Die spiegelverkehrte Kritik
Plötzlich arbeitet sich der Spiegel an „Coronadiktatur“ und „Zero-Covid-Ideologie“ ab — allerdings stört ihn dies nur in China und nicht vor der eigenen Haustüre in Deutschland.
Ungläubiges Augenreiben am Kiosk. Ganz gleich, ob man zu jenen gehört, die in den letzten zwei Jahren kritisch waren oder zur Mehrheit, die jede noch so absurde Maßnahme mitgetragen hat. Die 49. Ausgabe des Spiegel vom 3. Dezember ziert eine junge, gepiercte Chinesin in Aufstandsmontur. Darunter steht in gelben Lettern geschrieben: „Das Virus der Freiheit“. Der Untertitel verspricht dem Leser, dass die Titelstory aufarbeite, warum die Null-Covid-Ideologie China erschüttert habe. Hat man sich in der Hamburger Redaktion zu der Erkenntnis und dem Eingeständnis durchgerungen, dass die verbrecherische Corona-Politik ein einziger großer Fehler war? Das Cover lässt dies hoffen, doch bereits ein oberflächlicher Blick auf die Titelstory offenbart, dass im Grunde genommen alles beim Alten bleibt und die eigene Mitschuld nun schlicht auf einem Sündenbock abgeladen wird: Xi Jingpings China.
„Rücktrittsforderungen (...) , Rufe nach Meinungs- und Pressefreiheit oder nach einem Ende der Null-Covid-Politik — bis vor wenigen Tagen war es undenkbar, so etwas in der Volksrepublik öffentlich auszusprechen.“ (1) Bis vor wenigen Tagen war es undenkbar, so etwas im Spiegel zu lesen, möchte man als kritischer Leser unmittelbar anmerken. Es hat wirklich etwas Befremdliches. Eine Ausgabe des Spiegels in Händen zu halten und darin Begriffe wie „Das Virus der Freiheit“ oder „Coronadiktatur“ zu lesen. Diese Wörter waren ohne Anführungsstriche in gedruckter Form bislang nur in einschlägigen Printerzeugnissen der Maßnahmenkritikerbewegung zu lesen. Und nun bedient sich der Spiegel in seiner Berichterstattung über China dieser Vokabeln.
In diesem Zusammenhang ist es lohnenswert, sich an die Bedeutung dieser Wörter zu erinnern, die diese bis vor Kurzem noch hatten.
- Über das Wort „Coronadiktatur“ wusste der Spiegel am 10. Januar 2021 noch zu berichten, dass es sich um das Unwort des Jahres 2020 gehandelt hatte. Interessant, wie schnell die zu Unwörtern erklärten Begriffe in der Redaktion „salonfähig“ werden, sodass sie nach kurzer Zeit freiheraus in den Sprachgebrauch der Redakteure Einzug halten.
- „Zero-Covid“. Anfang 2021 war dies noch der Kompass der vorgeblichen „Vernunft“ und des „Team Wissenschaft“, die ultimative Zielvorgabe, die es unbedingt mittels eines europaweiten Shutdowns zu erreichen galt. Am 18. Januar 2021 berichtete der Spiegel nahezu unkritisch über diese Kampagne — lediglich im letzten Abschnitt verweisen die Autorinnen Irene Berres und Nina Weber auf „mehrere Ökonomen“, „einige Wissenschaftler“ und Hendrik Streek, die diese Forderungen kritischen sehen würden. Im Beitrag wird die Petition zu Zero-Covid sogar verlinkt, es fehlt im Grunde nur noch die Bitte, diese zu unterschreiben. Das Wort „Ideologie“, mit welchem „ZeroCovid“ in Ausgabe 49 aktuell behaftet wird, fehlt indes vollkommen. Im Grunde genommen müsste sich der Spiegel rückwirkend als ideologisiert bezeichnen, was selbstredend nicht passiert.
- Und zu guter Letzt der Begriff „Virus der Freiheit“ beziehungsweise das „Freiheitsvirus“. Welche Gruppierung hatte diesen Begriff bereits 2020 in den abseits des Mainstreams stattfindenden Diskurs eingeworfen? Richtig! Querdenken-711. Der Spiegel bedient sich nun — wenn man so möchte — eines „Querdenken-Sprechs“. An der rechtlich zweifelhaften Inhaftierung des Gründers Michael Ballweg ändert dies hingegen nichts — die Aerosolfilteranlage der JVA Stammheim filtert wohl das Freiheitsvirus.
