Die toten Städte
Auch wenn es dort noch Häuser gibt — in den sterilen, unpersönlichen Stadtlandschaften von heute kann sich niemand mehr zu Hause fühlen.
Potsdamer Platz, Mannheim, Hauptbahnhof oder — was unserem Autor geografisch näher liegt — München, Stachus: Moderne Stadtlandschaften kennzeichnet nicht nur faszinierende Hässlichkeit, sondern mittlerweile auch der völlige Mangel an Charakter und Atmosphäre. Alte, schöne Bausubstanz wirkt dort eher wie ein Fremdkörper — man denke an den Kölner Dom direkt am Hauptbahnhof. Die sterile Architektur, die Laden- und Fastfoodketten, die Schächte und Straßenzüge gleichen einander wie die Flughafen-Untergeschosse in fast allen Städten auf dem Globus. Ich weiß nicht, ob es stimmt, dass „Rechte“ überall das Straßenbild bestimmen — ganz sicher aber der rechte Winkel. Vielerorts zählt der Mensch nur noch als Insasse von Stadtbahnen und sich in Staus vorwärts wälzenden Autos; als Fußgänger wird er überall behindert und schikaniert. Dem Autor liegt — wie diesem Magazin überhaupt — ja jede Verschwörungstheorie völlig fern. Aber das Ganze sieht doch verdammt nach einer Verschwörung gegen die Menschen aus, mit dem Ziel, dass diese sich auf keinen Fall wohl und zu Hause fühlen dürfen. Lustlos, totalüberwacht, abgerichtet und abgespeist, absolvieren sie die öden Wege, die die Stadt-Rabenväter ihnen zugedacht haben. Solche Städte sind ein Spiegel der herrschenden Geisteshaltung.
Der große italienische Kleindichter Luigi Malerba hat diese Anekdote überliefert: Da spazieren ein paar Schweizer Touristen durch Rom und erfahren, die Straßen und Wege lägen heute vier Meter höher als früher, weil sich seit der Zeit der antiken Kaiser eine derartige Menge Schmutz, Dreck, Schutt und Müll angesammelt habe, dass sich die Stadt sozusagen über sich selbst erhoben habe.
Da sind die Schweizer entsetzt: So etwas sei in ihrer Heimat niemals möglich, nicht mal denkbar, weil man dort auf Sauberkeit achte! Ja nun, merkt die Fremdenführerin an, deshalb habe Rom ja auch eine Geschichte und die Schweiz — oder sagen wir: Zürich, Zug oder Luzern — eben nicht. Okay, das stammt von mir. Malerbas Fremdenführerin sagt: „Wir Römer mögen große Schweine sein, aber wir haben Rom erbaut — und ihr?“
Einem Insassen der heutigen Münchnerstadt wird diese Geschichte weitgehend verschlossen bleiben, selbst wenn er mal eine Klassenfahrt in dem tobenden Chaos absolviert hat, das aktuell unter dem Namen Rom firmiert. Man könnte vermuten, es gebe heutzutage überhaupt keine Städte mehr, wie sie Malerba und seine Fremdenführerin vielleicht noch kannten, zumindest von romantischen Stahl- und Kupferstichen oder Gemälden, vor denen wir uns fragen, wie so etwas je zustande kommen konnte. Aber das wäre sicher übertrieben, irgendwo gibt es so etwas bestimmt noch, vorzugsweise dort, wo niemand hinkommt, der nicht schon da ist.
München aber darf als ziemlich typisches Beispiel dafür herhalten, zu was sich Konglomerate von menschlichen Ansiedlungen auswachsen, wenn die Zeiten und ihre Fährnisse über sie hinwegbrausen, ohne dass jemand klüger wird.
Wenn man zum Beispiel heute am Stachus steht und Richtung Hauptbahnhof blickt oder gar müßig dort hinschlendert, dann kann man sich fragen, wozu der Russe eine Atombombe auf dieses Ensemble architektonischer Totenschädel schmeißen soll, wo das doch jetzt schon ausschaut wie eine stilisierte Version dessen, was die Münchner erblickten, wenn sie Ende 1944 mal wieder aus dem Bunker hervorkrochen. Wenn Jahrhunderte nach dem von der derzeitigen Bundesregierung eifrig herbeigehetzten nächsten Krieg eventuell verbliebene Archäologen im Schutt nach einer Geschichte wühlen, werden sie keine finden, die sie nicht schon von anderswo und überall her kennen, und sie werden sich fragen, wieso man es überhaupt so weit kommen ließ, den Moloch zerstören zu müssen, statt ihn gar nicht erst zu errichten.
