Die Überschwemmung
In einer Gute-Nacht-Geschichte des Literatursalons wird über Faschismus nachgedacht.
Gerade auch in Medien abseits des Mainstreams wird die Faschismusdebatte geführt. Haben wir ihn wieder, haben wir ihn nicht? Teer Sandmann geht dieser Frage in einer Gute-Nacht-Geschichte nach, die bei den Schildbürgern ansetzt. Alles hochgefährlich, aber keine Sorge: Das Ganze spielt im Literatursalon und ist Satire. Und sei’s real.
Also Kinder, zuerst eine Geschichte: Die Schildbürger erwachten eines Nachts in ihren Häusern, weil es so seltsam glucksende Geräusche gab. Mit ihren Händen suchten sie nach den Taschenlampen und konnten diese nicht finden. Stattdessen spürten sie Wasser, das unter ihren Betten dahin floss. Und das Wasser stieg schnell an. Sie erschraken naturgemäß — wie sie zu Licht kamen, lassen wir hier mal weg, bestimmt hatte Putin die Hände mit im Spiel — und sie sprangen zuerst auf die Betten und dann kletterten sie auf die Dächer. Logisch, wer will schon ertrinken. Und als sie dort waren und einander so auf dem Dach hocken sahen — es war inzwischen Tag geworden —, schrie einer plötzlich: „Eine Überschwemmung wie damals!“ Dann aber dachten sie nach und ein anderer, der Politiker werden sollte, brüllte — es galt ja weiterhin, das Wasser zu übertönen — ebenso: „Damals, ihr erinnert euch, kam das Wasser von da.“ Und er wies mit der Hand in die eine Richtung. „Diesmal aber kommt es aus entgegengesetzter Richtung, nicht wahr?“
Ja, Kinder, so war es, und alle mussten das einsehen. Das Wasser kam damals aus der anderen Richtung. Also fuhr jener, der immer schon Politiker werden wollte, fort: „Das bedeutet: Was wir hier sehen, ist gar kein Wasser und also keine Überschwemmung. Denn wäre es eine, müsste ja alles gleich sein wie bei dem Ereignis, das wir damals Überschwemmung nannten.“ Auch das mussten alle einsehen und so atmeten die Schildbürger bald befreit auf und lebten fort. Ob sie dabei ertrunken sind, kann ich euch nicht sagen, Kinder.
Und weil ich nicht Lehrer bin, Kinder, sage ich euch auch nicht, was der Sinn dieser Geschichte ist und ob sie überhaupt einen hat. Vielmehr muss ich euch davon erzählen, wie im Land, in dem ich lebe, eine aufgeregte Diskussion darüber geführt wird, ob das, was gerade stattfindet, Faschismus sei. Tatsächlich Kinder, es gibt Leute, die das behaupten. Faschismus, ihr wisst das bestimmt, ist das mit dem Hitler. Oder eigentlich mit dem Mussolini. Aber so genau wollen wir es nicht nehmen. Jedenfalls gab es seinerzeit so Uniformen und Abzeichen auf den Kleidern, die heute, abgesehen von wenigen Helden beim großen Freiheitskampf, nicht mehr getragen werden. Und wenn es eben jene von Hitler waren, bauten sie auch noch so Lager zwischen Birken und vernichteten die, die sie zu vernichten müssen glaubten. Das waren Juden, Kinder. Männer, Frauen, Kinder. Sie vernichteten alles Jüdische, weil dieses Jüdische, wie sie behaupteten, gegen sie gerichtet sei und ihnen schade und die Weltherrschaft wolle. Das war also der Faschismus und nun sagen einige, der sei wieder da.
Total bekloppt, Kinder, versteht sich. Wenn heute gesagt wird: Grenzt diese oder jene aus, zeigt mit dem Finger auf sie, verfrachtet sie nach Madagaskar; wenn Menschen das Konto gesperrt wird und sie also nichts mehr bezahlen können; wenn sie die Arbeit verlieren, weil sie an einer falschen Demonstration teilgenommen haben; wenn Menschen aus Deutschland fliehen müssen; wenn sie von Polizisten und Staatsanwälten überfallen werden; wenn Menschen verhaftet werden, weil sie falsche Dinge sagen; wenn Meinungen nicht mehr veröffentlicht werden, die falsch sind, dann ist das etwas komplett anderes. Denn — und ist das nicht einfach nur logisch! — die Juden hatten die Wahl nicht. Sie konnten nicht wählen, an eine Demonstration zu gehen oder nicht, sich impfen zu lassen oder nicht, jene Meinung zu vertreten oder nicht, kurz: Wie auch immer sie sich verhielten, was immer sie dachten, sie sind drangekommen von den Faschisten.