Spiegel-Projektionsfläche China — Unfrei sind nur die anderen
„Sagen, was ist“, lautet ein bekanntes Zitat des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein. Und dem kommt die Spiegel-Ausgabe, die wir hier betrachten, im ersten Moment auch nach. Die Proteste in China sind ob ihrer historischen Dimension durch und durch so relevant, dass westliche Medien darüber berichten. Die Demonstrationen und das darauf folgende Zusammenstoßen der Bürger mit der chinesischen Staatsgewalt entflammten angesichts eines Hochhausbrands in Ürümqi im westchinesischen Xinjiang. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätten die strikten Anti-Covid-Maßnahmen zur Folge gehabt, dass die Feuerwehr nicht schnell genug zum Ort des Brandes heraneilen und diesen hätte löschen können. Dies habe die Gemüter des seit Monaten durch Extrem-Lockdowns gemarterten Volks überkochen lassen.
Die Titelstory über diese Volkszorn-Entladung versuchen die Autoren durch das Porträtieren eines Einzelschicksals dem westlichen Rezipienten persönlicher, menschlicher näherzubringen. Der einsame Protagonist ist der junge Finanzwissenschaftsstudent Jianghan (Name geändert) aus Shanghai, der sich in Ermangelung an Stellen, die seinen Qualifikationen entsprechen, von einem prekären Job zum nächsten hangeln muss. Nach dem Ereignis von Ürümqi schloss er sich den Demonstrationen an und wurde selbst Opfer polizeilicher Repressionen. Eindrücklich wie beklemmend beschrieben wird das Leben in dem totalitären Polizeistaat China.
Doch wer nun hofft, dass im Spiegel schlussfolgernd die Corona-Lüge als solche benannt werden würde, wird schon in den ersten Absätzen enttäuscht. Die ganze Titelstory ist eine Feigenblatt-Maßnahmenkritik im Rahmen der Corona-Herrschaftslogik.
Hinterfragt werden nicht die Maßnahmen selbst, sondern nur die Art der Anwendung sowie der Härtegrad, von dem die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) Gebrauch macht. Die Notwendigkeit von Tests, Masken und Impfungen bleiben unverändert das Axiom, auf welchem der ganze Beitrag aufgebaut ist.
Daraus ergibt sich bereits die Antwort auf die sich unmittelbar aufdrängende Frage, warum eine solche Spiegel-Berichterstattung über die Zustände hierzulande, hervorgerufen durch die deutsche Covid-Politik, in den letzten zweieinhalb Jahren ausgeblieben ist. Ein solch kritisches Beäugen und Hinterfragen der deutschen Corona-Restriktionen durch die vierte Macht war aus Sicht des Spiegels wohl nie von Nöten gewesen, da die Maßnahmen selbst a priori als richtig und legitim erachtet werden. Die Maßnahmen werden erst dann zum Gegenstand einer Kritik, wenn sie einem zum Feindbild erklärten Land — China — angelastet werden können und das, obwohl die Maßnahmen sich prinzipiell nicht von den hiesigen unterscheiden, sondern lediglich auf einer höheren Stufe angewendet werden.
Wirft man zum Schluss noch einen Blick auf die Autoren des Beitrags, so wird letztlich klar, dass in der Spiegel-Redaktion gar kein neuer Wind weht. Für die Titelstory verantwortlich sind die beiden Peking-Korrespondenten Georg Fahrion und Christoph Giesen sowie der in New York ansässige Bernhard Zand. Bei den erstgenannten Korrespondenten reiht sich ihr Beitrag — der es nun zur Titelstory „geschafft“ hat — nahtlos in die übrige China-Berichterstattung der letzten Jahre ein. Sehr häufig zeichnen beide für die gleichen Beiträge verantwortlich. Die Kritik an Chinas Lockdown-Politik zieht sich wie ein roter Faden durch das Artikelarchiv der beiden Spiegel-Autoren. Kritisiert werden die rigiden Isolationsmaßnahmen, die zentralistische Machtausübung sowie die lückenlose Überwachung mitsamt des Einsatzes von Tracking-Apps. Im Grunde genommen genau das, was die Maßnahmenkritiker in Deutschland verurteilten.
