Die Tyrannei des Quantitativen
Zahlen und Daten bestimmen inzwischen den Alltag vieler Menschen — auch unfreiwillig. Ein Essay über das numerische Denken.
„Daten sind das neue Gold“, so heißt es seit Jahren. Dieser Spruch gilt nicht nur deshalb, weil einige Tech-Konzerne wie etwa Facebook Unsummen vermittels personalisierter Werbung verdienen, die auf Nutzerdatensätzen beruht. Er gilt auch, weil Daten inzwischen zum Goldstandard in der öffentlichen Debatte geworden sind. Und damit einher geht ihre Instrumentalisierung für private oder politische Interessen. Ob Coronakrise, Gesundheitsapps oder Bildungstrends: Bis in die privatesten Lebensbereiche hinein bestimmen Zahlen und Daten zusehends den Alltag der Menschen. Ihre Wirkkraft ziehen sie aus dem Anspruch, mit naturwissenschaftlicher Detailschärfe die Welt operationalisieren, also objektiv messen zu wollen. Doch wie die vergangenen Jahre überdeutlich gezeigt haben, gerät dabei schnell aus dem Blick, was tatsächlich gesund, vorteilhaft oder effizient wäre. Ein Essay über die Macht der Zahlen — und ihre Grenzen.
Wir schreiben den 8. November 2021: In der ARD-Sendung „Anne Will“ behauptet der erzürnte Vorsitzende des Weltärztebundes, Prof. Frank Ulrich Montgomery, die Gesellschaft erlebe derzeit eine „Tyrannei der Ungeimpften“. All jene, die sich gegen eine Corona-Impfung entschieden hatten, trügen seiner Auffassung nach Schuld daran, dass Klinikpersonal überlastet sei, Menschen unnötig sterben würden und politische Maßnahmen nicht gelockert werden könnten.
Mit dieser Auffassung steht Montgomery zu diesem Zeitpunkt nicht alleine da. Unzählige Spitzenpolitiker stoßen in dasselbe Horn. Sätze wie: „Ihr seid jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben“ (Tobias Hans, CDU), „Ungeimpfte dürfen nicht als Minderheit die Mehrheit terrorisieren“ (Strack Zimmermann, FDP) oder „Das Infektionsgeschehen rührt von den Ungeimpften her“ (Olaf Scholz, SPD) sind fortan salonfähig und stellen eine Menschengruppe, die zu diesem Zeitpunkt knapp 30 Prozent der Bevölkerung ausmacht, unter Generalverdacht.
Nach Begründungen befragt, wurden die zitierten Akteure nicht müde, einschlägiges Zahlenmaterial zu liefern. Dieses sollte als unumstößlicher Beweis dafür dienen, warum Aussagen, die in anderen Kontexten durchaus den Tatbestand der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit erfüllen würden, in der pandemischen Lage als „richtig und wichtig“ interpretiert wurden. Dieses Muster — also mit Zahlen verbale Entgleisungen aller Art und autoritäre Eingriffe in die Lebensführung der Bürger zu begründen — zog sich wie ein roter Faden durch die Debatten der Coronajahre. Impfquoten, Infektionszahlen, Bettenauslastungen – es waren statistische Werte, die den beteiligten Akteuren im Kampf um die Deutungshoheit als Munition dienten.
Und nicht selten waren diejenigen, die es verstanden, den Zahlen ihr maximales Schockpotenzial zu extrahieren und es entsprechend zu kommunizieren, auch jene, die fortan den politischen (Dis-)Kurs bestimmten.
Dies gilt übrigens für beide Seiten. Auch so mancher Coronamaßnahmenkritiker bediente sich dieser Technik und bauschte so zum Beispiel besorgniserregende Statistiken zu Impfnebenwirkungen zu einem vorgeblichen Beweis dafür auf, dass man es bei den neuartigen mRNA-Präparaten mit „Massenvernichtungswaffen“ zu tun hätte.
