Die übersehenen Opfer

Im Schatten von Corona spielt die Regierung mit Menschenleben — die Fälle häuslicher Gewalt häufen sich.

Menschenleben gelten als höchstes Gut. Das ist prinzipiell berechtigt. Und es hilft der Regierung derzeit, Gegner rigider Corona-Schutzmaßnahmen — selbst Menschen, die die Hygenievorschriften nur ungenau einhalten — als „Lebensgefährder“ abzukanzeln. Die sich jetzt epidemisch ausbreitende Ehrfurcht vor dem Leben ist jedoch eine höchst selektive. Wo Politiker das Leben einiger Menschen schützen, gefährden sie das Anderer. Und dies in einem Ausmaß, das derzeit noch gar nicht absehbar ist, weil die „Kollataralschäden“ von Shutdown und Ausgangssperren schwer nachzuweisen und zu quantifizieren sein werden. Hierbei muss man vor allem an die Opfer häuslicher Gewalt denken. Sie können derzeit nicht nur nicht ausweichen, sie leiden auch besonders an der Anspannung, die in einer Situation erzwungener Enge bedrohlich wächst. Die Autorin ist einer gewalttätigen Beziehung vor Jahren nur mit knapper Not entronnen. Sie sagt: hätte es damals schon Corona gegeben, hätte ich es womöglich nicht überlebt.

Ich weiß nicht, ob ich einen Lockdown überlebt hätte, wenn er heute vor 9 Jahren stattgefunden hätte, und es zerreißt mich, zu wissen, dass es Menschen gibt, die gerade im Moment in dieser Situation sind und nicht wissen, ob sie sie überstehen werden.

Heute vor 9 Jahren bestand mein gesamtes Leben aus Angst, Bedrohung und Gewalt. Jeder Tag war ein neuer Versuch, die nächsten 24 Stunden möglichst unbeschadet zu überstehen. Ein Versuch, der viele Male scheiterte.

Ich lebte in einer Beziehung mit häuslicher Gewalt. Es war eine Beziehung, in die ich hineingeschlittert war, ohne zu verstehen, was mir passierte. Anfangs waren es „kleine“ Grenzüberschreitungen, die ich immer wieder vor mir selbst zu rechtfertigen versuchte. Doch als ich das endlich nicht mehr tun konnte, als sich schließlich eine Situation ereignete, die mich aus meiner Trance riss, war es zu spät. Es war zu spät, um den Weg zurückzugehen, den ich gekommen war.

Ich fand mich in einer scheinbar ausweglosen Situation wieder. Meine sozialen Kontakte waren weitestgehend gekappt, mein Selbstvertrauen im tiefsten Grund erschüttert und jede eventuelle Fluchtmöglichkeit nachdrücklich kontrolliert. Ich war gefangen in einer Welt, die ich nicht verstand — in einer Welt, in der meine Bedürfnisse irrelevant waren, in der mir jedes Recht auf Selbstbestimmung entzogen wurde.

Mein Alltag bestand daraus zu versuchen, nichts falsch zu machen. Und daraus, nahezu täglich verdeutlicht zu bekommen, was es bedeutete, dass ich das niemals schaffen würde. Denn auch wenn ich all die verdrehten, erniedrigenden Regeln einhielt, wurden sie bei Bedarf einfach angepasst. Es ging nicht um tatsächliche Handlungen. Es ging darum, dass ich eine unbedeutende Leinwand war, auf die sich der Selbsthass eines fremden Menschen projizierte. Und das Ventil, in dem sich all die unergründliche Wut entlud. Tag für Tag.

Es ist unmöglich zu zählen, wie viele Male ich eingesperrt wurde, wie viele Stunden ich zusammengekauert auf dem Boden lag, während auf mich eingeschlagen wurde oder wie oft ich sexuelle Dinge tun musste, die ich nicht tun wollte. Mir wurde mit allen Mitteln demonstriert, dass ich wertlos bin, dass selbst meine Grundbedürfnisse keine Bedeutung haben. Häufig durfte ich nichts trinken, durfte nicht zur Toilette gehen oder musste mehrere Stunden dünn bekleidet in eisiger Kälte verbringen. Doch das Schlimmste war, dass ich nicht schlafen durfte. Die Devise, die mir immer und immer wieder eingetrichtert wurde, lautete: „Wenn du mich liebst, schläfst du nicht, während ich wach bin.“

Ich weiß nicht, in wie vielen Nächten ich wachgeprügelt wurde, weil ich es wieder nicht geschafft hatte, diesem Leitsatz nachzukommen. Weil ich wieder durch mein „fehlplatziertes Schlafbedürfnis“ Liebe entzogen haben sollte. Ich versuchte, nicht zu schlafen und wenn ich das nicht schaffte, bekam ich die Konsequenzen meistens sehr schnell zu spüren. Also schlief ich fast nicht. Tagelang, wochenlang, monatelang.

Ich werde nicht versuchen, das Leid zu beschreiben, das dieser Schlafentzug auslöste. Es ist mir unmöglich, Worte dafür zu finden.

Jede vierte Frau wird einmal in ihrem Leben Opfer häuslicher Gewalt

All das und so vieles mehr war meine Hölle. Eine Hölle, in der ich gefangen wurde, als ich 15 war und der ich 2,5 Jahre später nach einem unfassbar schweren Kampf und durch sehr viel Glück mit 18 Jahren entkam. Nebenbei ging ich zur Schule, schrieb gute Noten, machte mein Abitur. Obwohl ich mich heute sehr oft frage, wie Lehrer, Mitschüler oder auch meine eigenen Eltern so viele Zeichen übersehen konnten, schien niemand auch nur ansatzweise zu ahnen, welcher Gefahr ich täglich ausgesetzt war.

