Die Seele des Westens

Europa sollte ein offener Debattenraum sein, in dem Macht begrenzt wird und Narrative verhandelt werden können. Leider ist der „freie Westen“ dabei, sich selbst zu verlieren.

Die Idee eines völkerverbindenden Europa ist obsolet geworden. Der Werteverfall auf dem Mutterkontinent der „freien Welt“ wurde zuletzt durch die Flüchtlingskrise, durch den unter dem Stichwort „Corona“ vollzogenen Freiheitsabbau und durch die Beteiligung an Kriegen in nah und fern offenkundig. Von „Westlessness“ oder „Hass auf den Westen“, so Jean Ziegler, ist die Rede. Gleichzeitig scheint die frühere Spaltung in rechtsautoritär regierte Länder wie Ungarn und Polen und noch leidlich liberale Teile aufgehoben — derart, dass sich nun Illiberalität und Staatsautoritarismus in ganz Europa ausbreiten. Stets schüren Politik und Medien auch die Angst, von nichteuropäischen globalen „Wettbewerbern“ überholt und aus dem Zentrum heraus an den Rand gedrängt zu werden. Dies geht mit dem Druck beziehungsweise der Versuchung einher, demokratische Standards zu schleifen — mit der Begründung, autoritär regierte Länder seien effizienter und eher auf Erfolgskurs. Wie können wir Europas ursprüngliche Vision bewahren — und worin läge eine solche überhaupt? Wie kann Selbstaufgabe verhindert werden, ohne dass sich Europa zugleich in anachronistischer Kolonialherren-Überheblichkeit noch immer als Lehrmeister aufspielt, an dessen Wesen die Welt genesen soll? „Europa ist keine Leitkultur mehr, die andere belehren will, sondern eine Anleitung zum Selbstdenken“, schreibt der Germanistik-Professor Jürgen Wertheimer. Sicher ist das etwas zu optimistisch gedacht, aber es umreißt einen wünschenswerten Weg. In seinem gewichtigen Buch „Europa — die Geschichte seiner Kulturen“ argumentiert Wertheimer vor allem entlang der reichen Kulturgeschichte. Für den Autor ist Europa kein Hort in Stein gemeißelter „Werte“, sondern ein offener Debattenraum, in dem Denkformen und Lebensentwürfe immer neu unter den Beteiligten verhandelt werden können. Nicht dieses oder jenes „falsche“ Narrativ, das sich in Europa ausbreitet, führt also zum Selbstverrat der alten Welt, sondern allein die Zerstörung einer offenen Gesprächskultur zugunsten autoritärer Vorgaben.

Die Jupitermonde. Heute gilt ihre Existenz als sicher. Im Italien des frühen 17. Jahrhunderts war das nicht ganz so einfach. Laut der Philosophie des Aristoteles, aber auch der Lehre der katholischen Kirche, konnte es außer der Erde keine Planeten geben, um die andere Himmelskörper kreisten. Galileo Galilei galt als der Entdecker der Jupitermonde. Er hatte sie mithilfe eines neu entwickelten Fernrohrs am Himmel entdeckt. Dies, so hätte man annehmen können, war eine Entdeckung, die die wissenschaftliche Welt der Epoche begeisterte.

Wie es in Wahrheit abgelaufen sein muss, hat Bertolt Brecht in seinem Theaterstück „Leben des Galilei“ glänzend in Dialoge gefasst. Galilei hat einige Gelehrte eingeladen, um seine neuesten Forschungsergebnisse zu präsentieren. Die aber sperren sich gegen das Offensichtliche.

