Die Technisierung des Menschen
Aus der Vierten Industriellen Revolution soll ein gänzlich neuer Mensch hervorgehen.
Seit der Jahrhundertwende befinden wir uns — nach Auffassung des Weltwirtschaftsforums (WEF) — in der Vierten Industriellen Revolution. Sie basiert auf der in den 1960er-Jahren begonnenen digitalen Revolution, die durch die Entwicklung der Informatik, den Einsatz von Großrechnern und Personalcomputern sowie durch die Entstehung des Internets gekennzeichnet ist. Für Klaus Schwab, den Begründer und Vorstandsvorsitzenden des Weltwirtschaftsforums, ist die Vierte Industrielle Revolution aber weit mehr als nur eine Fortführung des sich vollziehenden technologiegetriebenen wirtschaftlichen Umbaus. Sie ist — seiner Überzeugung nach — eine neue technologische Revolution, die mit nichts Geringerem als einem tief greifenden Wandel der gesamten menschlichen Zivilisation einhergeht und „die unsere Art zu leben, zu arbeiten und miteinander zu interagieren, grundlegend verändern wird“ (1).
Als ihr besonderes Merkmal nennt Schwab die zunehmende Verfügbarkeit und Verschmelzung neuer, ganz außergewöhnlicher Technologien, was schließlich dazu führe, dass „die Grenzen zwischen der physikalischen, der digitalen und der biologischen Sphäre verschwimmen“ werden (2). Das betrifft in erster Linie den Einsatz der Bio- und Neurotechnologien, der implantierbaren Technologien sowie des Internets der Körper (IoB).
Es handelt sich dabei um Technologien, die weniger auf die Umwelt des Menschen, sondern vor allem auf die Veränderung des Menschen selbst ausgerichtet sind, die einen nachhaltigen Einfluss auf sein Wesen und seine Identität haben werden. Mit der Vierten Industriellen Revolution — so Schwab — stehe uns „eine Veränderung des Menschen bevor, wie wir sie noch nie zuvor erlebt haben“ (3).
Der Traum von einem neuen, vollkommeneren Menschen hat eine lange Geschichte. Bereits vor über zweitausend Jahren rief Jesus die Menschen dazu auf, ihr Leben grundlegend zu ändern. Dazu sollten sie vor allem auf das eigensüchtige Streben nach materiellem Reichtum sowie auf die Anwendung von Gewalt verzichten, um auf diese Weise eine neue, gerechte und friedliche Welt zu schaffen.
Auch Friedrich Nietzsche ging es um eine grundsätzliche Änderung der Lebensweise der Menschen. So wandte er sich wiederholt gegen die geistige Anspruchslosigkeit und Selbstzufriedenheit seiner Zeitgenossen. Für die dumpfe Behaglichkeit des in seinem kleinen Glück lebenden Massenmenschen hatte er nur Verachtung übrig. Dieser Mensch und diese Kultur müsse überwunden werden. Die neuen und höheren Menschen der Zukunft sollten dagegen stark sein, die Widersprüche des Lebens aushalten und über die nötige Willenskraft verfügen, um über sich selbst hinauswachsen zu können.
Karl Marx schließlich sah das Bild von einem neuen Menschen in dem nach Emanzipation strebenden Lohnarbeiter der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, denn trotz unbestreitbarer Fortschritte in Wissenschaft und Technik sei der Kapitalismus nicht in der Lage, die soziale Ungleichheit zwischen den Menschen zu beseitigen. Die radikale Umgestaltung der materiellen Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft müsse deshalb als die wichtigste Voraussetzung für das Entstehen eines neuen Menschen gesehen werden.
Der neue Mensch der Vierten Industriellen Revolution unterscheidet sich grundlegend von allen vorangegangenen Menschenbildern. An die Stelle moralischer Werte, der Charakterstruktur oder der sozialen Verhältnisse ist allein die Technik getreten.
Der aus der kommenden wirtschaftlichen Umgestaltung hervorgehende Mensch soll — nach dem erklärten Willen des Weltwirtschaftsforums — in erster Linie das Produkt von neuen Technologien sein, dessen weit reichende Folgen sich gegenwärtig noch gar nicht vollständig abschätzen lassen.
Der menschliche Körper als Technologieplattform
Mit kaum zu überhörender Begeisterung äußert sich Klaus Schwab über die bevorstehenden technischen Innovationen und die von ihm erwartete Technisierung des Menschen. Bald schon würde man damit beginnen, „digitale Technologien in unserem Körper zu integrieren“. Dabei könnten die neuen Technologien „buchstäblich ein Teil von uns werden“, was dann auch zu einem Verschwimmen der Grenzen zwischen den Technologien und den Lebewesen führen werde. In Anspielung auf die „Cyborg“-Metapher prophezeit er, dass es in Zukunft „kuriose Mischformen aus digitalem und analogem Leben geben (könnte), die unser ureigenes Wesen neu definieren“ (4).
Da sind zunächst die Neurotechnologien, die das Weltwirtschaftsforum für geeignet hält, das eigentliche Wesen der Vierten Industriellen Revolution zu verkörpern. Ermöglichen sie doch „beispiellose Erkenntnisse — nicht nur darüber, wie das Gehirn mit seinem physischen und sozialen Umfeld interagiert, sondern auch über neue Wege, das Leben zu erfahren“ (5). Auch könnten sie bei einer Reihe von neurologischen Erkrankungen und körperlichen Behinderungen wirksam werden und dabei helfen, „die Industrie der Technisierung des menschlichen Körpers voranzubringen“.
Nicht selten kommen die notwendigen Mittel für Neurotechnologien und andere Spitzenforschung aus dem militärischen Bereich. Dort stellt man sie zunächst in den „Verteidigungskontext“ und nutzt später dann ihre Ergebnisse. So steht das menschliche Gehirn — gerade auch „im Grenzbereich von Kriegsführung und Sicherheit“ — im Mittelpunkt. Selbst für die Überschreitung einer Landesgrenze könnte in Zukunft ein detaillierter Gehirnscan zur Einschätzung des Sicherheitsrisikos einer Person notwendig werden, prophezeit Schwab (6).
Auch für Arbeitgeber werde es zunehmend interessanter, die Neurotechnologien zur Leistungssteigerung, aber auch zur Beurteilung von Stellenbewerbern oder zur Überwachung von Mitarbeitern einzusetzen. Nach dem Einsatz biometrischer Systeme am Arbeitsplatz und der Verfolgung per Radiofrequenz-Identifikation (RFID) könnte es zukünftig dahin kommen, „dass Arbeitgeber direkt oder indirekt die Gehirne von Arbeitnehmern überwachen“.
