Die Symptombekämpfung
Schärfere Gesetze schützen jüdische Bürger, werden den Antisemitismus aber nicht wirksam bekämpfen, solange man nicht eine seiner Ursachen in Israels Politik sucht.
Vor kurzem war der Präsident des World Jewish Congress (WJC) Ronald S. Lauder im Land, um Bundeskanzlerin Angela Merkel die Theodor-Herzl-Medaille, die höchste Auszeichnung des Jüdischen Weltkongresses, für ihre Bemühungen zu verleihen, das Nachkriegsversprechen „Nie Wieder!“ zu erfüllen. Nehmen wir es nicht so genau — den Angriffskrieg gegen Jugoslawien hatte Merkels Vorgänger Schröder zu verantworten und ihre Beteiligung an dem Krieg in Syrien wird Lauder als Kampf gegen den Terrorismus begrüßen.
Er hatte auch wohlweislich nicht den vollen Wortlaut des Versprechens „Nie wieder Krieg!“ zitiert, denn es ging ihm offensichtlich um etwas anderes: Nie wieder Faschismus und seine Folgen! Und dazu ergriff er die Gelegenheit, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 25. Oktober 2019 auf eine neue vom WJC in Auftrag gegebene Studie aufmerksam zu machen, die ein bedenkliches Anwachsen des Antisemitismus in Deutschland herausgefunden hatte. 27 Prozent aller Deutschen und 18 Prozent der deutschen Eliten, welche das auch immer sind, seien antisemitisch. Und er stellt die berechtigte Frage: „Was treibt diesen gefährlichen Trend an?“
Lauder identifiziert auf der einen Seite den traditionellen neonazistischen Antisemitismus, dessen Rassismus und Hass er auch das Attentat von Halle anlastet. Auf der anderen Seite sieht er den radikalen muslimischen Antizionismus, „der sich in vielen Bereichen mit dem traditionellen Antizionismus einer extremen Fraktion der deutschen Linken deckt“.
Doch auf die Frage, was denn nun „diese neue Dynamik“, die einen „Hass gegen Israel und alle Juden fördert, mit dem Antisemitismus im Gewand des Zionismus normalisiert werden soll“ nun wirklich antreibt, weiß Lauder so recht auch keine Antwort.
Er beklagt die Blindheit gegenüber dem offensichtlichen „Ausschluss vom öffentlichen Leben“, die Marginalisierung jüdischer Bürger und den „Mangel an Bildung“, der seiner Meinung nach zu dem alarmierenden Anstieg von Antisemitismus beiträgt.
Das mag ein Faktor für den gewöhnlichen, seit Jahrzehnten in allen europäischen Gesellschaften anzutreffenden Antisemitismus sein. Er erklärt aber nicht, warum offenbar in jüngster Zeit quer durch ganz Europa der Antisemitismus ansteigt, wie Lauder der Studie entnimmt. Es bestehen zudem genügend Zweifel an der Wirksamkeit verstärkter Bildungsanstrengungen mit der Aufklärung über die Geschichte und das Schicksal des Judentums in Europa und speziell in Deutschland. Bildungsbürgertum und die sogenannten Eliten sind nicht immun gegenüber dem Antisemitismus. Das hat die europäische Geschichte und jetzt offensichtlich auch die Studie des WJC erwiesen.
Wenn Lauder aber den muslimischen Antizionismus mit dem der deutschen Linken als neue Form des Antisemitismus verbindet, berührt er nur die Oberfläche eines Problems, dem er allerdings nicht tiefer auf den Grund gehen will.
Antizionismus ist nicht nur begrifflich etwas anderes als Antisemitismus. Und Lauder weiß offensichtlich zu genau, dass der Antisemitismus keine Wurzeln in den arabischen Ländern hat.
Ihr Antizionismus entwickelte sich erst mit der jüdischen Kolonisierung Palästinas und verstärkte sich mit der Gründung Israels und den anschließenden Kriegen bis 1973.
Dass aus dieser Ablehnung der zionistischen Landnahme bei vielen Arabern ein Hass auf die Siedler mit antisemitischen Zügen wurde, erklärt sich am ehesten aus der Härte und Brutalität des Besatzungsregimes, welches das Land mit einem System der Apartheid überzog.
Hinzu kommt die totale Weigerung der israelischen Regierungen, die Resolutionen der UNO und das Völkerrecht zu akzeptieren, die dem palästinensischen Volk ein menschenwürdiges Leben in einem oder zwei Staaten garantiert. Das weiß auch Lauder.
Er weiß auch, dass der Antizionismus der Linken allein aus der Kritik an der Eroberungs- und Annexionspolitik eines aggressiven Zweigs des Zionismus folgt, der die offizielle israelische Regierungspolitik beherrscht. Dieser Antizionismus hat ebenfalls nichts mit Antisemitismus zu tun. Wann immer er in Antisemitismus umzuschlagen droht, wird er von der Linken bekämpft. Wenn Lauder trotzdem diesen Antizionismus mit Antisemitismus identifiziert, so offensichtlich deshalb, weil die fehlenden Argumente gegen den Antizionismus nur durch den Vorwurf des Antisemitismus ersetzt werden können. Nicht, wie Lauder meint, soll der „Antisemitismus im Gewand des Zionismus normalisiert“, sondern der Antizionismus im Gewand des Antisemitismus skandalisiert werden.
Lauder sollte allerdings auch wissen, dass das von ihm so sehr gelobte Maßnahmenpaket von Innenminister Seehofer keine Mittel gegen den Antisemitismus bereithält.
