Die unvollendete Demokratie
Der Theorie nach geht die Macht in repräsentativen Demokratien vom Volk aus — in der Praxis läuft es häufig auf Elitenherrschaft fast ohne oder gegen die Bürger hinaus. Zeit, sich auf Alternativen zu besinnen. Teil 1 von 2.
„Wir“ sind in der Demokratie angeblich der Souverän. Warum fühlt es sich dann nicht so an? Eher findet sich der Bürger als Spielball von Macht- und Geldinteressen wieder, was ihm durch Dauermanipulation schöngeredet wird. Er wählt alle vier Jahre in einem Akt von resignativem Pflichtbewusstsein ein „kleineres Übel“, um diesem dann bis zur nächsten Wahl weitgehend hilflos ausgeliefert zu sein. Verdient also die Demokratie den guten Ruf, der ihr in den Augen derer zukommt, denen sie eine Karriere ermöglicht? Die meisten Menschen scheuen sich in der Regel, sie grundsätzlich infrage zu stellen, da sie sich außer Spielarten eines politischen, militärischen oder religiösen Despotismus eigentlich keine Alternative vorstellen können. Dabei ist die Geistesgeschichte voll von erhellender Demokratiekritik und inspirierenden Anregungen, wie man es besser machen könnte. Die Philosophin Hannah Arendt etwa gab mit Blick auf das Wesen von Revolutionen eine erstaunliche Empfehlung. In Zeiten, in denen wir verstärkt unter einem unfähigen oder auch unwilligen politischen Personal zu leiden haben, empfiehlt es sich, nach Alternativen oder zumindest Modifikationen des Bestehenden zu suchen. Es geht nicht um die Abschaffung von Demokratie, sondern um eine wirkliche Rückkehr der „Staatsgewalt“ zum Volk, von dem sie gemäß dem Grundgesetz ja angeblich ausgeht.
Nicht gut, aber gut genug?!
Demokratien seien natürlich nicht vollkommen, so ist gelegentlich zu hören, aber Demokratie sei gleichwohl die beste unter den unvollkommenen Staatsformen. Dafür werden selten Gründe genannt. Dass sie nicht das Beste sei, scheint auszureichen, um sie hinreichend gut und jedenfalls „vorzüglich“ zu finden.
Nicht immer wurde das gesehen und es waren nicht die Schlechtesten, die das anders sahen. Lange Zeit galt die Demokratie als eine Verfallsform des Politischen. Jedenfalls scheinen auch Demokraten gelegentlich Zweifel zu kommen. Demokratie darf — so wird dann vorgebracht — nicht populistisch und die Mehrheit nicht tyrannisch werden.
Und doch soll gelten: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ So heißt es in Artikel 20 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, dem nach der Bestimmung der Grundrechte (Artikel 1 bis 19) ersten Artikel der die staatliche Ordnung (Bund und Länder, Artikel 20 bis 37) beschreibt. Die Ausübung der Macht erfolgt allerdings (nur) „in Wahlen und Abstimmungen [!] und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“ (1). Die Organe agieren dann immer — per Deklaration — „im Namen des Volkes“, was nicht immer dem „Willen“ des Volkes entsprechen muss.
Bertolt Brecht hatte das mit Blick auf die Weimarer Republik so formuliert: (2)
„Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.
— Aber wo geht sie hin?
Ja, wo geht sie wohl hin!
Irgendwo geht sie doch hin!“
Bei Brecht endet der „Ausgang“ der Macht nicht gut.
„Da liegt etwas, das ist mausetot.
Aber das ist ja das Volk!
Ist das denn wirklich das Volk?
Ja, das ist wirklich das Volk.“
Jede Delegation ermöglicht den Missbrauch. Und so ist nicht nur der Schutz von Minderheiten oder der Rechte des Einzelnen durch eine entsprechende Rechtsordnung, Gewaltenteilung und „demokratische“ Kontrolle geboten.
Grundsätzlich gilt: Das Volk muss vor der „Staatsmacht“ geschützt werden, die es den Staatsorgangen auf Zeit und unter strikter Gewaltenteilung zugeteilt hat. Verfassungsschutz ist vor allem die Sorge, dass alle „Staatsgewalt“ nicht nur vom Volk ausgeht, sondern tatsächlich in seinem Dienst steht und zu ihm zurückkehrt.
Für die staatsrechtliche, grundgesetzliche Sicherung der Volkssouveränität war in vielem insbesondere die Erfahrung des „Untergangs“ der Weimarer Republik richtungsweisend (3).