Für den Einzelhandel kündigt sich ebenfalls ein verstärkter Einsatz von Geräten zur Gehirnüberwachung an. Damit ließen sich wesentliche Entscheidungsmuster der Verbraucher durchschauen, um sie dann leichter zu einer von den Unternehmen gewünschten Verhaltensweise veranlassen zu können (7).
Grundsätzlich erweist sich der Einsatz der Neurotechnologien als bestens geeignet zur Beeinflussung des Bewusstseins und des Denkens der Menschen. Zudem sind solche Technologien äußerst hilfreich bei der Entschlüsselung von Gedanken, bei der Korrektur von „Fehlern“ im Gehirn sowie bei der „Verbesserung“ von dessen Funktion.
In einer von Algorithmen und allgegenwärtiger Datenerfassung gesteuerten Welt lässt sich damit ein Zugriff selbst auf die intimsten Gedanken eines Menschen kaum mehr ausschließen (8).
Auch den Biotechnologien wird vom Weltwirtschaftsforum ein hohes Potenzial zur weiteren Technisierung des Menschen beigemessen. Ebenfalls lieferten sie wichtige Werkzeuge und Strategien, mit denen sich die Beziehung des Menschen zur Natur völlig neu definieren ließe (9). Dabei seien die jüngsten Entwicklungen in der Biologie — insbesondere in der Genetik — atemberaubend. Große Fortschritte habe es beispielsweise bei der Editierung von Genen gegeben.
Bereits im April 2015 veröffentlichten Forscher „der Yat-sen University in Guangzhou die erste wissenschaftliche Abhandlung der Welt zur Veränderung der DNS menschlicher Embryonen“. So sei es inzwischen auch leichter geworden, „das Genom schon bei lebensfähigen Embryonen präzise zu verändern“. Dies alles bedeute, „dass in Zukunft Designer-Babys geboren werden können, die besondere Merkmale besitzen oder gegen eine bestimmte Krankheit resistent sind“ (10).
Den nächsten Entwicklungsschritt auf diesem Gebiet sieht das Forum dann auch folgerichtig in der breiten Anwendung der synthetischen Biologie, in der Erschaffung von Designer-Organismen. Für die Menschheit bedeute dies letztendlich den Eintritt „in ein ganz neues Zeitalter des Metabolic Engineering und der synthetischen Biologie“ (11). Damit soll es möglich werden, Organismen selbst herstellen zu können und „durch das Schreiben von DNA maßzuschneidern“. Schließlich gehe es um nichts Geringeres „als darum, in den genetischen Code zukünftiger Generationen einzugreifen“, meint Schwab (12).
Mit den implantierbaren Technologien will man erreichen, dass Computertechnik nicht mehr am Körper getragen oder mitgeführt werden muss (Wearables), sondern dass man sie nun direkt in den menschlichen Körper implantieren kann. Neben medizinischen Zwecken soll dies vor allem der besseren Kommunikation sowie der Ortung und Verhaltensüberwachung des Menschen dienen (13). Klaus Schwab spricht in diesem Zusammenhang von „aktiven implantierbaren Mikrochips, die die Hautbarriere unseres Körpers durchbrechen und faszinierende Optionen“ schaffen. Dies betrifft integrierte Therapiesysteme bis hin „zu Möglichkeiten der Optimierung und Erweiterung menschlicher Fähigkeiten (Human Enhancement)“.
Auf diese Weise sollen kleine Computer in den menschlichen Körper integriert und „allmählich auch physisch Teil von uns“ werden (14). Es handelt sich also um technologische Eingriffe in den Körper, die praktisch zu einer Verschmelzung des Menschen mit der Maschine führen werden. Ziel ist es, eine rein technisch orientierte Weiterentwicklung und Optimierung des Menschen zu ermöglichen, was nicht zuletzt auch zur Steigerung seiner Leistungsfähigkeit beitragen soll.
Seit einigen Monaten spricht das Weltwirtschaftsforum in seinen Veröffentlichungen auch von einem Internet der Körper (IoB). Jüngst gemachte technologische Fortschritte hätten die neue Ära des IoB eingeläutet. Gekennzeichnet sei diese Ära durch eine noch nie dagewesene Anzahl vernetzter Geräte und Sensoren, die am Körper des Menschen angebracht (nicht-invasiv), aber auch implantiert oder anderweitig in den Körper (invasiv) aufgenommen werden können.
Zu den invasiven Technologien gehörten beispielsweise digitale Pillen, deren erste Verwendung im Jahr 2017 in den USA genehmigt wurde. Sie enthalten winzige Sensoren, die in Verbindung mit einem Medikament stehen, im Magen des Patienten aktiviert werden und entsprechende Daten liefern. Mit dem Internet der Körper wird es grundsätzlich möglich, enorme Mengen an biometrischen Daten und Daten über das menschliche Verhalten zu generieren. Der menschliche Körper soll dabei in eine Art „Technologieplattform“ verwandelt werden (15).
Die Coronavirus-Pandemie als Katalysator für einen radikalen Systemwandel
Nach Auffassung des Weltwirtschaftsforums steht die Welt gegenwärtig „an der Schwelle eines radikalen Systemwandels“. Dabei polarisiere sich die Welt zunehmend, „in diejenigen, die den Wandel begrüßen, und solche, die ihn ablehnen“. Die daraus entstehende „ontologische Ungleichheit scheidet die Anpassungswilligen und -fähigen von den Anpassungsverweigerern“ und definiere damit im Grunde schon, wer die Gewinner und wer die Verlierer dieses Prozesses sein werden. Während die Gewinner „von gewissen Formen radikaler Optimierungen des Menschen“ — wie etwa der Gentechnik — profitieren würden, bliebe dies den Verlierern vorenthalten.
Die sich daraus ergebenden Spannungen begünstigten wiederum die Entstehung von „Klassenkonflikten und anderen Auseinandersetzungen, die anders sein werden als alles, was wir kennen“ (16). Damit bestehe die große Gefahr, „dass es in einer hypervernetzten Welt mit wachsender Ungleichheit zu verstärkter Fragmentierung, Ausgrenzung und sozialen Unruhen kommt“ (17). Auch fehle es noch an einem in sich stimmigen, positiven und verbindenden Narrativ, in dem die Chancen und Herausforderungen der Vierten Industriellen Revolution aufgezeigt würden. Dies sei jedoch unverzichtbar, wenn man unterschiedliche Menschen und Gemeinschaften zu aktiver Mitgestaltung bewegen möchte und gleichzeitig verhindern wolle, „dass eine breite gesellschaftliche Gegenreaktion gegen die grundlegenden Veränderungen entsteht“ (18).
