche. Ich hakte die Sache ab und fühlte mich nicht geärgert. Aber da es um Grenzensetzen und Gesichtzeigen ging, wog das zu leicht.
Wir luden den Verdächtigten nicht ein. Seine Frau durfte kommen, wollte aber nicht. Ihre Entscheidung! Wir nannten es Eigenverantwortung.
Wir ist größer als ich, da pass ich locker 100-mal rein, und wenn alle Beteiligten das auch so sehen, gibt es immer jemanden, hinter den man sich ducken kann. Das genialste Versteck der Welt. Der legendäre Zauberer Houdini wählte bevorzugt Verstecke vor aller Augen. Mein Sohn ahmte ihn gerne nach, es war frappierend, wie er innerhalb von Sekunden ein Teil unserer Küchenwand werden konnte. Wenn ich im Wir nicht gefunden werden will, denke ich Wand und werde Wand.
Mentor
Im Sommer 2021 rief ich den Verdächtigten an. „Warst du ein Reichsbürger?“ Ich dächte an die alte Sache damals, dächte nun anders und bat um Entschuldung. Ja, mit diesem Wort wurde er bedeutet, sagte Wolfgang.
„Und warst du einer?“, fragte ich. „Wenn du jetzt bestätigst, dann habe ich ein Problem“, dachte ich laut.
„Ich bin Wolfgang, was hältst du von dieser Antwort auf deine Frage.“
„Führtest du Böses im Schilde, Wolfgang?“
„Wie viel Jahre kennst du mich, was glaubst du?“
„20 Jahre, keine Ahnung, ich kann nicht in dich reingucken. Ich hätte es gemerkt, wenn es so gewesen wäre.“
„Ja, so wie ich dich kenne, glaub ich das auch. Meld‘ dich, wenn du Hilfe brauchst, das, was du gerade durchmachst, habe ich schon hinter mir.“
Ich kenne mich, deshalb vertrau ich mir und meinem inneren Radar, das mir seit 54 Jahren gute Dienste leistet. Damals im Jahr des Verdächtigten dachte ich, mit mir würde etwas nicht stimmen, weil mein Radar nicht ansprang, wohl aber das meiner Einladungsfreundinnen und aller Lebewesen innerhalb ihres Erregungsradius.
Herrin der zwei Welten
Verunsichert schloss ich mich den Wissenden, den Konsequenten an, deren Radar ich für sensibler hielt. Die wärmende Gemeinschaft schützte mich vor meinen Zweifeln, deren Pfad mich unweigerlich zu der Frage „Bist du für uns oder bist du für Wolfgang?“ geführt hätte.
Das kleine uckermärkische Dorf hinter den roten Linien, an dessen Rand mein Hof liegt, war für seine wilden, generationsübergreifenden Kostümfeste berühmt, aus Nah und Fern strömten die Menschen, Kinder, deren Freunde, Freundesfreunde. Wenn grandios eine Steigerungsform hätte, wäre sie an diesem Abend, der ohne Wolfgang und seine Frau stattfand, erfunden worden. Niemand fragte nach ihnen. Kein guter Moment für solche Fragen. Damals entschied ich mich dafür, meinen Kostümfreunden den Abend nicht zu versauen. Vor allen mir nicht.
Weigerung
Zurück zu meinem Liebsten, der immer noch die Einladung in den Händen hielt. Nicht fühlen, war der Plan.
„Steck dir den Scheiß sonst wohin!“
„Vielleicht ist das ein Beziehungsangebot?“, parierte er.
„Nein, ist es nicht!“, hörte ich mich schreien.
„Und wenn doch, eine Handreichung, ungeschickt, aber trotzdem.“
„Handreichung für wen?“, langsam wurde ich schrill.
„Schatz, für dich, da steht dein Name drauf, lies.“
„Ja, weil er auf der Liste steht, verflucht, kapierst du das nicht? Ich fühle mich nicht eingeladen, darum geht es, und sag jetzt nicht, das sei mein Problem!“
Magische Frage
Was ist das Problem? An dieser Frage blieb ich hängen im März 2023.
Ich, Mitinitiatorin des runden Tisches in Prenzlau, Herzspezialistin für Konfliktmoderation und Gleichwürdigkeit, Trümmerfrau und Friedensarbeiterin auf der Großbaustelle „schöne neue Welt“. All die Orden an meiner Friedensbrust, und ich raste bei einer simplen Einladung aus?
Es ist eine Handreichung. Der Liebste sagt es, da lohnt es sich hinzuhören. Du siehst den Balken vor dem eigenen Auge nicht? Komisch. Warum kannst du nicht vergeben, jetzt wo dir die Vergebung auf den Pelz rückt? Sag einfach ja und alles ist gut.
Wendepunkt
Es ist nicht die Vergebung, die mir auf den Pelz rückt. Ihr, geneigte Handreicherinnen, seid es mit euren Vorstellungen von „alles gut“. Etwas fehlt mir, dieser gewisse Duft nach Ich und Du. Und ihr, schönste Handreicherinnen, was fehlt euch?
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