„Ich fürchte, das alles ist nicht ganz so einfach. Herr Galilei, bevor wir Ihr berühmtes Rohr applizieren, möchten wir um das Vergnügen eines Disputs bitten. Thema: Können solche Planeten existieren?“

Galilei: „Ich dachte, Sie schauen einfach durch das Fernrohr und überzeugen sich.“ Sein Gesprächspartner: „Man könnte versucht sein, zu antworten, dass ein Rohr, das etwas zeigt, was nicht sein kann, ein nicht sehr verlässliches Rohr sein müsste, nicht?“ Die Gelehrten fordern Gründe, warum es am Himmel freischwebende Gestirne geben solle, welche also nicht — wie man damals annahm — an den schalenartigen himmlischen Sphären angeheftet seien. Die vollendete Harmonie der aristotelischen Astrologie solle nicht gestört werden. Die Jupitermonde seien weder möglich noch notwendig. Das neue optische Gerät müsse somit fehlerhaft oder von Galilei manipuliert sein.

Und noch ein gewichtiges Argument werfen die zunehmend gereizt und barsch auftretenden „Experten“ ins Feld. Es ist das Totschlagargument schlechthin: „Lügt die Schrift?“ Das kann und darf nicht sein. Gegen die Entdeckung des Galilei steht die klerikale Autorität:

„Das heilige Officium hat heute Nacht beschlossen, dass die Lehre des Kopernikus, nach der die Sonne Zentrum der Welt und unbeweglich, die Erde aber nicht Zentrum der Welt und beweglich ist, töricht, absurd und ketzerisch im Glauben ist.“

Und wer das anzweifelt, lebt gefährlich, wie ein Freund Galileis ihn in guter Absicht warnt:

„Als ich dich vorhin am Rohr sah und du sahst diese neuen Sterne, da war es mir, als sähe ich dich auf brennenden Scheiten stehen.“

Im Gegensatz zu Giordano Bruno verbrannte Galilei nicht, weil er seine Erkenntnis unter Druck wider besseren Wissens widerrief.

Das Prinzip Wahrheit

Bertolt Brecht versuchte, mit seinem Stück aus dem Jahr 1939 ein Ereignis zu beschreiben, das den Begriff „Zeitenwende“ weitaus mehr verdient, als die uninspirierten Taten des Niedergangskanzlers Scholz. Hier prallten an der Schwelle zu einer neuen Epoche zwei Weltbilder aufeinander: Wissenschaftliche Empirie gegen Vorurteil. Das Prinzip Wahrheit gegen religiöse Vorstellungen. Das Gewissen gegen die Autorität. Brecht hat in seinem Stück sozialistische Gedanken mit solchen der bürgerlichen Aufklärung vermischt und ein Gesamtporträt dessen geschaffen, was man heute auch „westliche Werte“ nennen kann. Das Realitätsprinzip, das erkämpft werden muss gegen alle Formen gesellschaftlicher und geistiger Unterdrückung, ist der Beginn jeder Freiheit: „Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass 2 plus 2 vier ist“, heißt es in George Orwells Roman „1984“.

Hier, in der Figur des Galilei, ist „der Westen“ ganz er selbst. Seine Hauptgegner waren lange Zeit nicht die Vertreter von Ideologien östlicher Länder, sondern Menschen mit archaischen und zu überwindenden Bewusstseinsformen seines eigenen Kulturkreises. Jede Form der Unterdrückung der Gedankenfreiheit mit Verweis auf „heilige Bücher“ und andere Herrschaftsnarrative ist antiaufklärerisch, Dies richtet sich gegen einen übermäßigen Einfluss evangelikaler, muslimischer, aber auch weltlicher Dogmen. Aber auch die Annahme, die Meinungsfreiheit müsse enden, wo sie nicht mit den Erkenntnissen eines Christian Drosten oder Robert Habeck, wo sie vielleicht auch nicht mit grünen Ideen von „Transsexualität“ übereinstimmen, führt in die Irre.

Allen Gewalten zum Trotz

Der Westen ist antiautoritär — oder er ist nicht mehr er selbst. Verkommt er zu einer Ansammlung von „Fürstendienern“, wie es Friedrich Schiller im „Don Carlos“ ausdrückt, so ist er nicht mehr als eine sinn- und geistesentleerte Himmelsrichtung — der Ort eben, wo die Sonne abends untergeht.