Mit Blick auf die durch die Coronavirus-Pandemie ausgelöste weltweite Krise meint Schwab, dass es gerade die tiefen, existentiellen Krisen sind, die „das Potenzial für einen Wandel“ in sich bergen. Im Ausmaß ihrer transformativen Kraft sei die gegenwärtige Pandemie sogar mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar, denn „beide haben das Potenzial einer transformativen Krise von bisher unvorstellbaren Dimensionen“. Wie schon der Zweite Weltkrieg eine „grundlegende Veränderung der Weltordnung und der Weltwirtschaft“ auslöste, so wäre auch heute wieder „die Zeit für einen Paradigmenwechsel gekommen“ (19). Die Pandemie beschleunige diesen Wechsel, indem sie als Katalysator für die schon vor der Krise eingeleiteten technologischen Veränderungen wirke (20).
Die Theorie über den engen Zusammenhang zwischen einer Krise und einem darauf folgenden gesellschaftlichen Wandel geht zurück auf den im Jahr 2006 verstorbenen Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman, einen der einflussreichsten Wissenschaftler der letzten Jahrzehnte. Friedman schrieb: „Nur eine Krise — eine tatsächliche oder empfundene — führt zu echtem Wandel. Wenn es zu einer solchen Krise kommt, hängt das weitere Vorgehen von den Ideen ab, die im Umlauf sind“ (21).
Naomi Klein bezeichnet diese Aussage von Friedman als das strategische Kerndogma, das zu einer Art Mantra für seine Bewegung werden sollte: die Schockdoktrin. Dabei handele es sich um eine Methode, die darin besteht, „Momente kollektiver traumatischer Erfahrungen dazu zu nutzen, einen radikalen sozialen und wirtschaftlichen Umbau durchzusetzen“ (22).
Und so funktioniert die Schockdoktrin: Ein ursprüngliches Desaster versetzt nahezu die gesamte Gesellschaft in einen kollektiven Schockzustand und klopft diese für die kommenden Veränderungen weich.
Auf diese Weise „geben schockierte Gesellschaften oft Dinge auf, die sie ansonsten vehement verteidigen würden“. Auch würden Unternehmen und Politiker die Angst und Orientierungslosigkeit der Menschen nach dem „Schock ausnutzen, um eine wirtschaftliche Schocktherapie durchzusetzen“. Damit diese uneingeschränkt angewandt werden kann, sei „ein großes kollektives Trauma vonnöten, das demokratische Praktiken entweder vorübergehend außer Kraft setzt oder sie völlig unterbindet“. Dazu bedarf es autoritärer Verhältnisse und des gezielten Einsatzes der Organe der staatlichen Ordnungsmacht. (23)
Bereits vor mehr als zehn Jahren bezeichnete Naomi Klein dieses Szenario als „Schockstrategie“ und sprach dabei von gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie „Katastrophen-Kapitalismus“ nannte. Der größte und wirkungsvollste Schockzustand tritt jedoch dann ein, wenn sich Menschen durch eine auftretende Gefahr unmittelbar in ihrem Leben bedroht fühlen, wenn es für sie — und sei es nur scheinbar — um Leben und Tod geht. Wird doch der Tod in der westlichen Kultur seit Langem schon tabuisiert und aus dem Bewusstsein der Menschen verdrängt, weshalb sie sich auch mit ihrer eigenen Sterblichkeit nur schwer abfinden können.
Im Strategiepapier des Bundesministeriums des Innern (BMI) mit dem Titel „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“ wird die von Friedman entwickelte Schockstrategie aufgegriffen und angewandt. Das Papier wurde mehrheitlich von Wissenschaftlern arbeitgebernaher Wirtschaftsinstitute erstellt und dürfte eine wichtige Rolle bei der Entscheidung der Bundesregierung für die wirtschafts- und grundrechtseinschränkenden Maßnahmen des Lockdowns vom März 2020 gespielt haben.
Statt die Menschen mit sachlich begründeten Informationen zu versorgen und aufzuklären, um auf diese Weise Vertrauen zu schaffen und vorhandene Ängste abzubauen, setzten die Wissenschaftler auf eine völlig andere Vorgehensweise. So plädieren sie in aller Offenheit für eine Strategie, deren Ziel es sein müsse, die Bevölkerung durch eine „gewünschte Schockwirkung“ in Angst zu versetzen.
Dazu soll beispielsweise die „Urangst“ eines jeden Menschen, die Angst zu „Ersticken oder nicht genug Luft (zu) kriegen“, wachgerufen werden. Auch sei zu kommunizieren, dass viele Schwerkranke, die von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht und dort nicht mehr aufgenommen werden können, dann „qualvoll um Luft ringend zu Hause“ sterben würden. Für bereits infizierte Kinder sei es wiederum das Schrecklichste, was sie je erleben könnten, „wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen“ (24). Zur gewünschten Schockwirkung soll also noch das Erzeugen von Schuldgefühlen und permanenten Ängsten hinzukommen, wobei man selbst vor den Kindern nicht Halt macht.
Auch Klaus Schwab betrachtet den Schock, der durch eine Krise verursacht wird, als große Chance für einen sich vollziehenden gesellschaftlichen Wandel. So sei die Corona-Pandemie „ein enormer Schock“, der „die beunruhigende Gewissheit mit sich bringt, dass er sowohl unerwartete als auch ungewöhnliche Folgen haben wird“. Bei aller Vielschichtigkeit der bevorstehenden Veränderungen werde die Pandemie aber zumindest einen Systemwandel beschleunigen, welcher sich schon vor der Krise abgezeichnet habe.
Dazu gehöre die „wachsende Macht der Technologie“ wie auch eine beschleunigte Automatisierung. Für viele Menschen bedeute dies, dass die Technologisierung ihres Lebens stark zunehme, wodurch „das Leben, wie sie es bisher kannten, mit alarmierender Geschwindigkeit aus den Fugen“ gerate (25). Zugleich liege aber in der Technisierung des Lebens auch eine Chance wie auch der eigentliche Sinn der Vierten Industriellen Revolution begründet.