Der Ungeimpfte, Kinder, kann aber entscheiden, ob er geimpft werden will oder nicht. Und man darf heute wählen, ob man beim Kampf für die Freiheit die Ukrainer für die Guten hält und den Russen für den Bösen oder eben umgekehrt, Kinder, man kann das.
Und es ist ja logisch, hätte Hitler den Juden die Wahl gelassen zu sagen, wir sind keine Juden mehr, und er hätte dann nur noch die Juden vernichtet, die Juden hätten bleiben wollen, dann wäre das ja ganz was anderes gewesen und bestimmt nicht Faschismus ...
Bestimmt nicht Faschismus?... — Okay, ich muss das kurz überlegen. Vielleicht muss ich es anders angehen.
Da sagen doch einige, es sei wieder Faschismus, nicht wahr, und das ist vollkommen unsinnig und hirnrissig und verharmlost, was mit den Juden geschehen ist. Denn wenn nun die Maskenpflicht gilt und daraufhin das große Verpetzen losgeht, Denunziation, sagt man Kinder, so ist das einfach was ganz anderes. Da sind Angestellte von Supermärkten, zum Beispiel. Und die müssen diese Maskenpflicht durchsetzen. Meint ihr, die täten das gerne, meint ihr, das seien Faschisten? Nein, sie müssen das tun Kinder, denn wenn sie es nicht täten, käme der Vorgesetzte und würde sie tadeln und täten sie es nochmals nicht, wären sie den Job los, und so ergeht es ja auch dem Vorgesetzten, weil auch über dem einer ist und so weiter. Das ist einfach so und es ist menschlich.
Und dann kommt wieder einer rein ohne Masken, Kinder, und diese Angestellten sind, wie gesagt, auch nur Menschen und wenn es dann der 23. am Tag ist, der ohne Maske reinkommt, dann nervt das. Ist doch ganz natürlich, und die sind dann einfach bloß genervt, dass da schon wieder einer ohne Maske reinkommt und sie ihn zurechtweisen müssen, Kinder, einfach nur genervt und das hat mit Faschismus nichts zu tun, rein gar nichts, und dass sie manchmal dann schreien und nicht gerade freundlich sind, auch das ist doch verständlich bei dem ganzen Druck, den sie haben, nicht wahr. Außerdem bleiben viele immer sehr höflich und sagen: „Bitte ziehen Sie Ihre Maske über, wir sind leider gezwungen, das durchzusetzen.“ Außerordentlich lieb haben sich viele stets verhalten — wie gesagt, nicht alle, aber viele — und gerade dieses Liebsein bei der Anweisung, doch bitte eine Maske zu tragen, hat mit Faschismus nun wiederum rein gar nichts zu tun, nichts mit Hitler, nichts mit Mussolini, das muss doch jedem einleuchten, nicht wahr?
Einleuchten? ... Moment mal ...
Da kam ein Jude rein und ja, er wurde aus dem Geschäft verwiesen, nicht weil sie das wollten, die, die ihn verwiesen, sondern weil es ihnen sonst selbst an den Kragen gegangen wäre, Kinder, zumal die ja oft auch Kinder hatten und die das auch deshalb tun mussten, um eben für ihre Kinder sorgen zu können, vergessen wir das nicht, und das hat doch mit Faschismus nichts zu tun, und einige brüllten ihn an, zugegeben, aber wenn es der 12. Jude ist, der am Tag reinkommt, obgleich außen steht „FÜR JUDEN ZUTRITT VERBOTEN“, dann ist doch nur zu verständlich, dass einer auch mal die Nerven verliert. Auch dieses Verlieren der Nerven hat doch nichts mit Faschismus zu tun, rein gar nichts, jeder verliert mal die Nerven, und mitunter hat man es den Juden erst noch ganz freundlich gesagt, sie dürften leider da nicht reinkommen, man sei gezwungen das durchzusetzen und es täte einem leid ... kann dieses Liebsein und Höflichsein, Kinder, mit Faschismus zu tun haben?
Und doch, wenn ich es mir nun überlege, hatte dieses Nervenverlieren und dieses Bloßausführen, weil man gezwungen ist und selbst Angst hat, mit Faschismus zu tun, man muss das einfach so sagen, denn es war ja der Faschismus damals und auch in den Geschichtsbüchern steht es so, und so gilt vielleicht doch:
Die Vernichtung mit dem Gas, der Genozid war am Ende, aber es hatte einen Anfang, es hatte Tausend Anfänge, und es hatte eine Mitte und eine fortgeschrittene Mitte, und das alles, nicht erst am Ende, war gleichsam der Faschismus, ja, es irritiert mich nun selbst, Kinder, das so sagen zu müssen, aber ja, die Abzeichen, Kinder, die Abzeichen und die Uniformen, so fällt mir ein, die haben wir heute nicht.
