Die Süchtigmacher
Mit unlauteren Werbepraktiken für Schmerzmittel trieben US-Pharmakonzerne Tausende in die Abhängigkeit — die Verantwortlichen werden nur selten belangt.
Statt Schmerz zu lindern, potenzierten die in den USA vertriebenen Opioide diesen um ein Vielfaches. Diese Schmerzmittel machen jene, die sie einnehmen, ungemein schnell süchtig. Die Vertriebspraktiken der produzierenden Konzerne ermöglichten es, dass diese Präparate sehr schnell über die Theke gingen. Zu schnell. Die weitverbreitete Sucht hat sich mittlerweile zu einer nationalen Krise aufgebläht. Der in der Coronapandemie viel beschworene exponentielle Anstieg lässt sich nun in der Statistik der Drogentoten finden. Für dieses Verbrechen müssten in einem funktionierenden Rechtssystem die Schuldigen geradestehen. Doch die Verantwortlichen aus der Pharmaindustrie kommen — gemessen an der Dimension ihrer Taten — in den allermeisten Fällen ungeschoren davon, so sie überhaupt belangt werden.
Mitte Mai 2022 veröffentlichte das amerikanische Gesundheitsministerium die neuesten Zahlen der Drogentoten in den USA. Demnach starben 2021 etwa 108.000 Menschen an Drogen, ein Anstieg um 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr (1). Im Jahr 2019 waren es noch etwa 71.000 (2).
In den beiden Coronajahren 2020 und 2021 nahm die Zahl der Drogentoten also um mehr als 50 Prozent zu.
Seit dem Jahr 2000 starben in den USA offiziell mehr als eine Million Menschen an Drogen (3). Das entspricht genau der offiziellen Zahl sämtlicher Covidtoten bis zum 19. Mai 2022 in den USA (4). Ein anderer Vergleich: Im Vietnamkrieg starben von 1961 bis 1975 rund 68.000 US-Soldaten (5).
Die Hauptdrogen, die zum Tod führen, sind sogenannte Opioide, künstlich hergestellte synthetische Drogen, insbesondere Fentanyl, das etwa 50-mal stärker wirkt als Heroin (6). Als ein Grund für den dramatischen Anstieg in den Jahren 2020 und 2021 wurden von der Pharmazeutischen Zeitung im Januar 2022 die Coronamaßnahmen genannt:
„Wegen der Pandemie mussten viele Institutionen zeitweise schließen. Süchtige saßen isoliert zu Hause, wenn sie denn eines hatten“ (7).
Die Kosten der Opioidabhängigkeit und -toten wurden für das Jahr 2018 in den USA, also vor dem starken Anstieg während der Covidzeit, vom The Economist mit 696 Milliarden Dollar oder 3,4 Prozent des US-Sozialprodukts angegeben (8).
Wichtige Treiber für die rasant steigenden Suchtzahlen der vergangenen Jahre waren die Vertriebspraktiken der Pharmakonzerne. Laut Tagesschau waren unter anderem Johnson & Johnson sowie drei weitere Konzerne „beschuldigt worden, mit Schmerzmitteln zur grassierenden Medikamentenabhängigkeit in den USA beigetragen und Schmerzmittel unter Verschleierung der Suchtgefahren mit rücksichtslosen und aggressiven Methoden vermarktet zu haben“ (9).
Die Tagesschau zitiert die US-Generalstaatsanwältin Letitia James:
„Die zahlreichen Unternehmen, die Opioide hergestellt und in der ganzen Nation verteilt haben, taten dies ohne Rücksicht auf Leben oder sogar auf die nationale Krise, die sie mitbefeuert haben“ (10).
Wegen dieser Praktiken haben sich vier beschuldigte Konzerne im Juli 2021 bereit erklärt, bis zu 26 Milliarden Dollar Entschädigung zu zahlen, um weitere Klagen abzuwenden (11).
Kurz darauf, im September 2021, hatte sich die US-amerikanische Familie Sackler vor Gericht bereit erklärt, 4,5 Milliarden Dollar Entschädigung zu zahlen. Das Handelsblatt schreibt dazu:
„Ihr Name steht wie kein anderer für die Opioid-Epidemie in den USA: die Sackler-Familie. Die Sacklers sind die Besitzer des Pharmakonzerns und Oxycontin-Herstellers Purdue, der mit der Abhängigkeit Milliarden machte.