In den Auswirkungen der gegenwärtigen Corona-Krise sehen die Vertreter und Anhänger des Weltwirtschaftsforums die einmalige Möglichkeit, eine umfassende Technisierung des Menschen, wie auch den von ihnen prognostizierten und für unerlässlich empfundenen Systemwandel, in einer beschleunigten Form und ohne größeren Widerstand weltweit durchsetzen zu können.
Überwachung und Kontrolle des Menschen mittels technischer Systeme
Der angestrebte radikale Systemwandel verlange — so Schwab — eine kontinuierliche Anpassung des Menschen an die sich vollziehenden Veränderungen. Andererseits sei es aber auch noch nicht klar, „wie sich die unerbittliche Integration der Technik in unser Leben auf unseren Identitätsbegriff auswirkt und ob sie wesentliche menschliche Fähigkeiten wie Selbstreflexion, Empathie und Anteilnahme beeinträchtigen kann“ (26).
Zudem bestehe die reale Gefahr, dass Regierungen Technologien kombinieren, um zivilgesellschaftliche Organisationen und Bürgerinitiativen zu unterdrücken, die für Transparenz staatlicher und wirtschaftlicher Handlungen eintreten. Die Einschränkung der Unabhängigkeit und Tätigkeit solcher Gruppen durch Gesetze und andere politische Maßnahmen führe schließlich dazu, dass der zivilgesellschaftliche Raum weiter schrumpfe. So ermöglichten die Instrumente der Vierten Industriellen Revolution auch „neue Formen der Überwachung und neue Möglichkeiten zur Kontrolle, die gesunden, offenen Gesellschaften zuwiderlaufen“ (27).
Noch im Jahr 2016 schrieb Schwab, dass sich das vorhandene Potenzial der Vierten Industriellen Revolution womöglich nicht effektiv und umfassend ausschöpfen lasse. So mangele es vielfach an Führungsstärke und an dem nötigen Verständnis für die sich vollziehenden Veränderungen. Auch sei der notwendige institutionelle Ordnungsrahmen nur unzureichend oder gar nicht vorhanden (28). Mit der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Beschränkungen des öffentlichen Lebens habe nun aber die digitale Transformation der Gesellschaft ihren „Impulsgeber“ gefunden, wie Schwab und Malleret in ihrem Buch „Covid-19: Der große Umbruch“ schreiben.
So schaffe die Pandemie mit der Ausweitung und Fortentwicklung der digitalen Welt zugleich auch bessere Möglichkeiten zur Überwachung und Kontrolle des Menschen. Dabei scheint das „Contact Tracing“ (Kontaktverfolgung), welches eine wichtige Rolle zur Bekämpfung von Covid-19 spiele, schon vorbestimmt zu sein, „ein Wegbereiter für Massenüberwachung zu werden“ (29).
Das Problem freiwilliger Apps zur Kontaktverfolgung bestehe jedoch darin, dass diese nicht funktionieren können, „wenn die Menschen nicht bereit sind, ihre persönlichen Daten der Regierungsbehörde, die das System überwacht, zur Verfügung zu stellen“ (30). Damit wird die Freiwilligkeit in der Verwendung solcher Apps grundsätzlich in Frage gestellt, weshalb deren Nutzung schon bald zu einer allgemeinen Pflicht werden könnte.
Auch bei den Unternehmen zeige sich eine zunehmende Tendenz, den Gesundheitszustand ihrer Mitarbeiter zu verfolgen. So sei zu vermuten, dass es in Zukunft zu einer stärkeren Überwachung der abhängig Beschäftigten kommen werde. Als Grund ließe sich dabei die Sorge um deren Gesundheit und Sicherheit anführen.
Doch auch für die Zeit nach der Pandemie würden die Instrumente der technischen Überwachung — nach Auffassung von Schwab und Malleret — wohl weiter bestehen bleiben. Dies ergebe sich allein schon daraus, dass „die Arbeitgeber keinen Anreiz haben, ein einmal installiertes Überwachungssystem zu entfernen, insbesondere, wenn einer der indirekten Vorteile der Überwachung darin besteht, die Produktivität der Arbeitnehmer zu überprüfen“ (31).
Grundsätzlich eignen sich technische Lösungen, die zur Eindämmung einer Pandemie angeboten werden, aber auch zum Ausbau eines Überwachungsstaates. Lassen diese sich doch genauso als politische Überwachungstechnologie einsetzen und somit zu einer noch effektiveren Kontrolle des Menschen nutzen.
Zwar hätten Regierungen und Unternehmen auch schon in den vorangegangenen Jahren „immer ausgefeiltere Technologien eingesetzt, um Bürger und Angestellte zu überwachen und manchmal auch zu manipulieren“. Doch könnten die im Zusammenhang mit der Corona-Krise geschaffenen Möglichkeiten die Rechte und Freiheiten des Einzelnen noch weitaus stärker beeinträchtigen und damit zu einem „Wendepunkt in der Geschichte der Überwachung“ werden. Vielleicht stellen einige dann bald schon fest, „dass sich ihr Land plötzlich in einen Ort verwandelt hat, an dem sie nicht mehr leben wollen“. Das heißt: „Wir wurden gewarnt!“ — und das sagen selbst Schwab und Malleret (32).
Global Governance und der Umgang mit Kritikern
Vertreter des Weltwirtschaftsforums sprechen gegenwärtig auch von der Notwendigkeit eines globalen Überwachungsnetzes zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie. Dieses sollte unter anderem in der Lage sein, geeignete politische Mechanismen zur effizienten Umsetzung der getroffenen Entscheidungen weltweit zur Verfügung zu stellen (33).
Schon seit Längerem verwendet das Weltwirtschaftsforum in solchen Zusammenhängen den Begriff der „Global Governance“. Die Schaffung einer Weltregierung soll darunter aber nicht verstanden werden. Eher gehe es dabei um eine globale Ordnungspolitik, einen globalen, strategischen ordnungspolitischen Rahmen oder einfach nur um Weltordnungspolitik. Definiert wird dies im Allgemeinen „als Kooperationsprozess zwischen transnationalen Akteuren mit dem Ziel, Antworten auf globale Probleme (die mehr als einen Staat oder eine Region betreffen) zu finden“ (34).
Durch „die disruptive Wirkung der Vierten Industriellen Revolution auf die bestehenden politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Modelle“ werde es nötig, „dass sich ‚ermächtigte‘ Akteure, als Teile eines weitverzweigten Machtsystems verstehen, das nur mit kooperativeren Formen der Interaktion erfolgreich sein kann“ (35).