Dieser Missstand — also Zahlen in den Dienst eines wie auch immer gearteten „höheren Ziels“ beziehungsweise einer politischen Agenda zu stellen — ist das Ergebnis einer subtilen Gewaltherrschaft, die im Folgenden, in Anlehnung an Prof. Montgomery, als „Tyrannei des Quantitativen“ bezeichnet werden soll. Wichtig ist allerdings, festzuhalten, dass es sich dabei keineswegs um ein neues Phänomen handelt. Denn wie bereits vielfach beschrieben, wirkte die Coronakrise wie ein Brennglas, das gesellschaftliche Probleme für jeden sichtbar offenlegte und akzentuierte. Doch während längst überfällige Debatten, etwa über den Pflegenotstand, langsam Platz greifen, hält sich die Kontroverse über die Rolle, die Zahlen in unserer Gesellschaft einnehmen, weitgehend in Grenzen.
Zugegeben: Das Thema ist eher abstrakt und philosophisch und eignet sich damit nur bedingt, um in der sogenannten medialen „Aufmerksamkeitsökonomie“ Quote zu machen. Doch bereits der journalistische Zwang, Klicks, Views und Likes generieren zu müssen, welche wiederum nur allzu häufig unbewusst von Quantitäts- zu Qualitätsmerkmalen umgedeutet werden, zeigt, wie tiefgreifend der Einfluss der Zahl auf menschliches Verhalten und Erleben ist.
Der Titel „Tyrannei des Quantitativen“ impliziert, dass Zahlen und Daten per se etwas Schlechtes wären. Er könnte gar den Eindruck erwecken, als wären sie so etwas wie eine Inkarnation des Bösen. Als wären sie es, die uns — frei nach dem Motto „Traue keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast“ — manipulieren, ja tyrannisieren würden. Doch so ist das nicht gemeint. Es soll im Folgenden nicht darum gehen, den Daten ihr Existenzrecht abzusprechen. Ebenso wenig ist es das Ziel, darauf hinzuwirken, dass Zahlen bei politischen und privaten Entscheidungsfindungen keine Rolle mehr spielen. Vielmehr soll anhand aktueller Beispiele aus den Bereichen Gesundheit und Bildung der gesellschaftliche Umgang mit dem Werkzeug Zahl reflektiert werden.
Es geht also gewissermaßen darum, sich folgende Fragen zu stellen: Wird der Hammer wirklich noch dazu verwendet, um Nägel in die Wand zu schlagen? Oder ist er nicht vielmehr seit geraumer Zeit einer Zweckentfremdung zum Opfer gefallen?
Und was folgt daraus, wenn dem so ist? Denn auch wenn diese Erkenntnis gerade für die besonders Zahlenaffinen unter uns durchaus schmerzvoll sein könnte, so birgt sie doch die Chance, dem Gegenpol des Quantitativen wieder den Platz in unser aller Leben einzuräumen, der ihm eigentlich zusteht. Etwas, das paradoxerweise auch dem Ruf der Zahlen zuträglich wäre.
Zahlen — Wozu eigentlich?
Zahlen und Mathematik haben unseren Alltag so dermaßen durchdrungen, dass die Frage, wozu wir uns ihrer bedienen, fast lächerlich erscheint. Es gibt schlicht und ergreifend keinen Lebensbereich, in dem Phänomene sich nicht mit Hilfe von Zahlen untersuchen, berechnen oder beschreiben ließen. Selbst qualitative Eigenschaften wie etwa Farben, Gerüche oder Gefühle können bis zu einem gewissen Punkt quantifiziert werden. So gibt es beispielsweise in der Psychologie Versuche, die Intensität von Emotionen durch physiologische Messungen — unter anderem der Hautleitfähigkeit — in Zahlen abzubilden. Insofern könnte man Pythagoras Recht geben, der seine Weltanschauung einmal in dem Ausspruch „Alles ist Zahl!“ auf den Punkt gebracht haben soll.
Zweifellos gehören Zahlen zu den höchsten kulturellen Gütern, die die Menschheit hervorgebracht hat. Sie ermöglichen das Definieren von Größenbereichen, die Durchführung von Messungen zur Bestimmung von Größen sowie die Darstellung von Ordnungsrelationen. Zahlen sind also — in erster Linie — ein Werkzeug zur Vermessung der Welt.