Der Westler im guten Sinn ist ein Wahrheitssucher, allen Gewalten zum Trotz frei im Geist und stets willens, das von Anderen oder auch von ihm selbst Erdachte in Frage zu stellen — es immer neu zu über-denken.

Es ist richtig, darauf hinzuweisen, dass all diese „Werte“ verraten wurden, dass der westliche Mensch heute nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Aber diese Misere zu erkennen, sollte den Westler nicht in lähmenden Selbstzweifeln niederdrücken; er sollte dies vielmehr als Weckruf nutzen, der ihn vorwärtstreibt. Oder — je nachdem, wie man es betrachtet — zurück zu den Zeiten, in denen er mehr Größe besaß.

Aber ist das „Licht“ nur im Westen zu finden? Liegt darin nicht eine Abwertung aller nicht-westlichen Weltgegenden, welche ja unter europäischer und US-amerikanischer Dominanz viel zu lange gelitten haben und die ihre eigenen, großartigen Kulturen hervorgebracht haben? Ein großes Problem in dieser Debatte besteht darin, dass wir zuerst definieren müssten, von welchem „Osten“ wir überhaupt reden, wie ich es in meinem Artikel „Himmelsrichtung des Grauens““ bereits angedeutet habe. Um die Bewertung „besserer“ und „schlechterer“ Himmelsrichtungen geht es mir gar nicht. Jeder Kulturkreis blühte auf seine Weise und entwickelte seine eigenen Verfallsformen. Die meisten davon hatten — wie auch im Westen — mit Machtmissbrauch zu tun. Aber in einer Atmosphäre zunehmend zermürbenden westlichen Selbst-Bashings ist es vielleicht hilfreich, sich darauf zu besinnen, wie das Projekt „westlicher Geist“ einmal gedacht gewesen ist. Es ist leichter, zu dem zurückzukehren, was wir als Gedächtnisspuren noch in uns tragen, als uns etwas völlig Neues anzueignen.

Putin — der Herausforderer

Schauen wir uns eine der Reizfiguren an, die oft „dem Westen“ als Antagonisten gegenübergestellt werden: Wladimir Putin. Einen lesenswerten Text hat der russische Präsident über den Liberalismus verfasst. Man kann diesen auch als direkte Herausforderung „des Westens“ auf dem Feld der politischen Philosophie interpretieren. „Und dann ist da noch die moderne sogenannte liberale Idee“, sagte Putin

„die sich meiner Meinung nach völlig überlebt hat. Einige ihrer Elemente, unsere westlichen Partner geben es zu, sind einfach zu unrealistisch wie etwa der Multikulturalismus. Als sich das Problem mit der Migration zuspitzte, haben viele Menschen erkannt, dass die Politik des Multikulturalismus nicht effektiv ist, und dass die Interessen der Kernbevölkerung berücksichtigt werden müssen.“

Wir erkennen bei Putin ein Wesensmerkmal „östlichen“ Denkens, dem wir oft begegnen — auch in der Auseinandersetzung mit islamischen Ländern. Während westliche Länder auf kulturelle Vermischung setzen — „bunt statt braun“ heißt der etwas manipulative Slogan — setzen sich im Osten eher Konzepte kultureller Homogenität durch. Dies ist auch mit größerem Konformitätsdruck verbunden. Im Westen wird jede Exzentrizität bis zum Äußersten ausagiert und fordert von der in die Defensive gedrängten Mehrheitsgesellschaft Respekt. Hauptfokus von Diskursen speziell in urbanen, linken und „woken“ Milieus ist es geworden, das Sich-beleidigt-Fühlen von Randgruppen zu vermeiden und Verstöße gegen die Correctness durch konzertierte Rituale gesellschaftlicher Verstoßung zu ahnden. Umgekehrt fordern „östliche“ Systeme solche Anpassung eher von der Minderheit.