Der Schutz von Synagogen und jüdischen Einrichtungen, so wichtig er auch ist, die Verschärfung des Strafrechts gegen Täter antisemitischer Angriffe und Hassverbrechen, die Erhöhung des Strafmaßes für Online-Veröffentlichung von antisemitischen Hass-Beiträgen und die Entfernung von Antisemiten aus den Parteien mögen die Sicherheit jüdischer Institutionen und ihrer Mitglieder erhöhen, zur Bekämpfung des Antisemitismus sind sie aber untauglich.
Und wenn er die „Erweiterung der rechtlichen Definition des Antisemitismus“ fordert, um ihn offensichtlich mit juristischen Mitteln bekämpfen zu können, wird in der nächsten Studie vermutlich nur die weitere Erhöhung der Prozentzahl antisemitischer Überzeugungen in Deutschland festgestellt.
Schon heute zielt die Kategorie „israelbezogener Antisemitismus“ in der landläufigen Antisemitismusdefinition auf die Kritik an der israelischen Regierung, die als solche nichts mit Antisemitismus zu tun hat. Nur allzu offenkundig soll mit dieser Ausweitung der Definition die israelische Besatzungspolitik vor der Kritik geschützt werden. Dem Präsidenten des WLC sollte aber in New York doch bekannt sein, zu welchen Beschränkungen der Meinungsfreiheit und Angriffen auf die Versammlungsfreiheit diese unsinnige Kategorie auch in seinem Land benutzt wird.
Die Diskussionsverbote und Raumkündigungen, die mit dem Vorwurf des Antisemitismus begründet werden, beschäftigen mehr und mehr die Gerichte und erzeugen ein Klima der Einschüchterung, welches bereits mit dem McCarthyismus in den USA verglichen wird.
Der Forderung nach mehr Bildung sprechen sie geradezu Hohn. Denn sie verdecken nur mühsam, dass der wachsende Antizionismus mit der zunehmenden Radikalität und Aggressivität der Besatzungspolitik zusammenhängt. Die definitive Weigerung aller israelischen Regierungen, die Besatzungs- und Annexionspolitik zu beenden, straft ihr gleichzeitiges Bekenntnis zu einer Zwei-Staaten-Lösung Lügen und hat den Regierungen alle Glaubwürdigkeit genommen.
Wer diese Kritik und die verschiedenen Formen ihrer öffentlichen Äußerung, sei es durch die Free-Gaza Flottille oder die BDS-Bewegung, als Formen des Antisemitismus zu delegitimieren versucht, schafft sich nur selbst zwei Probleme. Er wird ein stetiges Ansteigen des Antisemitismus registrieren müssen, bis die Besatzungspolitik beendet und die Palästinenser das erhalten haben, was die Juden seit 1948 haben, einen lebensfähigen Staat auf der Basis ihres Selbstbestimmungsrechts. Und wenn er sich nach wie vor weigert, die Besatzung und die beharrliche Missachtung des Völkerrechts als einen wesentlichen Grund für den weltweiten Antisemitismus zu erkennen, wird er genauso wie Lauder selber nie eine Antwort auf dessen Frage finden: „Was tut Ihr dagegen?“
Es ist leider ein durchgängiges Merkmal der Blindheit der Klage über den ansteigenden Antisemitismus, dass sie es nicht wagt, die Ursachen auch in der israelischen Politik zu suchen. Das ist nicht etwa den bis ins Groteske gehenden Abwehrversuchen der sogenannten Anti-Deutschen geschuldet, sondern der offiziellen Tabuisierung der Politik Jerusalems aus Angst, selbst als Antisemit gebrandmarkt zu werden.
Man käme andernfalls auch unter dem Druck, sich wirksamer und kompromissloser für die Beendigung der Besatzung und die Rechte der Palästinenser einzusetzen. Man mag es Feigheit oder die notwendige Zurückhaltung, die die deutsche Geschichte gebiete, nennen, es ist ein Erbe dieser unseligen Geschichte.
Die Unwilligkeit, die israelische Politik zu zwingen, sich an die UNO-Charta zu halten, die sie bei der Aufnahme in die UNO unterzeichnet hat, Frieden zu geben und den Palästinensern die Rechte zu gewähren, die sie selbst in Anspruch nimmt, ist ein Zeichen dafür, dass diese unselige Geschichte trotz aller Gedenkreden, Rituale und Wiedergutmachungen noch lange nicht akzeptiert und aufgearbeitet ist. Deutschland hat sich noch „nicht wirklich von seiner schwierigen Vergangenheit gelöst“, wie Lauder vermutet. So lange das nicht gelingt, wird auch der Kampf gegen den Antisemitismus keine Erfolge erzielen können.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Das Free Gaza Movement ist eine internationale, pro-palästinensische Organisation, die in Nikosia registriert ist. Die eingerichtete Flotte versuchte nach eigenen Angaben insgesamt zehnmal, auf dem Seeweg nach Gaza zu gelangen, unter anderem im Mai 2010. Diese Flotte wurde am 31. Mai 2010 — wie zuvor bereits mehrfach von Israel angekündigt — von der israelischen Marine in internationalen Gewässern geentert. Dabei kamen neun Menschen ums Leben.
(2) Boycott, Divestment and Sanctions (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen, abgekürzt BDS) ist eine palästinensische Kampagne, die den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will, um ihn zur Einhaltung des Völkerrechts zu zwingen und die 2005 beschlossenen Ziele der Kampagne durchzusetzen: Israel müsse die „Okkupation und Kolonisierung allen arabischen Landes“ beenden, das „Grundrecht seiner arabisch-palästinensischen Bürgerinnen und Bürger auf volle Gleichheit“ anerkennen und „das Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf eine Rückkehr in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum gemäß UN-Resolution 194 schützen und fördern.“