Die unteilbare Menschlichkeit
Auch in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten muss das Völkerrecht gelten.
Deutschland bestreitet, dass der Internationale Gerichtshof für die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete zuständig sei. Sollte die Herrschaft internationalen Rechts in diesem einen Fall etwa nicht gelten? Sind die besetzten Gebiete völker- und menschenrechtsfreie Zonen? Der Autor zeigt der Bundesregierung die negativen Konsequenzen ihres Handelns auf. Gedenkreden zum Anlass der Befreiung von Auschwitz, sagt er, genügen nicht. Die Konsequenz aus den Taten der Nazis müsse der Einsatz für Menschlichkeit sein – jetzt. Offener Brief von Rolf Verleger, Vorsitzender des Bündnisses für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern (BIP), vom 15. Februar 2020.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,
sehr geehrter Herr Außenminister Maas,
die Zeitung Haaretz vom 14. Februar 2020 meldet, dass Deutschland die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs (ICC) für die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete abstreitet.
Sollte dies zutreffen, erklärt unsere Bundesregierung damit, dass mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen in diesen Gebieten vom ICC nicht untersucht werden dürfen, dass also der ICC — den alle Bundesregierungen in der Tradition der Nürnberger Prozesse nachhaltig gefördert haben — seiner ureigensten Aufgabe der Untersuchung völkerrechtlicher Verbrechen nicht nachgehen kann.
Das steht in tiefem Widerspruch zu allen bisherigen Bekenntnissen zur strafrechtlichen Verantwortung und zum Völkerrecht. Damit geben Sie Israel einen Freibrief, seine Politik der Besatzung und der Menschenrechtsverletzungen weiter zu betreiben. Was das konkret für die Menschen dort bedeutet, hat die UN-Organisation OCHAOPT wieder einmal dargestellt, für die letzten zehn Jahre.
Sie erreichen damit dreierlei:
- Sie fördern palästinensische Militanz. Denn wenn Abbas‘ Versuch, mit diplomatisch-juristischen Mitteln palästinensische Belange durchzusetzen, an der „westlichen Wertegemeinschaft“ scheitert, dann bekommen selbstverständlich Kräfte Aufwind, die den bewaffneten Kampf predigen.
- Sie fördern die Unterstützung für BDS. Über den Sinn und die Effektivität dieser Bewegung gibt es verschiedene Meinungen. Aber es dürfte klar sein, dass Ihr Bestreiten der ICC-Zuständigkeit dieser Bewegung Aufschwung gibt. Denn wenn unsere Regierung nicht imstande — und offenbar vor allem nicht willens — ist, den Menschenrechten zu ihrem Recht zu verhelfen, welche Alternative jenseits vom Versuch der Einflussnahme auf Regierungshandeln gibt es denn noch, um den Unmut über diese Ungerechtigkeiten auszudrücken und um Druck zur Veränderung aufzubauen?
- Sie fördern Antisemitismus. Denn Ihre Entscheidung wird vielerorts so wahrgenommen werden, dass „die Juden“ (wenn man denn den Staat Israel auf diese 80 Prozent seiner Bevölkerung reduzieren will) „mal wieder eine Extrawurst bekommen“.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrter Herr Außenminister Maas, ich schreibe Ihnen dies nicht nur als Sohn von jüdischen KZ-Überlebenden aus einer schwer traumatisierten Familie, sondern auch aus meiner sich daraus herleitenden Position als Vorsitzender des Bündnisses für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern (BIP):
Gedenkreden, die allenthalben zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz zu hören waren, sind schön und gut; aber wenn daraus folgen würde, dass nicht mehr die Herrschaft des Rechts gelten soll, wenn es um Menschenrechtsverletzungen von Juden an Palästinensern geht, dann läuft etwas falsch bei Deutschlands Umgang mit den Verbrechen der Nazi-Herrschaft.
Konkret stellt sich hier die Frage: Bedeutet die Absage an Ermittlungen des ICC, dass die Bundesregierung die Resolution 2334 des UN-Sicherheitsrates vom 23. Dezember 2016, das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 9. Juli 2004 sowie den Beschluss der UN-Vollversammlung vom 29. November 2012 für völkerrechtlich irrelevant hält? Für eine Klarstellung sind wir Ihnen dankbar.
Mit freundlichen Grüßen,
Prof. Dr. Rolf Verleger
Quellen und Anmerkungen:
Weitere Informationen zum Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e.V. erhalten Sie hier.