Liberalismusdämmerung

Beim Thema Migration räumt Wladimir Putin ein, Menschen, die aufgrund politischer Probleme in ihren Heimatländern in Schwierigkeiten geraten seien, bräuchten die Hilfe der Gastgeberländer. Diese gewähre Russland auch gern.

„Aber was ist mit den Interessen der eigenen Bevölkerung (…), wenn es nicht um zwei, drei oder zehn Menschen geht, sondern um Tausende, um Hunderttausende von Menschen, die in die Länder Europas kommen?“

Putin scheint ausdrücken zu wollen, dass sich eine Regierung nicht bis zum Exzess um Einzelpersonen und Kleingruppen kümmern könne, da sie für Millionen von Menschen zu sorgen habe. Stets müsse das „große Ganze“ im Blickfeld bleiben. Das allgemeine Wohl, also die durchschnittliche Zufriedenheit der Menschen eines Landes, sei leichter zu gewährleisten, wenn sich ein vom Staat überwachtes Regelwerk an die Bedürfnisse der Mehrheitsgesellschaft anschmiege.

Vor allem ist das Bedürfnis nach Stabilität zu nennen. Und hier kommen traditionelle Regeln und Werte ins Spiel.

„Aber in der Seele, im Herzen, sollte es einige grundlegende menschliche Regeln und moralische Werte geben. In diesem Sinne sind traditionelle Werte stabiler, für Millionen von Menschen wichtiger, als diese liberale Idee, die meiner Meinung nach tatsächlich aufhört zu existieren.“

Putin räumt ein: „Man muss unterschiedliche Ideen und Meinungen zulassen, dabei allerdings nie die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung vergessen.“ Liberale Ideen will er nicht zerstören, diese aber würden immer mehr ihre Dominanz verlieren. Die liberale Idee habe „ein Recht zu existieren und man muss sie sogar etwas unterstützen. Aber man sollte nicht denken, dass sie das Recht auf absolute Herrschaft hat“.

Freiheitsbegrenzung statt Machtbegrenzung

All das klingt plausibel und sogar sehr human. Bei genauerem Hinsehen kann man jedoch auch Einwände erheben. Die langfristige Dominanz traditioneller Moral erzeugt in einer Gesellschaft eine Art von Unbeweglichkeit, die dynamischer Entwicklung entgegensteht. Illiberale Ideen führen häufig zur Diskriminierung von Minderheiten.

Ferner muss man alles, was Putin sagt, auch als Ausdruck seines Eigeninteresses als Herrschender verstehen. „Die liberale“ Idee, die er auf dem absteigenden Ast wähnt, wäre eine andauernde Gefahr für seine Machtstellung. Sie würde das von ihm Vorgegebene permanent zur Debatte stellen.

Auch ihm feindlich gesonnene politische Strömungen hätten die Chance, sich gegen ihn durchzusetzen. Die weitgehend statische, homogene, konformistische Gesellschaft dagegen lässt sich leichter lenken. So kann sich der Staatsführer assoziativ mit den Werten Autorität, Tradition, Familie, Religion, Heimat verknüpfen und wird so fast unangreifbar. Ein Volk, das diese Werte geringschätzt, in dem jedes Individuum seine eigene, private Moral vertritt und darauf besteht, diese ungehemmt auszuagieren, ist schwerer mit einem einheitlichen herrschaftlichen Willen zu durchdringen und zu zähmen.

