Die ungeliebte Freiheit 

Niemand hat das Recht, uns das kritische Denken zu verbieten! Exklusivabdruck aus „Politische Angst“.

Wenn Menschen ihre Ketten lieben, ist es schwer, sie dazu zu motivieren, diese abzuwerfen. Erich Fromm hat in seinem Klassiker „Die Furcht vor der Freiheit“ dargelegt, dass die Befreiung von einengenden Bindungen zwar einen wichtigen Reifungsschritt des Menschen darstellt, dass die gewonnene Unabhängigkeit aber immer auch mit Einsamkeitsgefühlen und der Angst vor Verantwortung einherging. Der Untergang der Individualität im bergenden Raum größerer Gemeinschaften und die Unterwerfung unter die Macht stellte daher in der Menschheitsgeschichte merkwürdigerweise eine immer präsente Versuchung dar. Was das alles mit dem aktuellen Corona-Geschehen zu tun hat? Raten Sie! Ulrich Teusch schlägt in seinem Buch die Brücke zwischen den psychologischen und politischen Erkenntnissen einiger Altmeister und heutigen Verhältnissen. Exklusivabdruck aus „Politische Angst. Warum wir uns kritisches Denken nicht verbieten lassen dürfen“.

1941 publizierte der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm (1900 bis 1980) sein berühmt gewordenes Buch Die Furcht vor der Freiheit. Darin vermerkt er, dass der Kampf für die Freiheit im Lauf der Geschichte zwar viele Rückschläge habe hinnehmen müssen, dass aber auch manche Schlachten gewonnen worden seien. „Viele sind in diesen Schlachten in der Überzeugung gestorben, es sei besser, im Kampf gegen die Unterdrückung zu sterben, als ohne Freiheit zu leben. Ein solcher Tod war für sie die höchste Bestätigung ihrer Individualität“ (1).

Was Fromm da schreibt, klingt zunächst nach einer von vorsichtiger Zuversicht bestimmten Geschichtsdeutung. Doch die Realität des Jahres 1941 gab wenig Grund zur Hoffnung. Und vor dem Hintergrund der bedrückenden Verhältnisse dieses Jahres formuliert Fromm nur wenige Zeilen später denn auch den Verdacht, mehr noch: die bittere Einsicht, dass die Liebe zur Freiheit möglicherweise eine Sache für Minderheiten sein könnte.

Tatsache war: Totalitäre politische Systeme hielten seinerzeit große Teile der Welt in Atem und im Griff. Nur wenige Menschen hatten sich dem Aufstieg der Diktaturen widersetzt. Weit eher war das Gegenteil der Fall gewesen.

In Deutschland, Italien und andernorts haben viele Millionen ihre Freiheit ebenso bereitwillig aufgegeben, wie ihre Väter und Mütter für sie gekämpft hatten. Statt sich nach Freiheit zu sehnen und das schon Erreichte zu verteidigen, sahen sie sich nach Möglichkeiten um, der Freiheit zu entfliehen.

Offenbar war sie ihnen zur Last geworden. Sie fürchteten sie. Sie zogen ihr die vermeintliche Sicherheit unter einem freiheitsfeindlichen, unterdrückerischen Regime vor. Andere wiederum — auch sie Millionen zählend — hätten vielleicht ein freies Leben präferiert, doch sie waren nicht bereit, aktiv dafür einzustehen. Sie ließen den Verlust ihrer Freiheit widerstandslos geschehen (2).