Die Welt wird somit handhabbarer und verliert gleichsam ein Stück weit an Schrecken. Wo zuvor ein Gefühl des Ausgeliefert-Seins vorherrschte, eröffnen sich plötzlich Gestaltungsspielräume. Wo zuvor auf eine „Gnade der Götter“ gehofft werden musste, kann fortan mit Hilfe der „Königin der Wissenschaften“ Einfluss genommen werden auf das kosmische Spiel. Und zugegebenermaßen greift selbst dieser Versuch einer allgemeinen Beschreibung dessen, wozu Zahlen in der Lage sind, noch viel zu kurz, um die ihnen zu Grunde liegende „Sprache“ in Gänze zu beschreiben.
Das Problem
Wie um alles in der Welt kommt man angesichts dessen also auf die Idee, Kritik an einem Instrument zu äußern, das unser modernes Leben in weiten Teilen erst möglich gemacht hat?
Um eines vorwegzunehmen: Der Reiz, die Natur womöglich bis ins letzte Fraktal hinein vermessen zu wollen, soll an dieser Stelle nicht in Frage gestellt werden.
Ein gewichtiges Problem unserer Zeit besteht vielmehr darin, dass mit dem Fortschreiten der Wissenschaften — manche würden sagen: mit ihrem Erheben zur Ersatzreligion – und dem damit verbundenen Ausdifferenzieren ihres Messinventariums ein regelrechter Kontrollwahn entstanden ist.
Die Gesellschaft bewegt sich zusehends in eine Richtung, in der sie den Ausschnitt, den sie mit ihren Messinstrumenten zu quantifizieren vermag, als hinreichend ansieht, um mit ihm die durch die Messung untersuchten Begriffe mit Inhalt zu füllen. Das mag bei Untersuchungen der Körpergröße sicherlich unproblematisch sein.
Geht es allerdings um komplexe, vielschichtige Begriffe, birgt dies die Gefahr, „am Leben vorbeizumessen“. So vermisst man sich auf vermessene Weise beim Vermessen der Welt. Denn das Leben wird stets mehr sein als die Summe unserer unternommenen Messversuche. Wenn dann das Leben den Messresultaten untergeordnet wird, ist ein gesellschaftlicher Irrweg beschritten, der zwangsläufig in einer Sackgasse münden muss. Wie solche Sackgassen aussehen können, soll nachfolgend anhand zweier aktueller Beispiele skizziert werden.
Inzidenzen und das gesellschaftliche Leben
In den Jahren der Coronakrise wurden allerlei Messinstrumente aus dem Boden gestampft, mit deren Hilfe die Gefahrenlage im Hinblick auf die Virenverbreitung besser eingeschätzt werden sollte. Zunächst wurde der R-Wert geschaffen, anschließend die Inzidenzen und schließlich die Impfquote. Zu guter Letzt wurden einige Werte auch gekoppelt. Allen Werten war gemein, dass mitunter das gesamte gesellschaftliche Leben an sie gebunden war.
So war im Frühjahr 2020 ein Beenden des Lockdowns an die Bedingung geknüpft, dass die sogenannte „Reproduktionsrate“ längerfristig unter dem Wert 1 liegen musste. Im Winter 2021 wurden dann „Lockerungen“ — also das Ermöglichen eines einigermaßen normalen gesellschaftlichen Lebens — an die Erreichung eines Inzidenzwertes von 35 gebunden. Schließlich wurden Inzidenzen und Impfquoten miteinander verwoben, sodass genannte Lockerungen sowohl an Inzidenzwerte als auch an die Bedingung, geimpft zu sein, geknüpft waren.
Da der menschliche Geist auf das Verdrängen und Vergessen unliebsamer Erinnerungen spezialisiert ist, hier nochmals eine kurze Erinnerung daran, was das — unter anderem — konkret bedeuten konnte: Ob Kinder — mit oder ohne Masken — die Schule besuchen durften oder nicht, war an die Inzidenz gebunden. Ob Menschen ihre Freunde und Verwandten besuchen durften oder nicht, war an die Inzidenz gebunden. Ob es möglich war, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in Anspruch zu nehmen oder nicht, war an die Inzidenz gebunden. Diese Liste ließe sich noch um unzählige Punkte erweitern.
Der springende Punkt dabei ist jedoch, dass die Inzidenz vordergründig als Messinstrument dafür vorgestellt wurde, wie viele Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner es in einem Zeitraum von sieben Tagen gab.