Ob die globalen Netzwerke, Stiftungen und andere NGO’s der internationalen Geld- und Wirtschaftselite samt ihrem Unterstützungspersonal aus Politik, Wissenschaft und Kultur zu diesem weitverzweigten Machtsystem ermächtigter transnationaler Akteure gehören sollten, bleibt allerdings mehr als fraglich — demokratisch legitimiert wurden sie dafür bisher zumindest nicht.
Stärkere globale Antworten auf zukünftige Bedrohungen wünscht sich auch Bill Gates. COVID gehöre inzwischen, wie Erdbeben und Wirbelstürme, zur neuen Normalität. Die Welt müsse sich deshalb verstärkt auf die noch bevorstehenden Pandemien vorbereiten, die — wie er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte — zehnmal so schlimm werden könnten (36). Auch seitens der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt es ähnliche Aussagen, obwohl die Frage nach dem Ursprung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 noch immer nicht geklärt ist.
Experten der WHO halten es für wahrscheinlich, dass die Übertragung des Coronavirus von Fledermäusen auf einem Markt im chinesischen Wuhan, über ein noch unbekanntes Tier als Zwischenwirt, auf den Menschen erfolgt sein soll (Zoonose). Einen Laborunfall im Institut für Virologie in Wuhan, in dem seit Jahren an mutierten Coronaviren geforscht wird, halten die Experten aber für nicht wahrscheinlich. So sagte der Leiter des WHO-Teams Peter Ben Embarek — nach seinem Besuch in dem genannten Institut —, „dies sei extrem unwahrscheinlich und rechtfertige keine weiteren Untersuchungen“. An dessen Stelle sollte aber „die Möglichkeit, dass der Erreger über tiefgefrorene Lebensmittel übertragen werden könnte, näher untersucht werden“ (37).
Es gibt aber auch gegensätzliche Auffassungen. So kritisiert eine internationale Forschergruppe, darunter die Innsbrucker Mikrobiologin Rossana Segreto, „dass die Möglichkeit einer Labormanipulation als Ursprung der Coronapandemie zu früh ausgeschlossen und kaum untersucht wurde“. Dies sei fahrlässig, meint Segreto, da „in Dutzenden Laboren weltweit mit mutierten Erregern experimentiert (würde), die das Potenzial haben, eine Pandemie auszulösen“ (38).
Ähnlich argumentiert der Hamburger Physiker Roland Wiesendanger in einer erst kürzlich vorgelegten Studie. Dort schreibt er: „Ohne einen Beweis für die eine oder andere Theorie vorliegen zu haben, wäre es ein Gebot der Wissenschaft, in dieser Frage eine neutrale, d.h. ergebnisoffene Position zu beziehen. Dies ist erstaunlicherweise jedoch nicht der Fall“ (39). Wiesendanger ist auch der Auffassung, dass die jeweilige Beantwortung der Frage, wie das Coronavirus entstanden sei, politisch zu ganz unterschiedlichen Reaktionen führen muss und deshalb als äußerst wichtig eingeschätzt werden sollte (40).
So sei die Studie von großer Bedeutung für eine „kritische wissenschaftsbasierte Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Ursprung der derzeitigen Pandemie“, da nur auf Basis dieses Wissens adäquate Vorkehrungen dafür getroffen werden könnten, wie „die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten ähnlicher Pandemien in Zukunft so klein wie möglich“ gehalten werden könnte, heißt es in einer Pressemitteilung der Hamburger Universität (41).
Die heftigen Reaktionen von Kritikern auf die Veröffentlichung der Wiesendanger-Studie werden durch die Berichterstattung in den großen Medien noch zugespitzt und weiter verstärkt. Sie zeigen aber auch, dass es sich bei der Frage nach dem Ursprung von SARS-CoV-2 nicht um eine nur belanglose Frage handelt. Unübersehbar ist dabei allerdings auch, wohin es mit Meinungsfreiheit und Pluralität in Zukunft gehen soll und wie mit abweichenden Meinungen zu bestimmten Themen umzugehen ist.
Die Universität reagierte auf die erhobenen Vorwürfe mit einer klaren und unmissverständlichen Aussage: „Die Hochschulleitung und die Pressestelle der Universität Hamburg üben keine Zensur zu Forschungsgegenständen und -ergebnissen ihrer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus“, hieß es (42).
Unter den genannten Umständen muss der Verweis der Universität auf die Wissenschaftsfreiheit und darauf, dass man nicht gewillt ist, die Aussagen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu zensieren, als äußerst mutig bewertet werden. Befinden wir uns doch gegenwärtig in einem Prozess, dessen Ziel darin zu bestehen scheint, dass kritische Stimmen zu bestimmten gesellschaftspolitischen Entwicklungen eine breite Öffentlichkeit möglichst schon bald nicht mehr erreichen können.
Natürlich spielen bei Auseinandersetzungen innerhalb der Wissenschaft auch immer persönliche und berufliche Interessen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Dass aber gerade solche Leute und Parteien, die sich in der Vergangenheit immer wieder gern als Bewahrer der demokratischen Rechte und Freiheiten der Bürger dargestellt haben, inzwischen nun schon fast ein Jahr lang die „neue Normalität“ der grundrechtseinschränkenden Maßnahmen mehr oder weniger aktiv mittragen, zeigt doch auch, wie absurd und beschämend dies alles ist.
Freie Wissenschaft und autoritärer Glaube
Nach Aussage des Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker leben wir heute in einem „Zeitalter der Wissenschaft“, in dem die Welt vor allem eine technische Welt sei (43). Die Idee, die Welt und den Menschen durch Technologie zu verbessern, ist historisch gesehen aber nicht neu, ebenso wie die Begeisterung vieler Menschen für Technik oder rein technische Lösungen. Ihren Anfang nahm diese Entwicklung bereits im 16. und 17. Jahrhundert, als sich das zu dieser Zeit noch vorherrschende Weltbild, welches wesentlich auf den Grundsätzen des religiösen Glaubens aufgebaut war, aufzulösen begann.