Theoretisch und eigentlich hat jeder Ort sein Gesicht und seine Geschichte. Das gilt oder galt insbesondere für Städte, weil sich dort neben einer verwurzelten Patrizierelite schon immer wilde Zusammenhäufungen von Menschen zusammenhäuften, die das Elend von beziehungsweise aus ihrem Land vertrieben hatte und die nun hofften, durch das Atmen der Stadtluft frei zu werden. Weil Städte folglich manchmal alt, zugleich aber immer neu waren und sich sozusagen experimentell entwickelten — ohne überliefertes Wissen um alle möglichen Dinge, das vielleicht einmal dagewesen, aber in den Beben der Geschichte verschüttet worden war —, bestand diese Stadtluft überwiegend aus Gestank.
Früher war es die buchstäbliche Scheiße von Pferden, Rindern, Schweinen, Ratten und selbstverständlich auch Menschen, die als eine Art Vorläufer des Asphalts die Straßen und Gassen bedeckte, in der man knietief herumstapfte und sie dann auch noch per Nachttopf auf den Kopf gekippt bekam. Später öffnete und überließ man diese Straßen dem Automobil, das fortan alles verpestete und zu einem Siechtum führte, das man eben dieser Pest als Sammelbegriff für jede Form von Vergiftung und Sepsis nicht mehr zuschreiben konnte, weil es inzwischen eine moderne Wissenschaft gab, die auch Verkehrspläne entwarf, in denen Menschen als solche keinen Platz mehr hatten, sondern nur noch als eine Art fleischlicher Rohrpost herumgeschossen wurden.
Aber immer wieder entstanden über die Jahrhunderte und ihre Wirrnisse hinweg zeit- und ortsgemäße Bauten, die sozusagen den „Geist“ ihrer Zeit und ihres Orts in Holzbrett, Ziegelstein und Stahlbeton verkörperten, auch wenn dieser „Geist“ selten ein solcher war. Das gilt für die gedrungenen Hüttchen des Lumpenproletariats, die Richtung Stadtrand eher Erdhöhlen glichen, wie für die Wirtshäuser, die auch mal so kolossal ausfielen, dass sich darin selbiges Proletariat zur Selbstermächtigung inspirieren ließ, bis hin zu den pseudosozialistischen Plattenbauten der frühen Zwischenkriegszeit von 1955 bis 1975, die deshalb als „sozialistisch“ galten, weil sie alle ihre Bewohner in das gleiche graue Elend hineinpferchten, aber erschwinglich und zumindest überhaupt da waren, um die Obdachlosigkeit zu beseitigen, die uns heute, wo sie wieder grassiert wie in dunkelsten Zeiten, als „romantische Alternative“ unangepasster Querköpfe verkauft wird, die eben lieber unter einer Isarbrücke pennen als sich in den unaufhaltsamen Endprozess der kapitalistischen Weltverwertung einspannen zu lassen.
Verloren ging auf diesem Weg im Gleichschritt mit einem ungebremsten, sich stetig beschleunigenden und absichtlich beschleunigten Flächen- und Höhenwachstum die Souveränität, die eine Stadt ihren Bürgern und Bewohnern allein dadurch vermittelt, dass sie schön, eigenartig und typisch auch für eben diese Bewohner ist. Wie das geschehen konnte, fragen sich erstaunlich wenige.
Freilich: Gebaut wird auch heute noch, sporadisch, unterbrochen von Pleiten und Zusammenbrüchen allzu überkandidelter Großphantastereien, aber das, was dabei herauskommt, ist immer das Gleiche: monströs formlose Schachteln ohne Gesicht oder eben mit dem Antlitz einer entpersonalisierten, entmenschten Armee, was zwar irgendwie auch den „Geist“ der Zeit widerspiegelt — aber eben einer Zeit, in der der Mensch nichts und der Krieg alles ist.