Doch mit ihrer Verankerung im Infektionsschutzgesetz war die Inzidenz plötzlich viel mehr als das. Sie war fortan zum zentralen Indikator dafür geworden, ob in Deutschland ein normales gesellschaftliches Leben möglich ist.
Das blieb sie auch noch lange — selbst dann noch, als sich weitgehend herumgesprochen hatte, dass aufgrund der Art und Weise, wie die Inzidenz bestimmt wurde (Stichwort: nichterfasste Testzahlen), ihre Aussagekraft, selbst in Bezug auf das Infektionsgeschehen, mehr als dürftig war (1). Die unten aufgeführte Tabelle soll deshalb einen Einblick in die zahlreichen blinden Flecken der Inzidenzen geben. Sie zeigt, wie durch die einseitige Fixierung auf diesen Wert am Leben vorbeigemessen wurde. Es war, als hätte man mit einem Fieberthermometer das Klima messen wollen.
In Anbetracht dessen, welche Bedeutung die Inzidenz für das Leben von 83 Millionen Deutschen während der Coronajahre erlangen konnte, erscheint es verwunderlich, wie schnell sie wieder in Vergessenheit geraten konnte. Dass es einmal eine Zeit gab, in der die Erlaubnis dafür, ob sich ein Mensch nach 21 Uhr alleine (!) an der frischen Luft aufhalten durfte, von genau dieser Zahl abhing, scheint seit der Aufhebung aller Maßnahmen kaum noch von Interesse. Dabei ist die Inzidenz ein Musterbeispiel dafür, wie im Nebel der Zahlenfixierung ein Tunnelblick entsteht, der eine ganzheitliche Sicht auf ein Phänomen verunmöglicht. Eine kritische Reflexion des Umgangs mit eben jenem Messinstrument ist deshalb überfällig — vor allem im Hinblick auf weitere gesellschaftliche Herausforderungen, bei denen ein solcher Zahlennebel ebenfalls im Entstehen begriffen ist. Zum Beispiel im Bildungsbereich.
PISA und die Bildung
Pünktlich zum Jahresabschluss 2023 erreichte die Bevölkerung in Deutschland eine ganz besondere Hiobsbotschaft: Im internationalen Leistungsvergleich PISA schnitten die deutschen Schülerinnen und Schüler so schlecht ab wie nie (2). PISA testet die Kompetenzen von 15-jährigen Jugendlichen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Zwar verschlechterten sich die Ergebnisse der meisten teilnehmenden Staaten im Vergleich zur letzten Studie im Jahr 2018, doch waren die Einbußen in Deutschland überdurchschnittlich groß.
Nach dem ersten „PISA-Schock“ im Jahr 2000 steht Deutschland, 23 Jahre später, ergebnistechnisch nun also schlechter da als je zuvor. Auch wenn die Ursachen hierfür mannigfaltig sind — die Folgen einer einseitigen Inzidenzpolitik wurden bereits angerissen — ist dies doch überraschend. Schließlich hatte es im Bildungsbereich noch nie eine Studie gegeben, deren Ergebnisse einer derart breiten öffentlichen Diskussion unterzogen wurden wie PISA 2000. Und schließlich gab es in den letzten Jahren nur wenige Studien, deren Ergebnisse derart tiefgreifende Transformationsprozesse in den internationalen Bildungssystemen auslösten wie PISA.
Gerade Deutschland reagierte auf die PISA-Ergebnisse 2000 mit zahlreichen Reformen. Im Kern ging es dabei vor allem um die Einführung sogenannter Bildungsstandards. Der in diesem Kontext oft zitierte Bildungsforscher Eckhard Klieme beschreibt diese als „Kompetenzen, die Kinder oder Jugendliche bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe mindestens erworben haben sollen“. Dabei sei wichtig, dass „diese Kompetenzen so konkret beschrieben werden, dass sie in Aufgabenstellungen umgesetzt und prinzipiell mit Hilfe von Testverfahren erfasst werden können“ (3).