Allerdings zeigen sich da merkwürdige Verzerrungen. Die Weimarer Republik ist nicht am aufsässigen Volk gescheitert, sondern am Verrat ihrer (Volks-)Vertreter (4): 1933 haben bekanntlich außer SPD und KPD alle „bürgerlichen“ Parteien dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt. Vorher waren mit der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat die Grundrechte außer Kraft gesetzt und der Weg in die Diktatur gebahnt worden. Staatsorgane putschten gegen das Volk und seine Entscheidungen. Der Reichspräsident und die Reichsregierung, der staatliche Apparat aus Verwaltung und Rechtswesen, Polizei und Militär, aber auch institutionalisierte (Hochschul-)Wissenschaft und öffentliche Medien entmachteten das Volk. Wenn wir daraus etwas lernen wollen, dann dies, dass die Verfassung nicht gegen das Volk und auch nicht gegen seine mehr oder weniger legitimierten Vertreter geschützt werden muss. Die Verfassung muss zum Wohle des Volks gegen die „Staatsgewalt“ geschützt werden (5).
Und dann gibt es da noch die Parteien. Im recht prominenten Artikel 21 des Grundgesetzes wird den Parteien eine besondere Rolle bei der Ausübung der Volkssouveränität zugedacht. Es heißt dort im Abschnitt 1:
„Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“
Inzwischen ist aus der Mitwirkung der Parteien eine Parteiendemokratie geworden. Das wird in Teilen durchaus beklagt, aber zugleich als besser als „nichts“ verteidigt.
Der Status quo ist nicht schön, scheint vielen aber alternativlos, vor allem denen, die im Parteiensystem fest verwurzelt sind und nicht selten aus Schule und Studium direkt in den Parteiapparat wechseln und ihre Karriere komplett der Partei verdanken.
Die Bürger misstrauen zwar laut Umfragen den Parteipolitikern (6), können aber praktisch nur aus ihren Reihen diejenigen wählen, an die sie die Macht abtreten müssen (7). Es ist so, als müssten sich überzeugte Atheisten alle paar Jahre entscheiden, die katholische Messe oder den evangelischen Gottesdienst zu besuchen. Einige Extravagante wählen dann — nicht selten um die Großen zu ärgern — sektiererische Freikirchen, vor denen die Kirchen natürlich mit Sektenschutzbeauftragten warnen.
Auf der Suche nach dem Wesen des Politischen
Für Hannah Arendt (1906-1975), eine der großen, einflussreichen Gestalten der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, ist es deshalb schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts fraglos, „dass die Parteien mit ihrem Monopol der Nominierung derer, die überhaupt zur Wahl gestellt werden, nicht mehr als Organe der Volksmacht anzusehen sind, sondern vielmehr als die sehr wirksamen Hilfsmittel, durch welche eben diese Macht des Volkes eingeschränkt und kontrolliert wird. Daß sich das Repräsentativsystem in Wahrheit in eine Art Oligarchie verwandelt hat, …“ (8).
Demokratisch sind diese „Regierungsformen in der Tat“, aber die Besorgung der öffentlichen Angelegenheiten „liegt in den Händen einer oligarchisch konstituierten und von den Parteien selektierten Gruppe“.
Die Eliten der Parteien sind, so demokratisch sie auftreten, überzeugt, „daß kein Volk je fähig gewesen sei, sich selbst zu regieren, ‚dass der Volkswille von Hause aus anarchisch ist‘“ und „jeder Regierung im Grunde ‚feindlich‘ gesinnt sei“ (9). Niemand habe „je daran gezweifelt, dass in diesem Verhältnis von Volk und Parlament die Rolle des Volkes in der Unterstützung des Parlaments besteht und das eigentliche Handeln ein Privileg der Regierung bleibt“ (10). Für die Volksvertreter spielt sich ihr „politisches Leben“ im Parlament, also „unter ihresgleichen“ ab. Sie müssen nur von Zeit zu Zeit versuchen, die Wähler bei der Stange zu halten. In diesen Wahlkampagnen zeigt sich dann die „auf der Hand liegende Unehrlichkeit nahezu aller Dialoge zwischen Wähler und Abgeordneten“ (11).
Das ist nicht gerade ein Plädoyer für die Form der parlamentarischen Demokratie, wie sie in den meisten westlichen Ländern vorherrscht. Sie ist nicht nur nicht die beste der unvollkommenen Staatsformen, in ihr droht sich das spezifisch Politische aufzulösen.