Wenn also ein Wladimir Putin unversehens zum Liberalismus-Kritiker wird, ist dies mitunter aus seiner eigenen Perspektive und Interessenlage heraus verständlich. Aus unserer als Staatsbürger ist es dies nicht unbedingt. Wir sehen unsere Interessen vielleicht besser durch Prozesse der Machtbegrenzung gewahrt, wie sie in den letzten Jahrhunderten besonders in westlichen Ländern entworfen wurden — selbst wenn diese „Checks and balances“ mittlerweile auch in Europa und Nordamerika einem Abbauprozess unterliegen. Man muss vorsichtig sein, wenn Politiker versuchen, die Freiheit mit Noten zu bewerten. Es handelt sich oft um Menschen, die sich durch Machtbegrenzung bedroht fühlen und sich umso mehr um Freiheitsbegrenzung verdient gemacht haben. Wir müssen aufpassen, dass durch den Hype um den Aufstieg des Ostens und Südens sowie den Bedeutungsverlust des „heuchlerischen“ Westens nicht am Ende Freiheit und Meinungsvielfalt als Ganzes zurückgedrängt werden.

Das eigene Volk bezwingen

Der Blick nach Osten, in Richtung der aufgehenden Sonne, kann zweifelsfrei faszinieren. Nur genaues Hinsehen und Differenzieren führt hier aber zu einem begründeten Urteil. Weder Dämonisierung noch Idealisierung sind dabei hilfreich. So lobte Klaus Schwabs Haus- und Hof-Philosoph Yuval Noah Harari in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ mehrfach China als ein Land, das zwar Erfindungsgeist und Entdeckerfreude gezeigt hatte, jedoch nicht den Drang, die zu Forschungszwecken bereisten Länder auch zu erobern. Anders die Europäer, „die plötzlich von einer Art Wahn befallen wurden und in unbekannte Länder mit fremden Kulturen aufbrachen, einen Fuß auf den Strand setzten und sofort erklärten: ‚Ich beanspruche dieses Land für meinen König.‘“ Damit hat Harari einen interessanten Gegensatz zwischen „Ost“ und „West“ herausgearbeitet.

Vielleicht geben sich chinesische Herrscher aber auch gern damit zufrieden, das eigene Volk gründlich und geradezu bis zum Exzess zu beherrschen, anstatt immer neue Völker zu unterwerfen. Ihnen steht der Sinn nach Vertiefung der Macht, nicht nach ihrer Erweiterung auf immer neue Territorien. In den Schriften des Fürsten von Shang, die vor etwa 2000 Jahren die Regierungspolitik des ersten chinesischen Kaisers beeinflussten, steht:

„Gut regierte Staaten setzen deshalb alles daran, das Volk zu schwächen. (…) Ein schwaches Volk hält sich an Gesetze, ein zügelloses wird übertrieben eigensinnig.“

Es sei deshalb für den Herrscher notwendig, „das eigene Volk zu bezwingen“, bevor er äußere Feinde unterwerfen könne.

„Die Wurzel der Bezwingung des Volkes ist es, das Volk so zu kontrollieren, wie der Metallschmied das Metall kontrolliert und der Töpfer den Ton.“

Ein Vorbild für Deutschland? In den Coronajahren konnte man manchmal diesen Eindruck gewinnen.

Demokratie auf dem Prüfstand

Auch Robert Habeck, Fleisch gewordene Abrissbirne der deutschen Wirtschaft, schielt nach dem effizienteren, zupackenden China. 2018, im Interview mit Richard David Precht, kokettierte Habeck mit der Idee eines Systemwechsels. Demokratische Strukturen, so der derzeitige Wirtschaftsminister, seien verglichen mit den sich überschlagenden Entwicklungen auf den Gebieten Wirtschaft, Technik und Klima viel zu langsam. „Dadurch entsteht eine Wirklichkeit, dass die Politik nicht immer auf Ballhöhe mehr der Herausforderungen ist.“ Habeck stellt deshalb offen die Systemfrage:

„Will man daran festhalten, dass ein demokratisches System, das im Grunde genommen dem Kern von Selbstbestimmung und Beteiligung von Menschen noch verpflichtet ist, noch eine Chance hat, dann muss man aber jetzt in großer Geschwindigkeit radikale Schritte in der Politik einführen. Oder gibt man es auf, dann wird man zu zentralistischen Systemen hingehen, die natürlich schneller sind.“