In Fachkreisen spricht man in diesem Zusammenhang vom Wandel „weg von der Input- und hin zur Output-Orientierung“. Um es in den Worten von Altkanzler Kohl auszudrücken: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“ Dabei wird gerne auch auf Industrie und Wirtschaft verwiesen, wo Qualitätsmanagement schon lange eine zentrale Rolle spielt. Wenn es um die Schüler geht, fallen dann gerne Begriffe wie „Kundenorientierung“, während die Bildungsstätten mit „Dienstleistungsbetrieben“ verglichen werden“ (4). Wörter, die seltsam betriebswirtschaftlich anmuten. Das Ziel hinter der neuerlichen Betonung von Kompetenzen ist, das abstrakte Konstrukt „Bildung“ empirisch greifbar zu machen, um so eine internationale Vergleichbarkeit zu ermöglichen.
Doch was sind überhaupt Kompetenzen? Der Psychologe Franz E. Weinert lieferte in einem Gutachten für die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eine Definition, auf die sich aktuelle Bildungsreformen in Deutschland maßgeblich stützen. Weinert beschreibt Kompetenzen als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernten kognitiven Fähigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (5). Eine relativ weitläufige Definition also.
Zunächst darf an dieser Stelle die Frage gestellt werden, inwiefern der empirisch ungreifbare Begriff der Bildung durch diesen Kompetenzbegriff nun „mit Hilfe von Testverfahren“ an Überprüfbarkeit gewinnt. Denn anhand welchen schulischen Messverfahrens möchte man objektiv die Motivation eines Schülers messen? Welches Testverfahren wird genutzt, um zu messen, inwiefern es Schülern gelingt, ihre Gedanken und Emotionen zu steuern, um Ziele zu erreichen (Volition)?
Auffällig an dieser Definition ist zudem die völlige Abwesenheit von Werten und Einstellungen. Es ist lediglich von „Problemlösungen in variablen Situationen“ die Rede. Probleme gibt es aber in allerlei Kontexten – so zum Beispiel im kriminellen Milieu. Erwirbt ein Mensch während seiner Schullaufbahn also Sozialkompetenzen, die er variabel und hochmotiviert auf die vielfältigen Probleme in der Unterwelt anwendet, kann man — der Kompetenzorientierung folgend — von gelungener Bildung sprechen.
Dagegen liegt etwa der bayerischen Verfassung das Ziel zugrunde: „Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden“ (6). Von diesem Bildungsbegriff bleiben allenfalls Restfragmente übrig.
Hinzu kommt, dass der PISA-Test ganz in der Tradition des Bereichs, aus dem er stammt — der Wirtschaft — operationalisiert wurde. Sprich: möglichst kosteneffizient. Zur Messung bedient man sich standardmäßig des Multiple-Choice-Formats. Jeder, der dieses Prüfungsformat schon einmal durchlaufen hat, weiß, dass das erzielte Ergebnis für abstrakte Konstrukte wie „Lesekompetenz“ bestenfalls als mittelmäßiger Indikator herhalten kann. Zu hoch ist das Risiko des Ratemalens und zu eng das Antwortenkorsett, um nuanciertes Antworten auf komplexe Fragestellungen — wie sie das Leben oftmals bereitstellt — zu ermöglichen. Die Kompetenz eines Schülers im Sinne der oben angeführten Definition von Weinert kann infolge eines PISA-Tests allenfalls vermutet werden.
Nichtsdestotrotz hat der PISA-Test es geschafft, politische Entscheidungsträger weltweit vor den eigenen Karren zu spannen. Allerortens werden die Bildungssysteme mit einem Eifer umgestellt, dass man meinen könnte, die OECD vergebe dafür Fleißsternchen. Der damit einhergehende Souveränitätsverlust wird billigend in Kauf genommen. Die Logik dahinter ist verblüffend simpel: Einem Politiker, der an der Rankingplatzierung seines Landes herumwerkelt, kann zumindest keine Untätigkeit vorgeworfen werden.
Es gilt dasselbe Prinzip wie beim Thema Inzidenzen: Man verdichte ein hochkomplexes Phänomen auf einen einzigen Größenbereich und richte fortan sein gesamtes Handeln auf die Optimierung der gemessenen Größen. Dass es oftmals gerade die drängendsten Probleme — wie die Behebung des Lehrermangels – sind, die dabei hinten runterfallen, ist zwar allen irgendwie bewusst, doch die Ergebnismakulatur entfaltet eine gerade ausreichend narkotische Wirkung, dass die Betroffenen jede noch so große Entwürdigung einfach runterschlucken. Den aufgestauten Frust bekommen dann eben die Kinder zu spüren.
