Die Tradition der Russenfeindlichkeit

Im Ukrainekonflikt setzen das globalistische Großkapital, sein bewaffneter Arm NATO und seine medialen Lakaien ein altes Erbe antirussischer Hetze fort.

Antirussische Stimmungsmache hat im deutschsprachigen und angelsächsischen Raum eine lange Tradition. Sie hat imperialistische und geopolitische Wurzeln und zieht sich vom 19. Jahrhundert über die NS-Politik bis zum Kalten Krieg. Darauf baut die aktuelle Propaganda der NATO und des medialen Mainstreams auf. Egal wie man sich im Detail zum Ukrainekonflikt positioniert, sollte man diese Ebene nicht aus dem Blick verlieren.

In den hundert Jahren zwischen dem Wiener Kongress und dem Ersten Weltkrieg galt der russische Zarismus als Hort der Reaktion in Europa. Auch Karl Marx und Friedrich Engels sahen das so und diese Sicht war schließlich in der europäischen Sozialdemokratie weit verbreitet. Sie hatte ja auch eine reale Basis nicht nur im autoritären Herrschaftssystem der Zaren, sondern auch in den ökonomischen und kulturellen Verhältnissen des damaligen Russlands.

Britische Russenfeindlichkeit

In England entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine Russenfeindlichkeit, die in den Interessen des britischen Imperialismus ihre Grundlage hatte. Dabei ging es um Konflikte mit Russland um Einflussgebiete in Zentralasien und Persien. Dazu kam der Krimkrieg von 1853 bis 56, in dem Großbritannien an osmanischer Seite gegen Russland antrat und der in der britischen Öffentlichkeit zu massiver Hetze gegen „die Russen“ benutzt wurde. Und schließlich führte die Ausgleichspolitik des deutschen Kanzlers Otto von Bismarck gegenüber Russland, die im „Rückversicherungsvertrag“ von 1887 zum Ausdruck kam, zu Beunruhigung bei den Spitzen des Empires und zu einer Erneuerung der antirussischen Stimmungen.

Bereits 1904 theoretisierte der englische Geograf Harold Mackinder die britische Geopolitik mit seinem „Heartland-Konzept“. Er betonte dabei die Bedeutung von Geografie, Technik, Wirtschaft, Industrie sowie Rohstoff- und Bevölkerungsressourcen für eine vergleichende Bewertung von Landmacht und Seemacht. Sein Kerngedanke war: Wer die eurasische Landmasse beherrscht, beherrscht die Welt. Die „Seemächte“, also Großbritannien und die USA, müssen um jeden Preis ein Bündnis zwischen Deutschland und Russland verhindern.

Aber auch der deutsche und österreichische Imperialismus entwickelten eine antirussische Richtung. Bismarcks Nachfolger waren geopolitisch weniger weitsichtig als der berühmte Kanzler, erneuerten den Rückversicherungsvertrag nicht und setzen auf eine wahnwitzige „Politik der Stärke“ gegen alle, die auch eine Expansion in Osteuropa im Visier hatte. Und aus der Konkurrenz mit Russland in Südosteuropa und gegen den russischen Panslawismus entstand bei der Führung Österreich-Ungarns eine antirussische Politik, die beispielsweise gezielt die Herausbildung eines ukrainischen Nationalismus in Galizien förderte. Beim österreichischen Deutschnationalismus hingegen dominierte noch bis in die Zeit Jörg Haiders eine allgemeine antislawische Haltung.

Vom Weltkrieg nach Rapallo

Die bereits vorhandenen russenfeindlichen Stimmungen ermöglichten es dem deutschen Imperialismus 1914, den Krieg gegen Russland als Kampf der europäischen Zivilisation gegen die östliche Barbarei zu verkaufen. Deutsche und österreichische Soldaten wurden mit Parolen wie „jeder Schuss ein Russ“ in den Krieg gehetzt. Und die deutsche Führung versuchte auch, die baltischen Völker und die Ukrainer — auf der Grundlage ihrer langen Diskriminierung unter der zaristischen Herrschaft — gegen Russland zu instrumentalisieren. Das kam insbesondere im Separatfrieden von Brest-Litowsk zum Ausdruck, den Deutschland im März 1918 dem revolutionären Russland diktierte.

Mit der russischen Revolution 1917 änderte sich das westliche Bild von Russland teilweise. Zumindest Teilen der Arbeiterbewegung galt es als Speerspitze der Revolution. Und in Deutschland suchten bürgerliche und rechte Kräfte, unterstützt von den Kommunisten, nach dem Diktatfrieden von Versailles einen Ausweg aus der internationalen Isolation und eine Verständigung mit der Sowjetunion, was schließlich 1922 zum Vertrag von Rapallo führte, der wirtschaftliche und militärische Kooperation vorsah und der die westlichen Imperialismen alarmierte.

Auf der anderen Seite kombinierte sich in bedeutenden Teilen der rechten imperialistischen Führungen eine antirussische Haltung nun mit einer antikommunistischen. Das galt in Deutschland besonders für die NSDAP Adolf Hitlers, der auf die antislawische Feindseligkeit des österreichischen Deutschnationalismus aufbaute, den Vertrag von Rapallo rabiat ablehnte, die Russen als „Untermenschen“ kategorisierte und Osteuropa als Hauptexpansionsziel anvisierte.