Wie Fromm, so hatte auch der Philosoph Ernst Cassirer (1874 bis 1945) Deutschland unmittelbar nach der Machtübernahme des Nazismus verlassen. Und wie Fromm in der Furcht vor der Freiheit reflektierte Cassirer in seinem Buch Vom Mythus des Staates, das 1946 posthum zunächst in den USA erschien, über die zwölf braunen Jahre und was sie im Hinblick auf die Freiheitsfrage zu bedeuten hatten. Cassirer und Fromm kommen zu übereinstimmenden, bis in einzelne Formulierungen hinein fast identischen Einsichten:

„Die Freiheit ist kein natürliches Erbe des Menschen. Um sie zu besitzen, müssen wir sie schaffen. Wenn der Mensch bloß seinen natürlichen Instinkten folgen würde, würde er nicht für die Freiheit kämpfen; er würde eher die Abhängigkeit wählen. Offenkundig ist es viel bequemer, von anderen abzuhängen, als für sich selbst zu denken, zu urteilen und zu entscheiden. Dies erklärt, daß die Freiheit so oft sowohl im privaten als auch im politischen Leben mehr als Last denn als Vorrecht betrachtet wird. Wenn die Bedingungen außerordentlich schwer sind, versucht der Mensch, diese Last abzuschütteln. Hier hakt der totalitäre Staat und der politische Mythus ein. Die neuen politischen Parteien versprechen wenigstens ein Entkommen aus dem Dilemma. Sie unterdrücken und zerstören den Sinn für Freiheit selbst; aber gleichzeitig befreien sie den Menschen von jeder persönlichen Verantwortung“ (3).

Die französische Philosophin Simone Weil (1909 bis 1943) hatte ein viel zu kurzes, überaus aufreibendes, ganz vom Erkenntnisdrang bestimmtes Leben. Wenige Monate vor der Machtübernahme des Nazismus, im August und September 1932, hielt sie sich zu Studienzwecken in Deutschland auf. Zurück in Frankreich, verfasste sie 1934 ihre bedeutende, zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebene Schrift Über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung. Auch dieser Text ist von der totalitären Erfahrung bestimmt, und auch er gibt auf die Freiheitsfrage eine skeptische, desillusionierte Antwort:

„Die Wahrheit ist, dass die Knechtschaft (…) den Menschen so weit erniedrigt, bis er sie liebt, dass die Freiheit nur denen kostbar ist, die sie wirklich besitzen, und dass ein ganz und gar unmenschliches System wie das unsere nicht etwa Menschen hervorbringt, die eine menschliche Gesellschaft aufbauen können, sondern alle, die ihm unterworfen sind, Unterdrückte wie Unterdrücker, nach seinem Bild formt“ (4).

Anders als die drei gerade vorgestellten Denker hatte der Soziologe Hans Freyer (1887 bis 1969) den Aufstieg des Nazismus zunächst mit Hoffnungen begleitet und sich dem Regime einige Jahre angedient. Dann jedoch ging er mehr und mehr auf Distanz und zeigte sich nach 1945 geläutert. In den 1950er- und 1960er-Jahren gewann Freyer erheblichen öffentlichen Einfluss mit einer Vielzahl zeitdiagnostischer und technikkritischer Schriften. Auch die Frage nach der Freiheit trieb ihn um.

Auf den ersten Blick scheint sein Ansatz von größerem Optimismus bestimmt zu sein als die Positionen Fromms, Cassirers und Weils. Freiheit und Selbstbestimmungskraft, heißt es da, gehörten zum Wesen des Menschen; sie seien kein Produkt der Geschichte. Dann jedoch kommen Freyers Einschränkungen: Individuelle Freiheit und Autonomie, sagt er, können sich immer nur auf dem je gegenwärtigen Handlungsfeld, in vorgefundenen Sachzusammenhängen und unter gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen bewähren. Und das jeweilige Handlungsfeld sei auch im günstigsten Fall kein frei formbares Material. Es sei auf vielfältige Weise präformiert — und das menschliche Handeln darum notwendigerweise entfremdet (5).

Des Weiteren zeigen die Handlungsfelder hinsichtlich ihrer Präformierungen Gradabstufungen. Diese können sich bis zum Extrem steigern und den Grenzfall der nahezu völligen Entfremdung erreichen. Und schließlich ist der Mensch nicht nur ein auf Freiheit und Autonomie angelegtes, sondern auch ein höchst „modellierungsfähiges“ Wesen (6).