In Bayern sind unlängst Musik-, Kunst- und Englischunterricht dem PISA-Wahn zum Opfer gefallen (7). Stattdessen sollen Deutsch und Mathe gepaukt werden, in der Hoffnung, dass dadurch die Grundschüler endlich wieder bessere Testergebnisse produzieren. Die Tatsache, dass die Ergebnisse nicht besser werden, obgleich es kaum eine Grundschule gibt, die nicht seit Jahren an einem der unzähligen Leseprogramme teilnimmt, scheint jedoch nicht Warnsignal genug, um den eingeschlagenen Kurs zu hinterfragen. Quantität schlägt Qualität. So zumindest die Vorstellung derer, die beharrlich am relativ einfältigen „Erfolgsrezept“ des digitalen Zeitgeistes festhalten wollen.
Doch was sind die Alternativen? Sollen wir es einfach so hinnehmen, wenn die heranwachsenden Generationen zusehends um die Chance auf eine erfolgreiche Zukunft gebracht werden? Sollen wir das Risiko eingehen, dass unsere Schülerinnen und Schüler im internationalen Wettbewerb „den Anschluss verlieren“? Natürlich nicht. Doch wir sollten uns die Frage stellen, an welchem Wettbewerb wir hier überhaupt teilnehmen.
Handelt es sich nicht, bildlich gesprochen, um einen Wettbewerb, der vorgibt, Fußball zu sein, in Wirklichkeit aber lediglich die Fähigkeit misst, Querpässe zu schlagen?
Und wollen wir uns überhaupt mit der chinesischen Sonderverwaltungszone „Macau“ (8) in diesem merkwürdigen Wettbewerb vergleichen? Geht das überhaupt? Kann man die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen dort und in Deutschland „auf einen Nenner“ bringen?
Die Alternative zu hysteriegetriebenen PISA-Reformen wäre, sich die Definitionshoheit über den Bildungsbegriff einfach von der OECD zurückzuholen. Dann könnte gelungene Bildung plötzlich wieder mehr sein als das Verzeichnen kollektiver Erfolge im Multiple-Choice-Setting. Dafür müsste auch niemand das Rad neu erfinden. Es würde schon reichen, sich auf das Denken einflussreicher Reformer wie etwa Wilhelm von Humboldt zu besinnen, es weiterzuentwickeln und auf die aktuelle Zeit zu übertragen. Einziges Manko: Der dabei anvisierte „Output“— die Ausbildung von Herz und Verstand — lässt sich nur bedingt planen und noch weniger in Gänze empirisch greifen.
Dieses scheinbare Dilemma löst sich jedoch in dem Moment auf, in dem man sich von der „Output-Orientierung“ abwendet — hin zu einer Prozessorientierung. Konkret würde das etwa bedeuten, dass Lehrer nicht einfach Vielleseverfahren durchführen, sondern Überlegungen anstellen, was sie tun können, damit das Lesen eine möglichst begehrenswerte Erfahrung für die Schüler wird. Denn wenn Kinder das Lesen — im weiteren Sinne: das Lernen — erst einmal lieben gelernt haben, wird man sich um den Output nicht weiter Sorgen machen müssen.
Bildung ist kein linearer Prozess. Schon deshalb sind Bildungsstandards ein Widerspruch in sich. Menschen hatten schon immer unterschiedliche Geschwindigkeiten. Von daher müsste sich die Schule in ihrem Wesen den Menschen annähern und nicht versuchen, den Menschen in eine ertestete Wirklichkeit zu pressen. Womit wir auch wieder beim Ausgangspunkt angelangt wären — nämlich bei der Frage des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Werkzeug Zahl.
Ausblick
Der Mensch hat die Zahlen geschaffen, um mit ihrer Hilfe die Realität handhabbarer werden zu lassen. Dabei ist allerdings in Vergessenheit geraten, dass Zahlen nicht nur ein abstraktes Abbild der Realität darstellen, sondern im Zuge eben jener Abstraktion eine neue, eigene, komplexitätsreduzierte Wirklichkeit kreieren. Dieser Vorgang an sich ist weder positiv noch negativ zu beurteilen.