Das galt aber auch für gute Teile der britischen Eliten, etwa im Königshaus, die die Sowjetunion als Hauptfeind ansahen, eine deutsch-russische Verständigung fürchteten und gewissen Sympathien für die Nazis hegten, weil diese die kommunistische Bewegung in Deutschland zerschlagen hatten und die Garanten für deutsch-russischen Konflikt waren. Dass einige westliche Großindustrielle — etwa die Eigentümer von Ford, Shell und IBM — sowie Banken bei der Finanzierung der NSDAP halfen, könnte durchaus auch mit solchen geopolitischen Motiven verbunden gewesen sein (1).

Von den Nazis zum Kalten Krieg

Der Höhepunkt westlicher Russenfeindschaft war dann die Vernichtungspolitik der Nazis in den besetzten Gebieten der Sowjetunion. In NS-Lagern wurden — gerechtfertigt durch das rassistische „Untermenschen“-Konzept — mindestens vier Millionen russische Kriegsgefangene ermordet und wohl etwa zehn Millionen russische Zivilisten auf verschiedene Arten ums Leben gebracht. Gleichzeitig meldeten sich 84.000 Ukrainer für den Dienst in der SS, 110.000 Letten und 70.000 Esten kämpften in verschiedenen NS-Verbänden gegen die Rote Armee.

In der Ukraine kam dazu der militärische Flügel (UPA) von Stepan Banderas ukrainisch nationalistischer OUN, der sich nicht direkt den Nazis unterstellte, aber mit ihnen gegen die Sowjets kollaborierte. Nach dem Weltkrieg setzte die UPA ihren antirussischen Kampf fort, 1945 bis 1946 gelang es ihr, die westliche Hälfte der Ukraine unter ihre Kontrolle zu bringen, maßgeblich unterstützt durch den CIA und andere US-Strukturen. Erst 1950 waren sie besiegt.

Mit dem Beginn des Kalten Krieges wurden im Westen erneut antirussische Stimmungen gepusht, von Politikern, Medien und Hollywoodfilmen antirussische Stereotypen verbreitet, Russland zum großen Feindbild der „Freien Welt“ gemacht.

In Deutschland und Österreich konnte dieses Bild zusätzlich auf zwei Dinge aufbauen, nämlich auf die Übergriffe sowjetischer Soldaten auf die Zivilbevölkerung 1945 und auf die jahrelange antirussische Hetze der Nazis.

Jedenfalls wurde in den NATO-Staaten und auch in anderen westlichen Ländern jahrzehntelang das Bild von finsteren, verschlagenen, böswilligen und kriegstreibenden Russen in allen Farben gemalt. Die NATO und die USA hingegen, die in Wahrheit jeden Aufrüstungsschub begannen und die meisten Kriege führten, wurden als friedens- und freiheitsliebend verklärt. Mit der Unterstützung von islamistisch-reaktionären Freischärlern gegen eine vergleichsweise moderne Regierung in Afghanistan gelang es den USA, die verhassten Russen in eine Falle zu locken und den Untergang der Sowjetunion einzuläuten.

Von Jelzin zu Putin

Ein positives Bild Russlands gestaltete der westliche Mainstream nur in der Phase, als die russische Führung unter Michail Gorbatschow (1985 bis 91) und insbesondere unter dem alkoholkranken Boris Jelzin (1991 bis 99) vor der NATO kapitulierte, die russische Wirtschaft dem Zugriff der westlichen Banken und Konzerne bereitwillig auslieferte und bereit war, Russland dem US-Imperium unterzuordnen. Merke: Nur ein unterworfenes Russland ist ein gutes Russland.

Als Wladimir Putin ab 1999 begann, den zerfallenden russischen Staat wieder zu stabilisieren, die Wirtschaft zu kontrollieren, ernsthaft Konzernsteuern einzutreiben und Löhne wieder zu erhöhen sowie in der internationalen Politik russische Interessen zu definieren, änderte sich die gemachte Stimmung im Westen rasch wieder. Als auch noch der deutsche Kanzler Gerhard Schröder, in der Tradition von Bismarck, eine Annäherung mit Russland suchte, war bei den angelsächsischen „Seemächten“ Feuer am Dach.

Auch die deutschsprachigen Mainstream-Medien, die durch verschiedenste Verflechtungen mit transatlantischen Netzwerken der NATO verpflichtet sind, trugen dem mit zunehmend antirussischer veröffentlichter Meinung Rechnung. Schließlich bilanzierte George Friedman, der Chef des CIA-nahen Informationsdiensts Stratfor, im Jahr 2015: Das Ziel der US-Politik seit 100 Jahren sei die Verhinderung eines Bündnisses zwischen Deutschland und Russland, zwischen deutscher Technologie und russischen Ressourcen, weil das die einzige Gefahr für die US-Vorherrschaft darstelle.