Der Schlüsselbegriff in Freyers 1955 erschienener Theorie des gegenwärtigen Zeitalters ist der des „sekundären Systems“. Sekundäre Systeme sind technische Systeme, die, so Freyer, „nach einer ganz neuen Formel konstruiert“ sind. In ihnen werde — anders als in den „Ordnungen auf gewachsenem Grunde“ (7) — „mit einem Menschen gerechnet, der gar nicht anders kann, als auf das System ansprechen, und diese Rechnung ist nicht Theorie, sondern sehr real: der Mensch wird auf das Minimum, das von ihm erwartet wird, wirklich reduziert. Dann ist hinreichende Wahrscheinlichkeit gegeben, daß er sich auf den Linien des Modells bewegen wird. Sekundäre Systeme (…) sind Systeme der sozialen Ordnung, die sich bis zum Grunde, das heißt bis in die menschlichen Subjekte hinein, entwerfen“ (8).

Der von diesen neuartigen Systemen ausgehende Anpassungszwang wird nicht in herkömmlicher, äußerlich bleibender Weise an den Menschen herangetragen, sondern „in sein Herz und seinen Sinn“ (9) gepflanzt. Und das mit Erfolg:

„Angesichts der fortschreitenden Perfektion des Systems vermißt der Mensch seine Freiheit nicht mehr. Er schickt sich darein, daß es auch ohne sie geht. Dies um so leichter, weil das System in den toten Winkeln zwischen seinen Ansprüchen allerhand private Freiräume gewährt, die nach Geschmack und Belieben ausgefüllt werden können, ohne daß der Lauf des großen Apparats dadurch gestört wird, und weil es sich insgesamt mit einer abstrakten Humanität legitimiert, der zuzustimmen nicht sonderlich viel kostet, aber das Gewissen beruhigt“ (10).

Soll es reibungslos funktionieren, ist das System auf genau jenen Menschentypus angewiesen, den es im Zuge seines Funktionierens ständig und in großer Zahl hervorbringt.

Es erzeugt „ein(en) Mensch(en), der unter ein Sachsystem so entschieden subsumiert worden ist, daß Antriebe, die in ihm selbst entspringen, nicht mehr zum Zuge kommen“ (11). Es erzeugt einen reduzierten, einen entfremdeten Menschen. Gerade die weitgehende Entfremdung (Hegel) aber definiert den Proletarier (Marx). Das Proletariat, wie Marx es kannte, also das des beginnenden industriellen Zeitalters, „bezeichnete die erste Stelle, an der sich das aufscheinende Modell den Menschen schuf, dessen es bedarf“ (12).

Wenngleich von einem Proletariat im Sinne des 19. Jahrhunderts auch schon zu Freyers Lebzeiten nicht mehr gesprochen werden konnte, behält die im Begriff des Proletariats enthaltene Entdeckung auch angesichts der industriegesellschaftlichen und sozialstaatlichen Entwicklung ihren Wert. Der Begriff, so Freyer, erfahre sogar „eine Steigerung (…) ins Prinzipielle“ (13):

„Das sekundäre System zielt tatsächlich auf den Proletarier hin und erzeugt ihn. Es erzeugt ihn, indem es den Menschen durch seine Funktion im System definiert, indem es ihn darauf reduziert und alles, was er selbst ist, entweder verkümmern läßt oder bagatellisiert …“ (14).



Quellen und Anmerkungen:

(1) Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, Seite 9.
(2) Vergleiche ebenda, Seite 10.
(3) Ernst Cassirer, Vom Mythus des Staates. Übersetzt von Franz Stoessl, Zürich 1949, Seite 376.
(4) Simone Weil, Über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien, Zürich 2012, Seite 106.
(5) Vergleiche Hans Freyer, Schwelle der Zeiten. Beiträge zur Soziologie der Kultur, Stuttgart 1965, Seite 329.
(6) Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955, Seite 59.
(7) Ebenda, Seite 87.
(8) Ebenda, Seite  88.
(9) Hans Freyer, Schwelle der Zeiten, Seite 331.
(10) Ebenda.
(11) Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Seite 89.
(12) Ebenda, Seite 90.
(13) Ebenda.
(14) Ebenda, Seite 141.