Problematisch wird es dann, wenn das passiert, was der Bildungsphilosoph Matthias Burchardt in einem Interview treffend als „die Errichtung eines Regimes von Zahlen über die Wirklichkeit“ beschrieben hat. Dieses Regime äußere sich darin, dass „der Handlungsraum von Politik sich nicht mehr auf die Wirklichkeit, sondern die Veränderung der Zahlen“ richte (9). Das bringt die Essenz dessen, was dieser Artikel zu zeigen versucht, präzise auf den Punkt.
Wenn also Zahlen zur Problembeschreibung und -lösung herangezogen werden, kann es mitunter hilfreich sein, sich die Frage zu stellen, welcher Begriff hier gerade einer Verdatung unterzogen wurde und nun im quantifizierten Gewand daherkommt. Geht es um Temperatur oder um „das Klima“? Geht es um Frauen- beziehungsweise Männerquoten oder um „Gleichberechtigung“? Um Blutzuckerwerte oder um „Gesundheit“? Ist diese Frage einmal beantwortet, kann man sich dem zuwenden, was im Zuge der Quantifizierung links liegen gelassen wurde. Vielleicht weil es schwer messbar ist, vielleicht aber auch, weil es Rückschlüsse auf Kämpfe um Deutungshoheiten erlauben würde. Denn wer die Assoziationen bestimmt, die bei Begrifflichkeiten wie „Bildung“, „Gesundheit“ oder auch „gesundem Wirtschaften“ im kollektiven Bewusstsein auftauchen, übt unweigerlich einen gewaltigen Einfluss auf das Verhalten von Menschen aus.
Von daher gilt es, zu guter Letzt, sich denjenigen zuzuwenden, deren Zahlen und Größenbereiche den größten gesellschaftlichen Einfluss zu entfalten vermögen. Diese Akteure sind mannigfaltig und reichen von Gesundheitsministerien über Wirtschaftsverbände bis hin zu Rating-Agenturen. Eine aufgeklärte Öffentlichkeit sollte von ihren Entscheidungsträgern in Zukunft stets verlangen, die numerischen Verlautbarungen solcher Institutionen in einen breiteren Kontext zu setzen.
Damit ist es jedoch noch nicht getan. Die „Tyrannei des Quantitativen“ beschränkt sich schließlich längst nicht mehr auf voneinander abgetrennte politische Bereiche, sondern greift inzwischen tief in das Private ein. Besonders gut veranschaulichen lässt sich dies anhand von Gesundheits-Apps, mit deren Hilfe sich etwa der Schlaf tracken, analysieren und optimieren lässt.
Das Wertvolle an diesen Apps liegt neben der Bereitstellung von Daten, mit denen wir tatsächlich unsere Gesundheit verbessern können, gerade darin, dass an ihnen die Grenzen der Quantifizierung besonders erfahrbar werden. Dies ist immer dann der Fall, wenn zwischen scheinbar objektiven Daten und subjektivem Empfinden eine tiefe Lücke klafft. Wenn also beispielsweise trotz einer gemessenen „Schlafqualität“ von 100 Prozent der Tag von bleierner Müdigkeit geprägt ist. Oder wenn Joggen zusehends zur Arbeit verkommt, weil es nur noch darum geht, die eigene Bestmarke zu überbieten. Oder — auf einer anderen Ebene — wenn die aus Likes und Follower-Zahlen unbewusst abgeleitete soziale Wertigkeit eines Menschen und deren realer Charakter kaum in Einklang zu bringen sind.
In einer numerokratischen (10), durchdigitalisierten Gesellschaft sind alle Versuche, sich der analogen und digitalen Quantifizierung des Seins in Gänze zu entziehen, zum Scheitern verurteilt. Zu fortgeschritten ist der Prozess und zu stark wiegen die Vorteile der diversen Vermessungspraktiken.
Vielmehr ist es die Aufgabe jedes Einzelnen, sich zu fragen, wo und in welchem Ausmaß er oder sie bereit ist, das Leben einer metrischen Logik zu unterziehen. Denn wer sich unhinterfragt dem Kult des Allesmessens anschließt, zahlt einen hohen Preis. Einen Preis, den der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch „Unverfügbarkeit“ als den Verlust von Resonanzfähigkeit mit der Welt beschrieben hat (11). Auch in der Bibel gibt es ein Zitat, das man durch diese Brille lesen könnte: „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt?“ (12)