Hab ich es endlich: Die Abzeichen gibt es heute nicht. Deshalb Kinder, logisch, ist das kein Faschismus heute, und wir haben diese Lager nicht mehr zwischen den Birken, nicht in einem vergleichbaren Sinne, es gibt das alles nicht, und ja Kinder, weil es das alles auch nie mehr geben wird, weil der Faschismus eine Zeit war, die vergangen ist, mit Abzeichen und Uniformen, die vergangen sind, mit Methoden der Vernichtung, die in dieser Form nie mehr genau so zur Anwendung gelangen, um es etwas technisch auszudrücken, Kinder, denn wir sind nun einmal eben technisch und genauer noch technologisch weiter gekommen — deshalb, Kinder, kann das, was um euch herum ist, nie Faschismus sein. Sonst müsste ja am Ende geradezu der Fortschritt selbst zum Faschismus werden, wollte man diese These halten, es sei heute wieder Faschismus, und das ist nun wirklich absurd.
Und deshalb Kinder ist die Diffamierung heute keine faschistische, sie ist eine ganz andere. Und die Stempelung ist ein andere. Und die Abzeichen sind ganz andere. KEIN RASSIMUS IM VEEDEL. NAZIS RAUS. Und auch die Empörung und ihre Bewirtschaftung, gegen diese oder jene, ist keine faschistische, sie ist eine ganz andere. Und das Gesunde — oh ja, Kinder, aus diesem Gesunden heraus sprechen doch oft auch die Kritischen, wenn sie gegen das Kranke der Eliten und deren Entartung, auf Epstein, Bidens Sohn und Prinz Andrew zeigend, sprechen, ist immer gesund und deshalb auch nie faschistisch. Entartet sind die anderen. Hat Hitler gesagt.
Moment, hat er das gesagt? ...
Ja, hat er. Blöd, aber er hat. Und wenn ich Reden höre und Texte lese, die wieder auf dieses Gesunde bauen und auf die Empörung gegen das Kranke und Ausschlagende und Abnorme, wenn nicht der Machtgebrauch am Pranger steht, wenn nicht die Vernichtung am System, an dem man selber teilhat, manchmal genervt, manchmal höflich, wenn nicht das bewusst gemacht wird, sondern wenn stattdessen wieder personalisiert und kategorisiert wird, dann weiß ich, der Faschismus, der Tausend Anfänge hat und eine Mitte und ein Ende, ist selbst da wieder da, wo geglaubt wird, es würde gegen ihn vorgegangen.
Nun Kinder, und das sage ich nur ganz leise, denn das darf keiner hören, sonst werde ich verhaftet, weil wir ja nicht im Faschismus leben: Heute zu sagen, es sei kein Faschismus, verharmlost die Vernichtung der Juden, verharmlost den Holocaust. Das ist die bittere Wahrheit, die nie ans Licht darf. Die Millionen Menschen, deren Leben von einem gesunden Maß und deren Höflichkeit ausradiert wurde, ein Maß, das gegen das Kranke und Entartete vorgegangen ist, werden zum Instrument der nächsten Tilgung. Vernichtung hoch zwei. Das ist die Wahrheit.
Novalis, Kinder, der ungeheuerlichste romantische Dichter deutscher Sprache, er war unsterblich in die dreizehnjährige Sophie von Kühn verliebt, Kinder, ein Pädophiler also — wie Epstein, hätte ich fast gesagt — der hat geschrieben:
„Es gibt so bange Zeiten, / Es gibt so trüben Mut, / Wo alles sich von Weitem / Gespenstisch zeigen tut. / Es schleichen wilde Schrecken / So ängstlich leise her, / Und tiefe Nächte decken / die Seele zentnerschwer ...“
Also, die Deutschen sind erwacht — ich kann das nun wieder laut sagen — und haben bemerkt, es ist wieder wie früher. Einige zumindest. Ganz und gar wie damals. Aber zum Glück war es auch damals nicht so und alle bloß gezwungen und am Ende ein Großteil höflich und bestimmt nicht krank oder sexuell abartig und für den Fortschritt sowieso und also bestimmt schon damals im Grunde nicht faschistisch. Haben ja auch alle gesagt nach dem Krieg.
Und so kann ich euch zum Ende dieser Gute-Nacht-Geschichte beruhigen, Kinder, und sagen, es ist nicht wieder der Faschismus heute, ganz bestimmt nicht. Den Faschismus gab es nämlich nie. Manchmal genervt, manchmal höflich: Das war alles. Und dass an Selenskyj diese Abzeichen hängen würden von damals: Das ist die Propaganda des Russen.
Was aber mit den Schildbürgern geschehen ist, Kinder, ich will euch nun doch sagen, was mir zu Ohren gekommen ist: Sie seien untergegangen. Aber sie hätten es nicht bemerkt.