Hannah Arendt unterscheidet in ihrem philosophischen Hauptwerk Vita Activa oder Vom tätigen Leben (1960) das Handeln von Arbeiten und Herstellen und weist dem Handeln das Feld der Politik zu: Handeln ist wesentlich politisches Handeln, nämlich die Gestaltung des eigenen Lebens im politischen Raum, den wir mit anderen teilen. Wir sind politische Wesen (ζῷον πολιτικόν, zoon politikon) (12). Politisches Handeln lässt sich anders als die Vertretung von wirtschaftlichen Interessen nicht delegieren. Es ist selbst Teil der menschlichen Lebensführung und das eigene Leben kann niemand durch andere führen lassen.
Wie die eigene Lebensführung so kann auch politisches Handeln, nämlich die Gestaltung des sozialen Gemeinwesens, in dem wir leben, mehr oder weniger gut gelingen. In The Origins of Totalitarism von 1951 hatte Hannah Arendt die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (13) untersucht. Es sind Verfallserscheinungen des Politischen, denen wir im politischen Handeln vorbeugen müssen. Auch die parlamentarische, repräsentative Demokratie „repräsentiert“ eine gefährliche Beschneidung des Politischen, die in neue Formen des Totalitären münden, zum Beispiel einer (sozial-)technologischen Expertokratie des Great Reset (14). Hannah Arendt spricht vom „Grundübel“, politisches Handeln „in administrative Aufgaben auf[zu]lösen, die am besten von Experten behandelt und entschieden werden“ (15). Follow the Science! ist kein politisches Handeln.
Von Verfallserscheinungen kann aber nur mit Blick auf einen Ideal- oder Normalzustand gesprochen werden. Vom guten, gesunden Sehen her versteht man das Erblinden. Fürs politische Handeln stellt sich also die Frage nach einer staatsrechtlichen Form des Politischen, die seinem Wesen gerecht wird.
1963 unternimmt Hannah Arendt den Versuch, das Wesen des Politischen und die ihm angemessene staatsrechtliche Form genauer zu bestimmen. Sie tut das unter dem Titel On Revolution (dt. Über Revolution, 1965). In dem, was eine Revolution wesentlich ausmacht, erkennt sie das Wesen politischer Freiheit. Revolution und politisches Handeln sind bei Hannah Arendt aufs engste verbunden.
Wenn wir von Revolutionen sprechen, dann denken wir meist sofort an die Französische von 1789 und die ihr vorausgehende Amerikanische Revolution von 1771. Auch Hannah Arendt nimmt ihren Ausgangspunkt an diesen richtungsweisenden Revolutionen des späten 18. Jahrhundert. Sie untersucht die Gemeinsamkeiten und Unterschiede — immer in der Absicht, das Wesen des Politischen freizulegen. Die Französische Revolution gibt in vielem das Muster für die revolutionären Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, zum Beispiel für die Russische Oktoberrevolution von 1917.
Aber sie unterscheidet sich von der Amerikanischen durch eine völlig andere Ausgangslage. In Frankreich herrscht unter dem Volk fürchterliche Not und bittere Armut. In Frankreich war, so Hannah Arendt, das Volk „von Hunger getrieben“. „Le peuple ist das Schlüsselwort zu jedem Verständnis der Französischen Revolution…“ (16) und das Volk waren die „Unglücklichen“, die vom Elend geplagten. Es ist die „soziale Frage“, die das Geschehen bestimmt. Der Sturz des Regimes und die Übernahme der Herrschaft durchs Volk sollte die „Befreiung des Volks von Armut und Not“ erreichen. Welche Form die Volksherrschaft annehmen sollte, darüber gab es keine klaren Vorstellungen. Vor allem fehlten praktische Erfahrungen, an die man hätte anknüpfen können.
In Amerika war die Ausgangslage dagegen völlig anders. Von bitterer Armut breiter Bevölkerungsteile kann, so Hannah Arendt, in den britischen Kolonien nicht gesprochen werden (17). Es ging nicht um Befreiung aus Armut und Not, sondern um politische Freiheit und Selbstbestimmung, von der man bereits eine klare Vorstellung hatte und die im Kleinen bereits gelebt wurde.
Für die dreizehn britischen Kolonien, die sich von der britischen Krone lossagten, ging es vor allem um ein gemeinsames Auftreten nach draußen und gegen das „Mutterland“. Ihre weitgehende Selbständigkeit sollte dabei gewahrt bleiben. Sie hatten sich auch unter der Krone weitgehend selbstverwaltet. Der konservative Edmund Burke (1729 bis 1797) sprach von einer „weisen und heilsamen Vernachlässigung“ (a wise and salutary neglect) durch die Briten, die es den Kolonien im Westen erlaubte, „ihren eigenen Weg zu dem für sie Besten zu gehen“ (to take her own way to perfection) (18).
