Die ungesungenen Lieder
Die sonst lautstarken Künstler schweigen in der Krise — nun bleibt selbst ein „Protestsongfestival“ coronafrei.
„Wir sind weg, wir sind leise, weil man uns die Zukunft klaut.“ Dieser Satz wäre kein guter Demo-Schlachtruf, er reimt sich nicht mal. Aber er würde die momentane Situation in der Kulturszene weitaus besser treffen als „Wir sind hier, wir sind laut“. Gerade die Personengruppe, die in der Vergangenheit ihre politische Wachsamkeit erfreulicherweise bewiesen hat und die für lautstarke, publikumswirksame Zeitkritik eigentlich zuständig ist, duckt sich in für sie peinlicher Weise seit einem Jahr vor dem Corona-Thema weg. Wohl in der Absicht, wirtschaftlich zu überleben, lassen Künstlerinnen und Künstler zu, dass ihre Glaubwürdigkeit stirbt. Dies wäre ja noch verständlich bei Akteuren, die sich eher dem Liebeslied oder der ästhetischen Innerlichkeit verschrieben haben. Vollends auf die Spitze getrieben wird dieser bedauerliche Trend aber durch den „Protestsongcontest 2021“, organisiert von Radio FM4. Da protestieren die Sängerinnen und Sänger gegen so gut wie alles — nur nicht gegen die Corona-Politik der Regierung.
Mein Gastartikel „Komm, süßer Tod“ vom 2. Februar 2021 in der „Wiener Zeitung“ hat unter anderem „das auffällige Schweigen der sonst Beredten“ zum Thema gemacht und damit die relative Stille intellektueller Positionen zum Corona-Komplex angesichts der zu erwartenden Gegnerschaft einer Armada von staatlich sanktionierten Wortführern kritisiert.
Nun, wenn schon das öffentliche Denken kleinlaut bleibt, wäre dann nicht die Vermutung naheliegend, dass zumindest in der Sphäre der Emotion die Töne kritischer Zeitgenossenschaft mit deutlicherer Lautstärke geäußert würden? Aber ist hier nicht dasselbe Defizit auszumachen? Klar, es gibt die punktuelle Krakeelerei auf den Demos, die vor allem durch ein spezielles Obskurantentum forciert werden, dessen Spannbreite von Rechtspopulismus bis hin zur völligen Corona-Leugnung reicht. Aber was ist mit dem ganz normalen kulturellen Unterbau unserer libertären Gesellschaft, der zu jeder anderen Zeit weit weniger mundtot bleibt?
Wie eine ungewollte Bestätigung meines atmosphärischen Verdachtsmoments lässt sich das backfrische Portfolio des Protestsongcontests 2021 von Radio FM4 lesen. Wohlgemerkt: Protestsongs! Die illustre Runde der in die finale Auswahl gekommenen Lieder macht sich über Herrn Elon Musk her, über Kapitalismus, Teilzeit-Feminismus, Asylpolitik, mediale Selbstinszenierung, Kunstmarktkapriolen, Wiener Terrorattacke, österreichische Kleingeistigkeit und Klimawandel. Aber: Kein einziges Lied, keine einzige Protestzeile widmet sich der alles beherrschenden Dämonie des Jahres 2020, der Corona-Krise.
Echt jetzt?! Nicht einmal der leiseste Zweifel am Erzählstrang der politischen Obrigkeit und am Konformismus der Medienlandschaft in puncto Covid-19 hat es in diesen Wettbewerb expliziter Protestkultur geschafft?!
Ich finde das mehr als nur kurios. Geht das auf eine politisch überkorrekte Selektion im Vorfeld oder — schlimmer noch — auf eine künstlerische Selbstzensur a priori zurück?
Sind beim Thema Corona sogar die Ungehorsamsten schon auf ein abwartendes Untertanen-Standby eingeschworen, obwohl ihnen von den Autoritäten ein Schelmenstück der Widersinnigkeit nach dem anderen kredenzt wird?
Die potenziellen Angriffsflächen für Kritik und Protest geben sich ja wahrlich nicht kleinlich.
Eine schwergewichtige Nomenklatur wie Demokratieabbau, tendenziöse Angstrhetorik, ökonomisches Autodafé und Autokratiegelüste böte sich eigentlich als generöser Impulsgeber für griffige Refrains an. Und en Detail könnten immer noch die Unwägbarkeit der Regierungsbeschlüsse (Profisport ja, Profikultur nein!), die überkochten Disziplinarmaßnahmen (Silvesterknallfroschverbot!), die völlig abgehobene Staatsräson (Alleinspaziergang für Singles!) oder manch drollige Wortschöpfung („Frei-Testung“ — als ob die Testung eine Tochter der Freiheit wäre wie die Kunst!) genügend angriffslustige Liedzeilen generieren. Dass diese jedoch komplett ungesungen blieben, ist ein Zustand, über den ich mich nur mit der untröstlichen Strophe eines ahnherrischen Protestsongs (O, du lieber Augustin, Wien um 1800) hinwegtrösten kann:
„Jeder Tag war ein Fest / jetzt haben wir die Pest! / Nur ein großes Leichenfest / das ist der Rest.“
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Das ist der Rest“ auf keinzustand.at.