All diese präemptiven Investitionsruinen einer taumelnden Immobilienmafia, deren Helfershelfer allüberall in Stadträten, Bezirksräten und anderen ehemals repräsentativen Parlamenten herumlungern, starren uns mit genau dem gleichen Blick an: verächtlich, hohl, drohend, anonym böswillig und desinteressiert sowohl an denen, die darin ihre pervertierte Imagination einer selbstbestimmten Existenz inszenieren und dafür ehedem unvorstellbare Geldbeträge berappen, als auch an der Gegend, in der sie herumstehen und die irgendwann einmal tatsächlich eine Gegend war: ein Raum, der einfach da war und in den der Mensch hineinwuchs, einzeln und kollektiv, dabei sich und ihn sozusagen interpretierend und evolutionär verändernd, ohne dass finstere Großmächte daherkamen und mit Planierraupen, Bomben und Abrissbirnen eine Tabula rasa hinknallten, auf der sich sogenannte „Visionen“ in die Welt rummsen ließen, die sich vom Ameisenhaufen nur noch dadurch unterscheiden, dass dieser immerhin von seinen Bewohnern selbst aufgehäuft wird und in all seiner Schmuck- und Schnörkellosigkeit funktioniert, wie er das soll, solange niemand draufpinkelt.
Oft ist von der zunehmenden Ortlosigkeit die Rede, von einer „Gleichmacherei“, die dazu führt, dass man zum Beispiel an einem Flughafen ein bestimmtes Kettenrestaurant aufsucht und Stunden später am anderen Ende der Welt exakt das gleiche Lokal vorfindet, wo identische Futtermittel serviert werden.
Ich kann das bestätigen, weil ich in den neunziger Jahren viel in der Welt unterwegs war und diese Entwicklung damals einen Höhepunkt erreichte. Man konnte buchstäblich in München eine Ware erwerben — sei es ein Taschenbuch, eine Wollsocke oder ein drei Jahre alter Tiefkühlapfel aus Neuseeland —, diese Ware in einen Container schmeißen und kurz darauf in London, Paris, Stockholm oder Köln die gleiche Ware erneut kaufen, um den Konsum fortzusetzen.
Es schien damals, als gäbe es ein natürliches Ende dieser Entwicklung, aber dabei hat man wohl nicht oder zu wenig an die Menschen selbst und ihre Hirne gedacht. Die nämlich unterschieden sich damals noch durchaus. Heute hängen alle ganztags an ihren flimmernden Displays und glotzen weltweit identische Kurzclips, die aus sinnlosen Bewegungen und Lauten bestehen und sich von traditionelleren Sucht- und Verblödungsmitteln wie Heroin und Schnaps nur dadurch unterscheiden, dass man dafür oft nicht mit Geld, sondern nur mit Lebenszeit bezahlen muss, was aber strenggenommen sowieso dasselbe ist.
Und derweil verwandeln sich die Städte, in denen all das stattfindet, über ein Zwischenstadium der Simulation endlich in tote Gerippe und letztlich in den verrottenden Haufen Dreck und Mist, der einst ihre Straßen und Gassen füllte.
Bürger oder auch nur echte Bewohner — im Sinne eines „Wohnens“, zu dem das Etymologische Wörterbuch meint, es gehe auf eine Urbedeutung im Sinne von „lieben, schätzen, zufrieden sein“ zurück und sei eng mit der „Wonne“ verwandt — gibt es hier kaum noch und kann es irgendwann auch nicht mehr geben.
Denn wie soll es Bürger geben oder auch nur Bewohner, wenn der größte Teil der Menschen, die in einer Stadt wie München herumwesen, unter dem ständigen Damoklesschwert einer „Abschiebung“ steht — im buchstäblichen Sinne, durch Behörden, Mietwucher, mobilisierende Jobcenter und eine allgemeine Stimmungsmache, die jeden, der nicht unmittelbar, dauerhaft und verlässlich zum Profit der Oligarchie beitragen kann oder darf, entweder an irgendeinen anderen Ort versetzen möchte, wo das angeblich (noch) möglich ist, oder gleich in ein fernes Land transportieren, wo das Gleiche in noch schlimmer stattfindet und die aus dem „Westen“ gelieferten Waffen ihren blutigen Karneval veranstalten, weshalb man solchen Orten ja entflüchten wollte — um ein altes Lied zu zitieren — „to where the guns came from“? Da bleiben letztlich nur die Oligarchen selbst, denen solche Städte aber irgendwann auch keinen Spaß mehr machen, zumal sie bekanntlich nicht in der Lage sind, sich selbst zu ernähren, und deshalb lieber in futuristisch-feudale Neo-Burgen ziehen, wo das Personalgesinde verlässlicher, weil überschaubar ist.