In den Konföderationsartikeln von 1777/1781 (Articles of Confederation and Perpetual Union) erklärten sich die dreizehn Kolonien zu einem Staatenbund souveräner Staaten. Bei der späteren Ausgestaltung der Verfassung durch die Philadelphia Convention, die die dreizehn Republiken zu einer Einheit mit eigenen Staatsorganen machen sollte, blieb es das Ziel der Verfassungsväter, die weitgehende Souveränität der Bundesstaaten zu sichern. Man sprach von Gewaltenteilung und dem Gleichgewicht der Kräfte (Checks and Balances), um die neu konstituierten Organe nicht übermächtig werden zu lassen (19).
Der Vorteil einer gemeinsamen „Außenpolitik“ durfte die Souveränität des politischen Handelns im Innern nicht gefährden. So war es ausdrücklich Thomas Jeffersons (1743 bis 1826) Plan, „uns zu einer Nation in allen auswärtigen Belangen zu machen und uns in Fragen der Innenpolitik in unseren Unterschieden zu erhalten“ (20). Es ging dabei aber vor allem um die Bewahrung und Festigung der politischen Freiheit.
Die Räterepublik wird erfunden
Sie fand ihren Ausdruck im politischen Leben der Gemeinden, in denen die Bürger in Townhall-Meetings sich selbst verwalteten. Die Selbstverwaltung der townships ist die Grundlage der Neuordnung nach der Unabhängigkeitserklärung der dreizehn Kolonien. Hannah Arendt zitiert Alexander von Tocqueville (1805 bis 1859), dass „die Amerikanische Revolution mit ihrer Lehre von der Volkssouveränität in den townships aus[brach] und von dorther den Staat in Besitz“ genommen hat (21).
Die Townships waren die Elementarrepubliken, auf deren Grundlage die Verfassung der Vereinigten Staaten geschaffen wurde. In ihnen, so Jefferson, konnte „jeder Mann im Staat“ ein „aktives Glied der gemeinschaftlichen Regierung werden und persönlich eine große Anzahl von Rechten und Pflichten ausüben“. Aus diesen „kleinen Republiken sollte die große ihre hauptsächlichste Kraft schöpfen“ (22).
Jeffersons Lösung war das „ward-system“ („divide the counties into wards“) (23), in Arendts Übersetzung ein „Bezirkssystem“ „elementarer Republiken“, die circa 100 Bürger umfassen und die dann souverän ihre politischen Entscheidungen treffen und umsetzen. Jefferson benutzt auch den Begriff „councils“ (24) — Räte — und skizziert, wie diese councils in den amerikanischen Staatsapparat integriert werden können:
„Die Elementarrepubliken der Räte, die Kreisrepubliken, die Länderrepubliken und die Republik der Union sollten sich in einer Stufenfolge von Machtbefugnissen gliedern, deren jede, im Gesetz verankert, die ihr zufallenden Vollmachten besitzt und die alle zusammen in ein System von wirklich ausgewogenen Hemmungen und Kontrollen für die Regierung integriert sind“ (25).
Wie entscheidend die gelebte Volkssouveränität der wards oder councils für die Verfassung der Vereinigten Staaten ist, zeigt eine beschwörende Bemerkung Jeffersons: „Wie Cato jede Rede mit den Worten endete, Carthago delenda est [Karthago muss zerstört werden], so ende ich alle meine Reden mit der Warnung divide the counties into wards“, (26) also in „elementare Republiken“. Hannah Arendt erkennt darin das, was später Räterepublik genannt werden wird:
„Jeffersons Plan (…) antizipierte (…) mit einer geradezu unheimlich anmutenden Genauigkeit jene Räte und Sowjets, die von nun an in jeder Revolution des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts auftauchen sollten“ (27).
In den councils, also den Räten, wird Volkssouveränität verwirklicht, nicht delegiert! Sie nimmt nicht die Form einer repräsentativen Demokratie an und darf sie bei Strafe ihrer Selbstaufhebung nicht annehmen.
So prophezeit Jefferson:
„Wenn das Volk je aufhören sollte, sich um öffentliche Angelegenheiten zu kümmern, werden wir alle, Ihr und ich, und der Kongreß und die Parlamentsversammlungen, die Richter und die Statthalter, wie wir da gehen und stehen, zu reißenden Wölfen werden“ (28).
Das wäre eine Regierungsform, in der das politische Handeln auf Wahl und Delegation verkürzt wird. Ein Volk, das seine Souveränität delegiert und sein politisches Leben nicht aktiv gestaltet, wird politisch entmachtet. Es ist ein „Mißverständnis die Begriffe, Republik und Demokratie gleichzusetzen“. Die Gründerväter der Amerikanischen Verfassung von 1787 gehen von „the imprudence of democracy“ aus (29).