Von der Ukraine nach Syrien und retour

Dementsprechend ordnen „unsere“ Medien verschiedene Konflikte der letzten Jahre ein. Der putschistische Charakter des von westlichen Geheimdiensten und NGOs in der Ukraine organisierten antirussischen Maidanumsturz 2014, die gewaltsame Unterdrückung von friedlichen Gegendemonstrationen in Odessa, Mariupol und Charkow, das weitgehende Verbot von russischsprachigem Unterricht 2017 sowie der jahrelange ukrainische Artilleriebeschuss auf die Großstädte Donezk und Lugansk mit Tausenden Toten wurden von den westlichen Mainstream-Medien weitgehend totgeschwiegen. Nach dem Motto: Sind ja nur Russen, die das betrifft.

In Syrien haben NATO-Ländern, wie schon in den 1980ern in Afghanistan, islamistische Kräfte protegiert, um ein Regime, das man nicht völlig unter Kontrolle hat, loszuwerden. Dass man dabei de facto eine Al-Quaida-Formation offen und der Mörderbanden des IS indirekt unterstützte, wurde von US-Stellen in Kauf genommen und von den westlichen Medien, die stets von Humanität faseln, systematisch verschleiert. Als böse dargestellt wurden hingegen wieder mal die Russen, die immerhin die Islamisten in Syrien gestoppt haben.

Und bezüglich der aktuellen Auseinandersetzung üben sich westliche Politiker und Journalisten wieder mal in Schwarz-Weiß-Malerei. Alles wird so hingedreht, als wäre der russische Einmarsch aus heiterem Himmel passiert, als hätte es keine Vorgeschichte von NATO-Vordringen nach Osten, von NATO-Aufrüstung der Ukraine und von nationalistischer Politik der Ukraine gegeben. Glaubt man „unseren“ gleichgeschalteten Medien, bringen barbarische Russen aus Mordlust absichtlich Zivilisten um, während heldenhafte und edle Ukrainer Demokratie und Menschenrechte verteidigen. Kaum ein Wort über die Praktiken der Neonazi-Einheiten auf ukrainischer Seite, kein Wort über Folter und Mord an russischen Kriegsgefangenen.

Remember Liebknecht

Was heute im Westen medial stattfindet, ist eine neuerliche Dämonisierung von Russland. Russischstämmige in Westeuropa sind mit pauschalen Anfeindungen, beschädigten Autos und beschmierten Wohnungstüren konfrontiert, russische Künstler und Sportler werden international ausgeschlossen, Konzerthäuser verbannen die Musik von Peter Tschaikowski. Nur die Russen, die sich bereitwillig für die NATO-Propaganda instrumentalisieren lassen, werden in Ruhe gelassen.

Natürlich ist Kritik an der heutigen russischen Führung — und noch mehr an den Regimen des Zarismus und Stalinismus — legitim. Natürlich hat auch Putin geopolitische Ziele. Sie haben aber angesichts der NATO-Einkreisungspolitik mehr Legitimität als die der NATO.

Und eine multipolare Welt bedeutet auch mehr Spielräume für kleinere Staaten und Emanzipationsbewegungen, als wenn allein die USA/NATO und die mit ihnen verbundenen globalistischen Netzwerke des Großkapitals alles bestimmen.

Die NATO ist kein „Friedensbündnis“, sondern der bewaffnete Arm der globalen Banken- und Konzernherrschaft und des US-Imperiums. Ihre Ausdehnung auf die Ukraine hat nichts Fortschrittliches. Die Bevölkerung der Ukraine ist auch ein Opfer der aggressiven NATO-Expansionspolitik und der Kräfte im Land, die sich seit Jahren dafür einspannen lassen.

Kritische Menschen sollten sich nicht vor den Karren von NATO und US-Imperialismus spannen lassen und nicht in das antirussische Geheule einstimmen. Diejenigen, denen eine linke Tradition ein Anliegen ist, können sich dabei auf das Diktum des deutschen Sozialisten und Kriegsgegners Karl Liebknecht vom „Hauptfeind im eigenen Land“ beziehen.

In den vergangenen Wochen waren zwei Dinge auffällig: Erstens sind es in vielen sozialen Zusammenhängen Menschen mit familiären Wurzeln in Serbien, dem Irak oder Afghanistan gewesen, die sich von der Menschenrechtspropaganda der NATO-Politiker nicht blenden ließen, Menschen aus Ländern also, die US-Angriffe selbst erlebt haben. Und zweitens haben viele Menschen im Coronaregime in der eigenen Lebensrealität erfahren, wie heuchlerisch und verlogen das herrschende Parteienkartell und seine gleichgeschalteten Medien funktionieren — sie erkennen nun einen ähnlichen Spin in der Ukrainefrage und glauben nicht mehr alles, was ihnen vorgesetzt wird.


Redaktionelle Anmerkung: Der Beitrag erschien zuerst am 18. März 2022 unter dem Titel „Die Tradition der Russlandfeindlichkeit im Blog tkp.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Siehe dazu etwa: Antony Sutten: Wall Street und der Aufstieg Hitlers.