„Die sind wohl was Besseres“

Es ist an der Zeit, sich von linken Überheblichkeitsgefühlen zu verabschieden, Teil 2.

Zum Circa-50-jährigen Jubiläum der Nach-68er gratulieren wir der Ethik als philosophischem Fach herzlichst. Nie hatte sie so moralische, so gute und porentief reine Vertreter. Gutmensch ein Unwort? Stimmt, weil es kein Komparativ ist!

Wie bereits vor einigen Tagen gesagt: 1968 war gar nicht das Jahr, in dem die Linken zu ihrem heutigen Bewusstsein gelangten. Erst in den nachfolgenden Jahren, so zwei bis vier Jahre danach, schuf man die Grundlage für die heutigen Linken im Lande. In jenen Jahren verzog man sich in ein intellektuelles Schneckenhäuschen, versuchte sich alternativ und etablierte eine Nomenklatur, in der das Ich nicht mehr in der Masse aufging, sondern die Masse am blitzgescheiten und erleuchteten Ich, welches sich ins Reich des Kontemplativen verabschiedet hatte, lernen und reifen sollte. Die Politik, in der begrifflich ja die Polis steckt, wurde auf das moralische Individuum reduziert.

Der große Unterschied zwischen dieser Neuen Linken und dem linken Traditionalismus ist eine moralische Frage: Denn während für die Vorväter der moralische Impuls eine untergeordnete Rolle spielte, dafür die konkrete Handlungsstrategie im Vordergrund stand, entschieden sich die Neulinken für eine Kurskorrektur. Ihr Instrument sollte die Moralkeule und ihre Hormonkur das Moralin sein. Gewerkschafter und Sozialdemokraten zeigten noch eine gewisse Toleranz, konnten auch aushalten, wenn jemand eine andere Sichtweise hatte – die Neuen wollten nichts mehr aushalten, sie waren narzisstisch genug, um sich als Wächter der Moral aufzuführen. Toleranz blieb natürlich, als Gebot, das man anderen nachdrücklich ans Herz legt, ein politischer Verkaufsschlager dieser Leute. Das hieß aber bitte noch lange nicht, dass sie tolerant sein mussten.

Die Ästhetik reinen Herzens

Man muss jenen Linken ja schon eine gewisse Liebe zur Schönheit am Unbefleckten attestieren. Der heterosexuelle Weiße liegt momentan freilich in tiefer Agonie, seine Zeit als Alleinherrscher ist tatsächlich vorbei. Weiß zu sein ist aber kein Makel. Der Mensch mit weißer Weste zum Beispiel: Seine Zeit ist unter Linken erst angebrochen. Ohne Fehl und Tadel: So muss der neue Mensch nämlich sein. Seit Jahrzehnten ist dieser moralische Rigorismus jetzt so ein Ladenhüter; er macht linke Ideen zu Gedanken, die keiner hören will, weil der Zelot einfach nicht der menschlichen Selbstwahrnehmung entspricht. Ein Leben in moralischer Unantastbarkeit passt bestenfalls ins Kloster des 18. Jahrhunderts, aber nicht in den politischen Betrieb – schon gar nicht des 21. Jahrhunderts. Und trotzdem sehen sich jene linken Linken am liebsten ganz in Weiß.

»Muss der Handelnde schuldig werden, immer und immer? Oder, wenn er nicht schuldig werden will, untergehen?«, fragte Monika Maron in ihrem Roman »Stille Zeile Sechs«. Sie bezog sich auf Ernst Toller, den politischen Schriftsteller und führenden Kopf der Münchner Räterepublik, dessen leitmotivische Frage exakt dies gewesen sei. Tollers Thema war für viele Jahre die Diskrepanz zwischen dem, was sein soll und dem, was wird, zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Ideal und dem Dilemma, im irdischen Sachzwang zu leben. In einem Brief an Stefan Zweig schrieb Toller mal, dass »das Absolut-Gute, das Paradies auf Erden« nicht erschaffen wird, » (...) es handelt sich einzig darum, für das relativ beste, das der Mensch finden und verwirklichen kann, zu kämpfen«.

Philosophisch gesehen heißt Existieren auch immer Schuldner zu sein. Das ist Teil menschlicher Konditionierung, ja nicht zuletzt ontologische Prämisse. Wer lebt, hat sich gegen die durchgesetzt, bei denen es nicht zum Leben reichte – rein embryonal betrachtet. Dass der Mensch ein Sünder ist, das ist natürlich ein alter Hut der katholischen Kirche – und trotzdem nicht ganz falsch. Er kann gar nicht anders als moralisch fehlgehen, so ist er gemacht. Unsere Künstlerlinken tadeln das, sie beweisen doch, dass es so nicht sein müsste. Moral ist doch so einfach, was man tun und lassen sollte, man muss sie doch nur fragen – und es dann brav wie befohlen umsetzen. So würde es was mit der Welt! Und wenn man moralisch handelt, dann bitte genau auf die Weise umsetzen, wie es die Moralhüter empfehlen. Keinen Millimeter weiter nach rechts, denn das wäre tatsächlich moralisch fahrlässig, ja wenn nicht sogar schon der traurige Versuch, dem Faschismus Vorschub zu leisten.