Mit den astronomischen Entdeckungen von Nikolaus Kopernikus und Galileo Galilei wurde die bis dahin festgefügte Weltordnung erstmals grundsätzlich in Frage gestellt und in einigen ihrer wichtigsten Glaubensdogmen zutiefst erschüttert. Das in den modernen Gesellschaften „allgemein verbreitete Vertrauen in Technologie und Wissenschaft“ sowie in einen technisch bedingten Fortschritt kann aber — nach Auffassung von C.F. von Weizsäcker — durchaus auch „als eine Art Glauben“ betrachtet werden. Eine Religion baue sich schließlich nicht nur auf ihrem Fürwahrhalten auf, sondern vor allem auf dem Vertrauen, das ihr entgegengebracht wird. Genau diese Vertrauenswürdigkeit und Verlässlichkeit sei es dann auch, die die Wissenschaft oder besser gesagt, die den Glauben an die Wissenschaft (Szientismus) zur herrschenden Religion unserer Zeit mache (44).
Auch für den Mathematiker und Informatiker Joseph Weizenbaum hat speziell die Naturwissenschaft, zumindest in den westlichen Ländern, „heute alle Merkmale einer organisierten Religion“. In dieser Wissenschaft gebe es nicht nur Novizen und Priester, sondern auch Bischöfe, Kardinäle, „sogar Päpste und — und das ist sehr wichtig — es gibt Häretiker!“. Letztere werden in der Naturwissenschaft oft genauso behandelt und bestraft „wie die Häretiker einer alten Religion: Sie werden ausgestoßen“.
Ebenso hat diese Wissenschaft auch ihre namhaften, hochgeschätzten Institutionen, also ihre Kirchen und Kathedralen. Gesprochen wird dort zum großen Teil in einer eigenen Sprache, die von Außenstehenden oft nicht mehr zu verstehen ist, die aber die Exklusivität der mit ihr Vertrauten umso deutlicher macht, vergleichbar zum Latein in der alten Kirche. Mit Hilfe der Wissenschaftssprache und ihren engen Kriterien schützt sie sich auch vor Kritik und entscheidet selbst, was überhaupt als wissenschaftlich zu betrachten ist und was nicht. Argumente, die außerhalb ihres vorgegebenen Rahmens stehen, werden deshalb meist ignoriert und nur selten akzeptiert.
Darüber hinaus gibt es aber noch „die große Masse der Gläubigen“, weshalb — so Weizenbaum — kaum ein Unterschied „zwischen dem Naturwissenschaftsglauben und dem Glauben an die Lehre der katholischen Kirche im Mittelalter“ besteht. In jedem Falle ist es für die breite Masse „nichts anderes als ein Glaube an Autorität“, glaubte sie doch früher genauso fest an die geozentrische Hypothese, wie sie heute an das heliozentrische Weltbild glaubt. Auf diese Weise sei die Wissenschaft zu einer Art „Weltreligion geworden und die allermeisten Gläubigen glauben einfach blind — wie an ein Dogma“ (45).
Um individuelle Fehlurteile auszuschließen, zugleich aber auch die Objektivität der Erkenntnisse sichern zu können, wurde — vor allem seit Galilei — das Experiment in Verbindung mit der Mathematik zur grundlegenden und vorherrschenden Methode der wissenschaftlichen Forschung gemacht. Damit die Natur aber mathematisch exakt beschrieben werden konnte, musste man sich auf solche Dinge konzentrieren, die sich überhaupt messen und quantifizieren ließen (46).
Qualitative Eigenschaften der Dinge und Erscheinungen, die nicht messbar gemacht werden konnten, wurden dagegen regelmäßig aus dem Forschungsbereich der Wissenschaften ausgeschlossen, ebenso wie die unmittelbare Erfahrung, die Empfindungen, Gefühle und Emotionen der Menschen. Auch geht das Bestreben, die Welt mit Hilfe der Mathematik sowie in deren Begriffen zu beschreiben, wesentlich auf Galilei und René Descartes zurück. Beide sahen in Mathematik und Geometrie so etwas wie die Sprache der Natur. Um die Welt zu begreifen, müsse man sie berechnen können.
Nietzsche dagegen, der die besondere Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung hervorhob, bezeichnete die Mathematik später als eine „Formal-Wissenschaft“, in der die Wirklichkeit kaum noch vorkommt, „nicht einmal als Problem“ (47). Seine grundsätzliche Frage lautete deshalb: „Die Berechenbarkeit der Welt, die Ausdrückbarkeit alles Geschehens in Formeln — ist das wirklich ein ‚Begreifen'?“ (48).
Geht es der modernen Naturwissenschaft, aufgrund ihrer strikten Ausrichtung auf mathematische Methoden, doch weit weniger um eine wahrheitsgemäße Abbildung der Wesenheiten der Natur, sondern viel mehr um die Schaffung eines „Modells der Wirklichkeit“, das „in sich widerspruchsfrei“ ist, und das sich „nicht im Widerspruch mit den Experimenten“ befindet (49). Es handelt sich also hierbei um ein Modell der Wirklichkeit, das vor allem nach mathematischen Gesetzen funktioniert.
Im Fortgang dieser Herangehensweise entstand schließlich das Bild einer nahezu widerspruchsfreien Wirklichkeit, die es so zwar gar nicht gibt, die aber doch als zweckmäßiges und nützliches Modell mitunter recht gut funktionierte, und die außerdem dem weit verbreiteten Bedürfnis der Menschen nach festen Wahrheiten und klarer Orientierung gut entgegenkam.
Auch die nach Ausbruch der Corona-Krise getroffenen Einschränkungen der Grundrechte und Freiheiten der Bürger — verbunden mit einer lang schon nicht mehr praktizierten Form der Diffamierung sowie Ausgrenzung von Andersdenkenden und Kritikern — basieren im Wesentlichen auf den Aussagen mathematischer Modellierer, die in ihren Berechnungen vielfach Millionen von Todesopfern prophezeiten. Doch zum Glück handelte es sich auch hierbei nur um mathematische Modelle der Wirklichkeit und nicht um die Wirklichkeit selbst.
Gesundheit als technische Aufgabe
Zusammen mit den neuzeitlichen Veränderungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft vollzog sich auch im medizinischen Bereich ein grundlegender Wandel. Die strikte Trennung zwischen Körper, Geist und Psyche führte in der Medizin dazu, dass sich Ärzte zunehmend von einer Betrachtungsweise abwandten, die den Menschen in seiner Gesamtheit sah und ihn als ganzheitliches Wesen sowie in all seinen wechselseitigen Abhängigkeiten und Zusammenhängen wahrnahm.