Wir wollen nicht übertreiben. Zweifellos vegetiert der heutige Mensch bequemer und moderner als seine Vorfahren, zumindest wenn die zu den nicht privilegierten 99 Prozent zählten. Wasser etwa muss er nicht mehr aus Brunnen pumpen oder aus stinkenden Seichbächen schöpfen. Wenn er genug Geld hat oder sich schwarzfahren traut, gelangt er vergleichsweise mühelos von einem Ende der Stadt und der Welt ans andere — auch wenn er gar nicht weiß, was er dort soll, und am Ziel ebenso wenig verloren hat wie am Ausgangspunkt. Und vor ansteckenden Krankheiten, die einst infolge der beschriebenen überbordenden Antihygiene periodisch grassierten, braucht er sich nur noch dann zu fürchten, wenn er anfällig für die Angstpropaganda seiner heutigen Herrscher ist.
Aber frei ist er nicht, und frei machen kann ihn auch nicht die durch stetige Verdichtung bis zum Exzess aufgeheizte Stadtluft, weil es die Stadt, die so was einst bewirkt haben mag, eben nicht mehr gibt und er zu Hause — auch ohne eigenes Haus — deshalb nicht mehr sein kann, weshalb er auf der sozialen Messlatte im Grunde noch unter der Ameise steht, die zumindest im eigenen Haufen ihren prekären Platz hat.
Das gilt auch für die sogenannte Mittelschicht der selbsternannten „Weltbürger“, vulgo „Anywheres“, die nach abgeschlossenem BWL- oder Marketing-Drill meint, ihr stehe nun irgendwas offen. Heute sagt man so nebenbei, man ziehe jetzt mal nach zum Beispiel Wuppertal, weil Job und so. Und erwartet damit implizit, dass es dieses Wuppertal halt einfach gibt: Milieu, Kultur und Angebot, das ist doch da, unabhängig von der jeweiligen, zeitweiligen Besatzung, nicht wahr? Auf diese Weise geschieht es, dass ein millionengroßes Heer von Wirtschaftsnomaden kreuz und quer durch ein gefühlt dauerhaft vorhandenes Land zieht, sozusagen von Windpark zu Windpark, und meint, die Stadtkonglomerate, in denen man sich kurzzeitig niederlässt, seien so eine Art Automaten. Man schmeißt ein paar Münzen oder vielmehr digitale Bits hinein wie früher in den Schaukasten im Vorraum katholischer Kirchen, und schon geht das Licht an und die „Kultur“ los. Und wer hat die „gemacht“? Eine gute Frage, für deren Beantwortung hier der Platz fehlt.
Ein Dozent für Städtebau und Regionalplanung lieferte unlängst in einer Radiosendung von Frank Wahlig eine ziemlich treffende, angemessen gruselige Beschreibung und Bestandsaufnahme des Problems am Beispiel von Berlin, meinte jedoch zum Ende, er könne sich vorstellen, seinen Ruhestand in einer wohl beliebigen Kleinstadt an der Peripherie zu verbringen. Besser könnte man die — oder eine — Paradoxie dieser ganzen Geschichte kaum auf den Punkt bringen.
Ob sich das alles irgendwann ändern wird oder aktiv ändern lässt, etwa im Zuge der durch ständige „Reformen“ befeuerten Verelendung, Mobilisierung und Entmündigung, die irgendwann einen Aufstand der Geknechteten und Unterworfenen und damit eine Wiederbelebung der toten Städte auslösen mag, oder durch einen kommenden großen Krieg, der ja erfahrungsgemäß zumindest für kurze Zeit danach zu einer Art Besinnung führen kann? Ich weiß es nicht.
Angesichts des schwindenden Kollektiv- und Klassenbewusstseins der Untertanen und des verzweifelt galoppierenden Irrsinns der Herrscher neige ich zum Pessimismus. Aber das tue ich — wie regelmäßige Leser dieser Kolumne wissen — ja meistens; es muss also nicht viel heißen und sollte niemanden entmutigen.