Unorthodox? Nicht mit deutschen Linken! Wo käme man bitte hin, wenn es für dies oder jenes auch die oder jene Antwort gäbe? Nein, es muss eine verbindliche Antwort, einen ethischen Verwaltungsakt geben, der klar regelt, wie man mit einer Sache umgeht. Wählen gehen zum Beispiel: Wenn Sie die Linkspartei wählen möchten, weil die verspricht den Mindestlohn zu erhöhen, dann ist das ganz falsch, ein völlig verfehlter Ansatz. Wie können Sie denn nur so dumm sein? Denn wer wählt, der stabilisiert doch das System, der sagt Ja zum Kapitalismus. Ein aufgeklärter linker Mensch wählt nicht, er ist doch viel zu moralisch um sich eine Wahl anzumaßen. Er ist Ästhet genug, sich zurückzulehnen und zu mahnen, weil er sich nämlich die Finger nicht in unmoralischem Brackwasser verdrecken will. Und dann holt er süffisant die schwarze Liste aus der Gesäßtasche und liest vor, was diese Linkspartei schon alles in Kauf genommen hat in ihrer Geschichte. Die hat echt Kompromisse gemacht. Ist das bitte noch moralisch? Ist das noch links?

Wer noch immer Gutmensch ist, steckt in seiner Entwicklung fest

Der kategorische Imperativ ist keine Lebensberatung, sondern eine ethische Theorie. Selbst Immanuel Kant war das klar, weswegen er den Menschen auch nicht zu viel moralischen Eifer ans Herz legte – er kannte jedoch die Linken nach 1968 nicht, denn die sind die wohl ersten wirklich wahren reinen Vertreter des Menschengeschlechts. Erst sie haben die Moral zur Priorität erhoben, noch vor dem Fressen habe sie zu kommen – und nicht etwa so, wie Bertolt Brecht meinte, aber der hatte ja auch nur für drei Groschen Ahnung. Nur wer unzweifelhaft linientreu ist, wer seine innere Ethikkommission als absoluten Anspruch nicht nur an sich, sondern auch an seine Mitmenschen stellt, darf sich sicher sein, ein richtig guter Mensch zu sein.

Aber gut ist eben nicht gut genug. Der »Gutmensch« erreichte im Jahr 2015 endlich mal eine Ehrung, er wurde zum »Unwort des Jahres« gekürt. Es ging dabei um jenen Gebrauch des Wortes, den man im rechten Milieu fand, »um Andersdenkende pauschal und ohne Ansehung ihrer Argumente zu diffamieren und als naiv abzuqualifizieren«. Harald Martenstein empfahl diesbezüglich, dass man das Wort anders besetzen sollte, man könnte doch denjenigen selbstgerechten Zeitgenossen damit tadeln, der »glaubt, dass er, im Kampf für das, was er für das Gute hält, von jeder zwischenmenschlichen Rücksicht und jeder zivilisatorischen Regel entpflichtet sei [und der daher annimmt] Beleidigungen, Demütigungen und sogar Gewalt sind erlaubt.« Aber das, was der Kolumnist des »Zeit-Magazin« da vorschlägt, trifft den Nagel begrifflich nicht satt auf dem Kopf. Denn diese Leute sind keine Gutmenschen, sie sind nicht Vertreter dieser Begrifflichkeit, die dazu angewandt werden kann, um einen Menschen abzuqualifizieren.

Der Gutmensch ist in diesen Sphären gar nicht mehr das Thema – hier ist man schon längst weiter, hat die Evolution des Moralischen die nächste Stufe erlangt. Der Bessermensch geht voran; er bietet seine planvolle Planlosigkeit als profundes politisches Fachwissen feil und je idealistischer und abgehobener, desto mehr gilt er als standhaftes Exemplar seiner Art. Der »Gutmensch« ein Unwort? Na freilich, weil er kein Komparativ, also keine Steigerungsform darstellt. Und nur in der Steigerung gefällt sich der Fundi von links. Er ist die Steigerung zu seinen Mitmenschen, zu all den Ahnungslosen und Kompromissmenschen da draußen in der Welt.
Und weil er die gesteigerte Form von allen anderen ist, zelebriert er seine Verstiegenheit als ganz großen Wurf. Als gesteigerte Politikbeseeltheit beispielsweise, wobei mehr die Seele, genauer gesagt das Seelenheil, von übergeordneter Rolle ist. Denn im Sinne einer reinen Seele heißt es: Lieber keinen Einfluss haben, als schon und sich dabei schuldig machen. Diese politische Haltung ist eines ganz gewiss: Entpolitisierung. Und über die müssen wir uns beim nächsten Mal unterhalten …


Rechts gewinnt, weil Links versagt