An dessen Stelle begann man, sich bei einer Erkrankung nicht mehr auf den gesamten Menschen zu konzentrieren, sondern nur noch auf die von der Krankheit direkt betroffenen Teile seines Körpers, also auf ganz bestimmte, rein körperliche Symptome (50). So orientierte sich die medizinische Wissenschaft immer mehr an den physiologischen Aspekten einer Krankheit, während alle psychologischen Einflussfaktoren meist übersehen oder nur mit Geringschätzung behandelt wurden.
Übersehen wurde auch, dass der Arzt, ohne genaue Kenntnis der menschlichen Psyche, bei einer Vielzahl von Erkrankungen oftmals nur die auftretenden Symptome behandeln, nicht aber die eigentliche Krankheit und deren Ursachen beheben oder heilen kann, genauso wie eine Krankheit auch weitaus mehr ist als nur die gemessene Abweichung von zuvor ermittelten Normwerten (51).
Die unübersehbaren Erfolge bei der Behandlung bestimmter Krankheiten trugen jedoch dazu bei, dass man sich über deren Grenzen nicht hinreichend bewusst wurde. Dagegen verstärkte sich in der Öffentlichkeit immer mehr das Bild vom menschlichen Organismus als „einer Maschine, die ständig störungsanfällig ist, wenn sie nicht von Ärzten überwacht und mit Medikamenten versorgt wird“ (52). Als die eigentliche Ursache von Krankheiten wurden dabei vorrangig äußere Einflüsse, die auf den Körper des Menschen in verschiedenster Form einwirken können, verantwortlich gemacht.
Dass die Ursache von Erkrankungen aber auch im eigenen Verhalten, in der eigenen Lebensweise oder sogar in der eigenen Weltanschauung und dem damit in Beziehung stehenden Wertesystem liegen kann, wurde dagegen nicht für möglich gehalten beziehungsweise immer wieder verdrängt. Dabei handelt es sich um die grundsätzliche und inzwischen für jedermann „zugängliche Einsicht, dass Kranksein kein nur naturhaftes, zufälliges und willensunabhängiges Ereignis ist, sondern von den handelnden Menschen und den menschlichen Verhältnissen mitverantwortet wird“ (53).
Die notwendige Einsicht, an der Entstehung einer Erkrankung möglicherweise — bewusst oder unbewusst — selbst mitgewirkt zu haben, stößt bei vielen Patienten jedoch auf Unverständnis. Wer aber die Möglichkeit einer Mitverantwortung an der Entstehung seiner Erkrankung von vornherein ausschließt, versperrt sich damit meist auch die Möglichkeit, selbst ausreichend aktiv am Heilungsprozess mitwirken zu können (54). Die eigene Aktivität beschränkt sich in diesem Fall dann oft nur noch auf das gehorsame Konsumieren der im Laufe der Jahre immer zahlreicher verabreichten Medikamente.
Zu einer technischen Betrachtungsweise des Verhältnisses von Gesundheit und Krankheit gehört oft die Meinung, die Behandlung beziehungsweise Heilung einer Erkrankung erfordere ausschließlich „ärztliches Eingreifen von außen, entweder physischer Art durch Chirurgie oder Bestrahlung, oder chemisch durch Medikamente“ (55).
Gegenüber dem Patienten übernahm der Arzt damit immer mehr die Rolle eines unpersönlichen und leicht auswechselbaren Gesundheitstechnikers, der als Fachmann seine Weisungen gibt und dem nahezu widerspruchslos zu gehorchen sei.
Trotz aller Diskussionen und der zum Teil heftigen Kritik an einzelnen Erscheinungen wird das auf dieser Grundlage etablierte Gesundheitssystem aber noch immer allgemein akzeptiert. Obwohl viele Patienten die Komplexität dieses Systems kaum verstehen, so sind sie doch — wie der Physiker Fritjof Capra schreibt — zumindest ausreichend genug konditioniert, um „zu glauben, der Arzt allein wisse, was sie krank mache, und technologische Interventionen seien der einzige Weg zur Besserung“ (56).
Nicht nur die Überwachung der Gesundheit, sondern die Gesundheit selbst ist damit immer mehr zu einer rein technischen Aufgabe geworden. Auch zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie werden wieder Impfstoffe und Medikamente in den Mittelpunkt gestellt. Aufklärung im Sinne einer gesunden Lebensweise, der Vermeidung von krank machenden Ängsten sowie einer natürlichen Stärkung der körpereigenen Abwehr- und Selbstheilungskräfte wird dagegen nur unzureichend betrieben.
Der Wunsch nach einer umfassenden Technisierung des Menschen entstand nicht zufällig, sondern ist das Produkt einer langen historischen Entwicklung. Eine solche Entwicklung ist für die Menschheit aber weder vorbestimmt, noch ist sie zwingend notwendig. Sie kann also durchaus korrigiert werden. Niemand muss sich ihr schicksalshaft ergeben.
Die Durchsetzung der Ziele der Vierten Industriellen Revolution wird deshalb auf den gewaltfreien Widerstand bei denjenigen Menschen stoßen, die sich mit diesen Zielstellungen und dem dabei zugrunde liegenden Welt- und Menschenbild grundsätzlich nicht identifizieren können.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Klaus Schwab: Die Vierte Industrielle Revolution, München 2016, S. 9.
An anderer Stelle heißt es, dass sich mit der Vierten Industriellen Revolution ein völlig „neues Kapitel der menschlichen Entwicklung“ eröffne, welches durch die zunehmende Verfügbarkeit und Interaktion außergewöhnlicher Technologien gekennzeichnet sei.
Klaus Schwab: Die Zukunft der Vierten Industriellen Revolution. Wie wir den digitalen Wandel gemeinsam gestalten, München 2019, S. 21f.
(2) Klaus Schwab: Davos 2016. Die Vierte Industrielle Revolution. In: Handelsblatt, 20.01.2016.
(3) Klaus Schwab: Die Vierte Industrielle Revolution, München 2016, S. 149.
(4) Klaus Schwab: Die Zukunft der Vierten Industriellen Revolution. Wie wir den digitalen Wandel gemeinsam gestalten, München 2019, S. 113.
(5) Schwab, a.a.O., S. 252.
(6) Schwab, a.a.O., S. 247f.; S. 250.
(7) Schwab, a.a.O., S. 250.
(8) Schwab, a.a.O., S. 242f.
(9) Schwab, a.a.O., S. 227.
(10) Klaus Schwab: Die Vierte Industrielle Revolution, München 2016, S. 41f.; S. 225.