Sündenbock als Verbrechensverschleierung
Wir sehen, so neuartig — wie es das neue Spiegel-Cover suggeriert — ist die Maßnahmen-kritische Berichterstattung über China im Spiegel gar nicht. Neu ist lediglich, dass diese nun prominent in der Printausgabe platziert wird.
In diesem Zusammenhang ist dann doch bemerkenswert, dass der Spiegel keine Kosten und Mühen scheut, die Maßnahmen in China zu kritisieren, es aber gleichzeitig sträflich versäumte, über die Verwerfungen und Schäden der Coronamaßnahmen in Deutschland und die damit verbundenen Einzelschicksale adäquat zu berichten.
Nicht nur, dass das vormalige Qualitätsmagazin über diese Schäden in Deutschland nicht berichtete — im Gegenteil beteiligte sich das Magazin eifrig daran, den Diskurs mit Kampfbegriffen und Framing zu verpesten oder gar komplett zu ersticken. All jene, die Kritik übten oder ihren Unmut über die Maßnahmen in irgendeiner Weise kundtaten, wurden auch vom Spiegel massiv attackiert. Exakt zwei Jahre vor dem Zeitpunkt dieser Niederschrift formulierte im Spiegel der Politikressortleiter von RTL und n-tv Nikolaus Blome den Ausruf, der mittlerweile traurige Berühmtheit erlangte und das Cover des neuen Rubikon-Bestsellers ziert: „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie (die Ungeimpften) zeigen“.
Eine wahrlich bemerkenswerte wie schizophrene Doppelstrategie ist das, die Corona-Opposition in Fernost hochzujubeln und im eigenen Land niederzuschreiben. Für die Schreibtischtäter und Corona-Demagogen trägt dies nun dankenswerte Früchte in einer Phase, da das Kartenhaus des Corona-Narrativs in sich zusammenfällt und die Täterschaft immer unübersehbarer zum Vorschein kommt.
Man hat seit Beginn der Corona-Lüge einen Sündenbock in Gestalt des chinesischen Drachens aufgebaut, der nun medial geschlachtet werden kann, um von den eigenen „Sünden“ abzulenken. Die Täter der Corona-Verbrechen können die Relativierung und Verharmlosung ihrer Taten nun auch damit untermauern, dass es im schrecklichen Reich der Mitte ja viel schlimmer gewesen wäre.
Selbstredend darf nicht zugelassen werden, dass sich die Verantwortlichen der Corona-Massenverbrechen hierzulande über die harte Kritik an China aus der Affäre ziehen. Allein schon deswegen nicht, da sich deutsche Entscheidungsträger vom chinesischen Lockdown-Modell maßgeblich haben inspirieren lassen. Und hinsichtlich der hierzulande verübten Verbrechen tut es nichts zu Sache, dass die Erfindernation dieses menschenverachtenden Biopolitik-Modells selbiges noch rigider anwendete als die ihr nacheifernden Importeure. Die Schäden — Insolvenzen, zerfetzte Beziehungen, Traumatisierungen und bislang nur schwerlich zu beziffernde Schäden durch die hochtoxischen Genspritzen — wurden hierzulande durch teils namentlich bekannte und damit rechtlich belangbare Täter verursacht.
Es darf nicht dazu kommen, dass es heißt: „Möge die gesamte Republik mit Finger auf China zeigen.“ Nein, alle Corona-Täter der jeweiligen Länder haben für das gerade zu stehen, was sie in ihrem jeweiligen Land angerichtet haben. Die Täter müssen sich ihrer eigenen Täterschaft stellen, in einem ordentlichen Gerichtsverfahren zu einer jeweils angemessenen Strafe verurteilt werden und Wiedergutmachung leisten. Nur über diesen schmerzlichen Weg können die Täter sich vielleicht eines Tages wieder selbst ansehen, im Spiegel.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Siehe Der Spiegel, Ausgabe 49 vom 3. Dezember 2022, Seite 11.