Das ist — leider — nicht ungewöhnlich. Häusliche Gewalt durchzieht alle gesellschaftlichen Schichten, alle Altersgruppen und betrifft nicht nur Frauen und Kinder (1).

Einer Erhebung der europäischen Grundrechteagentur (FRA) zufolge wird in Deutschland jede vierte Frau einmal in ihrem Leben Opfer von Partnerschaftsgewalt (2). Damit ist häusliche Gewalt allgegenwärtig in unserem Land. Sie könnte eine Kollegin betreffen, einen Mitschüler, vielleicht sogar eine gute Freundin oder Angehörige der eigenen Familie. Ohne dass auch nur ein Wort darüber gesprochen wird, könnte Gewalt das tägliche Leben eines nahe stehenden Menschen bestimmen.

Ich entkam meiner Hölle. Es vergingen viele Versuche, bis ich es tatsächlich schaffte. Die meisten dieser Versuche scheiterten, als ich verzweifelt zur Wohnungstür rannte und noch bevor meine Hand den Türknauf berührte, am Arm gepackt und zurück in den Gang geschleudert wurde. Das Geräusch, das darauf folgte, brannte sich immer wieder tief in mein Gedächtnis ein. Das simple Geräusch eines Schlüssels, der sich im Schlüsselloch drehte und mir verkündete, dass ich in den nächsten Stunden keine Chance haben würde, der Gewalt zu entkommen. Dass ich all dem, was jetzt passieren würde, völlig hilflos ausgeliefert sein würde.

Coronakrise kann das Leid betroffener Menschen ins Unermessliche steigern

Doch wie gesagt, eines Tages schaffte ich es, zu entkommen. Ich überlebte die Gewalt. Doch ich weiß nicht, ob ich sie überlebt hätte, wenn sich zu dieser Zeit ein Krisenmanagement ereignet hätte, wie es derzeit stattfindet. Die meisten meiner Rettungsanker wären mir mit einem Mal genommen worden. Ohne Vorwarnung, ohne jegliche Hilfe, wäre ich ganz offiziell mit dieser Person eingesperrt gewesen. Ich hätte nicht zur Schule gehen dürfen, mich nicht mit Freunden treffen können, die ich ohnehin nur heimlich sah, und, wenn all das stattgefunden hätte, als ich bereits 18 war, meine Familie nicht besuchen dürfen. Die wenigen Stunden relativer Sicherheit, die mir die Schule brachte — wenn ich denn dorthin gelassen wurde — wären mir entrissen worden. Die heimlichen Gespräche mit Freunden, die mir Stück für Stück halfen, mir einen Weg aus dieser Situation zu schaffen, wären unmöglich gewesen. Für mich hätte es keine digitale Alternative gegeben, denn jeder eventuelle Kommunikationsweg wurde kontrolliert und verstellt.

Zudem hätten die angespannte Lage und die viele gemeinsame Zeit zu mehr Aggression geführt, zu mehr unerträglichen Situationen, zu mehr Gewalt. Mein Leid hätte sich potenziert.

Für mich sind das erschreckende Gedanken, Eventualitäten, die mir seit Wochen nicht aus dem Kopf gehen. Doch für andere Menschen ist all das Realität. Gerade in diesem Moment sind unzählige Menschen in Gefahr. Für viele Menschen ist das tägliche Leben auch ohne Ausgangssperre und Kontaktverbot ein grauenhafter Kampf. Und für sie bedeutet diese Situation nicht: „Zuhause bleiben — so leicht konnte man noch nie Held sein.“ Für sie können die Maßnahmen den Tod bedeuten.

Der aktuelle Umgang der Bundesregierung mit der Coronakrise gefährdet Menschen — in meinen Augen und nach meinen Erfahrungen weit mehr Menschen, als es sich die meisten vorstellen können. Doch selbst wenn wir annehmen, es wäre nur eine kleine Gruppe an Menschen einem größeren Risiko ausgesetzt, als ohne die verordneten Maßnahmen: Wer entscheidet, dass ihr Leben weniger wert ist, als das der Menschen, die diese Maßnahmen schützen sollen? Welche Ethikberatung hat dabei stattgefunden? Wo war die öffentliche Diskussion dazu, ob die Bundesregierung diese Frage entgegen ihren eigenen Grundsätze utilitaristisch beantworten soll? Seit wann leben wir in einem Land, in dem Menschenleben gegeneinander aufgewogen werden?

Es wurde offensichtlich entschieden, Menschen zu gefährden, um andere zu schützen. Doch wurden diese Menschen in eine Risiko-Nutzen-Abwägung einbezogen? Sind die Auswirkungen derartiger Maßnahmen überhaupt abschätzbar? Und wenn ja, gab es multiprofessionelle Expertengruppen, die darüber beraten haben?

Ist denn nicht das Leben eines jeden Menschen von unermesslichem, unendlichem Wert?

Ich halte es für unabdingbar, schutzbedürftige Menschen zu schützen. Aber wir müssen dabei alle Menschen im Blick behalten, die Schutz brauchen. Wir können nicht im Namen der Menschlichkeit und der sozialen Rücksicht das Leid zahlloser Menschen verstärken und ihre körperliche und psychische Unversehrtheit gefährden. Oder um es in Immanuel Kants Sinne auszudrücken: Der Zweck heiligt nicht die Mittel.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Partnerschaftsgewalt Kriminalstatistische Auswertung — Berichtsjahr 2018, Bundeskriminalamt.
(2) https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra-2014-vaw-survey-at-a-glance-oct14_en.pdf