(11) Klaus Schwab: Die Zukunft der Vierten Industriellen Revolution. Wie wir den digitalen Wandel gemeinsam gestalten, München 2019, S. 237.
(12) Klaus Schwab: Die Vierte Industrielle Revolution, München 2016, S. 38; S.41.
(13) Schwab, a.a.O., S. 172.
(14) Klaus Schwab: Die Zukunft der Vierten Industriellen Revolution. Wie wir den digitalen Wandel gemeinsam gestalten, München 2019, S. 125.
(15) World Economic Forum: Shaping the Future of the Internet of Bodies: New challenges of technology governance. Briefing Paper, July 2020.
http://www3.weforum.org/docs/WEF_IoB_briefing_paper_2020.pdf
World Economic Forum: The Internet of Bodies is here. This is how it could change our lives, 04 jun 2020.
https://www.weforum.org/agenda/2020/06/internet-of-bodies-covid19-recovery-governance-health-data/
(16) Klaus Schwab: Die Vierte Industrielle Revolution, München 2016, S. 145f.
(17) Schwab, a.a.O., S. 122.
(18) Schwab, a.a.O., S. 20.
(19) Klaus Schwab/Thierry Malleret: Covid-19: Der große Umbruch, Genf 2020, S. 11f., S. 18.
(20) Schwab/Malleret, a.a.O., S. 178.
(21) Zit. nach: Naomi Klein: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt am Main 2016, S. 17.
(22) Klein, a.a.O., S. 20; S. 197.
(23) Klein, a.a.O., S. 32; S. 42; S. 23f.
(24) Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat: Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen.
https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/corona/szenarienpapier-covid19.html
(25) Klaus Schwab/Thierry Malleret: Covid-19: Der große Umbruch, Genf 2020, S. 18f.; S.11.
(26) Klaus Schwab: Die Vierte Industrielle Revolution, München 2016, S. S. 145f.
(27) Schwab, a.a.O., S. 143f.
(28) Schwab, a.a.O., S. 20.
(29) Klaus Schwab/Thierry Malleret: Covid-19: Der große Umbruch, Genf 2020, S. 178f.
(30) Schwab, a.a.O., S. 192ff.
(31) Schwab, a.a.O., S. 194f.
(32) Schwab, a.a.O., S. 197; S. 200.
(33) Schwab, a.a.O., S. 37.
(34) Schwab, a.a.O., S. 131.
(35) Klaus Schwab: Die Vierte Industrielle Revolution, München 2016, S. S. 46.
(36) Bill Gates: „Wir sind auf die nächste Pandemie nicht vorbereitet“. Interview von Stefan Kornelius. In: Süddeutsche Zeitung, 27. Januar 2021.
https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-pandemie-bill-gates-impfstoff-interview-1.5187121?reduced=true
(37) Nach Untersuchungen in Wuhan: Labor als Quelle des Coronavirus „extrem unwahrscheinlich“. In: Der Tagesspiegel, 09.02.2021. https://www.tagesspiegel.de/wissen/nach-untersuchungen-in-wuhan-labor-als-quelle-des-coronavirus-extrem-unwahrscheinlich/26898396.html
(38) Forscher: Labor als Coronavirus-Ursprung nicht auszuschließen. In: Austria Presse Agentur, 14.01.2021.
https://science.apa.at/power-search/7694447660294310648
(39) Roland Wiesendanger: Studie zum Ursprung der Coronavirus-Pandemie, February 2021.
http://doi.org/10.13140/RG.2.2.31754.80323 (40) Interview mit Wiesendanger: „Ich kann die Kritik nicht nachvollziehen“. In: n-tv.de, 19. Februar 2021.
https://www.n-tv.de/panorama/Ich-kann-die-Kritik-nicht-nachvollziehen-article22374133.html
(41) Universität Hamburg: Studie zum Ursprung der Coronavirus-Pandemie veröffentlicht. Breit angelegte Diskussion als Ziel, 18. Februar 2021, 8/21.
https://www.uni-hamburg.de/newsroom/presse/2021/pm8/pm-8-21.pdf
(42) Wiesendanger bekommt nun auch Gegenwind aus der Hamburger Uni. In: welt.de, Stand: 20.02.2021.
https://www.welt.de/regionales/hamburg/article226747299/Wuhan-Papier-Wiesendanger-bekommt-nun-auch-Gegenwind-aus-der-Hamburger-Uni.html
(43) Carl Friedrich v. Weizsäcker: Die Tragweite der Wissenschaft. Stuttgart 1990, S. 1f.
(44) v. Weizsäcker, a.a.O., S. 203; S. 3f.
(45) Joseph Weizenbaum mit Gunna Wendt: Wo sind sie, die Inseln der Vernunft im Cyberstrom? Auswege aus der programmierten Gesellschaft. Freiburg 2006, S. 166ff.
(46) Fritjof Capra: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. München 1999, S. 53f.
(47) Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, oder: Wie man mit dem Hammer philosophiert. In: Werke in drei Bänden. Zweiter Band. Frankfurt am Main, Wien 1994, S. 958.
(48) Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre. In: Werke in drei Bänden. Dritter Band. Frankfurt am Main, Wien 1994, S. 896.
(49) Herbert Pietschmann: Das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1983. S. 25.
In dem Film „Kaspar Hauser — Jeder für sich und Gott gegen alle“ lässt der Drehbuchautor und Regisseur, Werner Herzog, einem seiner Darsteller das Folgende sagen: „Logik heißt ‚schließen‘ — und nicht ‚beschreiben‘ (...) Ja, das Verständnis ist doch nicht das Ausschlaggebende, der Schluss ist doch das Wesentliche. Als Professor der Logik und Mathematik hab ich nicht Verstehen gelernt, sondern hab ich Schließen gelernt.“
(50) Fritjof Capra: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. München 1999, S. 131ff.
(51) Herbert Pietschmann: Das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1983. S. 325.
(52) Fritjof Capra: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. München 1999, S. 158.
(53) Horst Baier: Die Wirklichkeit der Industriegesellschaft als Krankheitsfaktor. In: Der Kranke in der modernen Gesellschaft. Herausgegeben von Alexander Mitscherlich, Tobias Brocher, Otto von Mering, Klaus Horn. Frankfurt am Main 1984, S. 46.
(54) Fritjof Capra: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. München 1999, S. 368.
(55) Capra, a.a.O., S. 169.
(56) Capra, a.a.O., S. 173.