Es ist ein legales, aber extrem schnell abhängig machendes opioidhaltiges Mittel, das die Familie bewusst in den Markt drückte. Sie gilt als Hauptverantwortliche für die Opioid-Epidemie, die rund einer halben Million Amerikanern das Leben gekostet hat“ (12).
Meine Frage in diesem Zusammenhang lautet:
Warum kommen Konzerne und Konzernlenker, die Hunderttausende von Menschen wissentlich in Abhängigkeit und Tod treiben mit einer Geldstrafe davon, die möglicherweise nur einen kleinen Bruchteil der erwirtschafteten Gewinne ausmacht? Warum wird ein Kapitalverbrechen nicht mit Gefängnis bestraft?
Im Frühjahr 2019 war dies in den USA einmal geschehen: Damals waren fünf Manager der Firma Invys für ihre kriminellen Opioid-Vertriebspraktiken hinter Schloss und Riegel geschickt worden (13). Der Hauptverantwortliche, John Kapoor, wurde zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und soll im Dezember 2024 wieder entlassen werden (14). Andrew Kolodny, Codirector der Opioid Policy Research an der Heller School for Social Policy and Management der Brandeis University, sagte dazu seinerzeit:
„Ich hoffe, dass wir mehr Kriminalverfolgungen gegen Opioidhersteller sehen werden. (…) Eine Strafzahlung oder eine Zivilklage ist nicht angemessen, wenn wir Unternehmen davon abhalten wollen, Menschen für Profitzwecke zu töten” (15).
Genau das fand aber im Anschluss statt: Strafzahlung statt Kriminalverfolgung. Warum? Die Anwälte der fünf im Jahr 2019 zu Haftstrafen Verurteilten meinten, Invys sei nur ein „Kleindarsteller“ („a bit player“, 16) gewesen. Das würde zu dem bekannten Spruch passen: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Das ist meiner Meinung nach ein besonders wichtiger Teil des US-Opioid-Skandals: Die wirklich Reichen und Mächtigen kommen wieder einmal davon.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.cdc.gov/nchs/pressroom/nchs_press_releases/2022/202205.htm
(2) https://www.cdc.gov/drugoverdose/deaths/index.html#:~:text=In%202019%2C%2070%2C630%20drug%20overdose,driver%20of%20drug%20overdose%20deaths.
(3) https://www.wsj.com/articles/drug-overdose-deaths-reached-a-record-in-2021-fueled-by-fentanyl-11652277600
(4) https://www.nytimes.com/2022/05/19/us/us-covid-deaths.html
(5) https://www.google.com/search?q=vietnamkrieg+tote+usa&rlz=1C1GCEU_deDE922DE977&oq=vietnamkrieg+tote+usa&aqs=chrome..69i57.7015j0j15&sourceid=chrome&ie=UTF-8
(6) https://www.wsj.com/articles/drug-overdose-deaths-reached-a-record-in-2021-fueled-by-fentanyl-11652277600
(7) https://www.pharmazeutische-zeitung.de/opioid-krise-in-den-usa-noch-schlimmer-als-zuvor-130547/
(8) https://www.economist.com/business/2020/01/16/the-wider-effects-of-americas-opioid-epidemic?cid1=cust/dailypicks1/n/bl/n/20200117n/owned/n/n/dailypicks1/n/n/n/382825/n
(9) https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/opioid-krise-usa-vergleich-milliarden-schadenersatz-schmerzmittel-missbrauch-101.html
(10) Ebenda.
(11) Ebenda.
(12) https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/pharmabranche-opioid-epidemie-oxycontin-hersteller-familie-sackler-muss-milliarden-zahlen-/27574964.html
(13) https://www.bostonglobe.com/metro/2019/05/02/jury-returns-verdict-insys-
(14) https://en.wikipedia.org/wiki/John_Kapoor
(15) https://www.bostonglobe.com/metro/2019/05/02/jury-returns-verdict-insys-trial/KeiTKLXZnnBZnOulLED17M/story.html: „I’m hopeful that we will see more criminal prosecutions against opioid manufacturers (…) Paying a fine or even civil litigation is inadequate if we want to deter corporations from killing people in their pursuit of profit.”
(16) https://www.bostonglobe.com/metro/2019/05/02/jury-returns-verdict-insys-trial/KeiTKLXZnnBZnOulLED17M/story.html