Habeck weiß auch, aus welcher Richtung für den „langsamen“ Westen Hoffnung keimt:

„China, da gibt’s eben keine Opposition, keine Mitbestimmung, und wenn die einen Fehler machen, dann werden sie trotzdem nicht abgewählt. (…) Aber erst einmal ist das System effizienter. Wollen wir das oder wollen wir es nicht?“

Klar scheint für den Grünen-Star zu sein: Unser bisheriges System steht auf der Kippe, zumindest auf dem Prüfstand. An ihm, Habeck, und anderen verantwortlichen Politikern sei es nun, abzuwägen, ob es mit dem durch unser Grundgesetz vorgegebenen parlamentarischen System so weitergehen könne oder nicht. Sollte sich dieses weiter als „ineffizient“ erweisen, könne die Führungselite durchaus in Richtung China steuern.

Freiheit als historische Ausnahme

Man ahnt an dieser Stelle auch, warum das Projekt der Weltbeglückung durch „westliche Werte“ — abgesehen von der Unglaubwürdigkeit der Akteure — vor allem gescheitert ist. Man versteht, warum „östliche Werte“ zu Exportschlagern geworden sind — bis hinein ins Herz des scheinbar freien Europas. Es ist die natürliche Affinität jeder Macht zum Illiberalismus.

So weit im Westen kann ein Regierender gar nicht residieren, dass er nicht insgeheim den Zaren, Staatsratsvorsitzende oder Ayatollah beneidete, während er selbst sich im grauen Politikeralltag vor einer „Quasselbude“ — Wilhelm II. über das deutsche Parlament — zu verantworten hat. „Westliche Werte“ sind eine historisch vielleicht nur vorübergehende, jedenfalls sehr fragile Ausnahme der welthistorischen Regel, wonach sich Tyrannei wegen der ihr eigenen skrupelloseren Anwendung von Herrschaftsmitteln immer durchsetzt — in jeweils wechselnden Gewändern und Verkleidungen.

Der emeritierte Germanistik-Professor Jürgen Wertheimer, bei dem ich als junger Mann in München selbst einmal studiert habe, erläutert in seinem Buch „Europa — die Geschichte seiner Kulturen“, was er für das Wesen unseres Kontinents unter kulturellen und philosophischen Gesichtspunkten hält. Statt Werte-Besserwisserei in der Manier von Annalena Baerbock zu betreiben, postuliert er eine Haltung des Nicht-Wertens, in gewisser Weise also moralischen Relativismus.

„Derzeit gibt es Tendenzen, Eindeutigkeit zu demonstrieren, das Prinzip der Gleich-Gültigkeit unterschiedlicher Wertsysteme für beendet zu erklären. Angesichts der allenthalben wahrgenommenen Bedrohungen macht sich das Gefühl breit, man müsse Gleiches mit Gleichem vergelten. Man operiert mit der wahnwitzigen Vorstellung, Europa aggressiv in Stellung zu bringen. Dies wäre das Ende, nicht der Triumph der europäischen Aufklärung.“

„Gleich-Gültigkeit“ ist in diesem Zusammenhang ein kühner Begriff: die Auffassung, dass alle Wertesysteme zunächst einmal gleichermaßen gültig sind. Dies ist nach Jürgen Wertheimer das Erbe der Aufklärung. Und man kann aus Sicht von 2023 hinzufügen: nicht Haltungspolitik beziehungsweise Haltungsjournalismus.

Ein vielstimmiger Kulturraum

Wortgewaltig formt Wertheimer seine Vision für Europa:

„Das könnte eine europäische Losung sein — die Idee eines großen, vibrierenden, förmlich schwingenden Kulturraums der Vielstimmigkeit mit klaren Konturen und Positionen und doch ohne dogmatische Starre. Ein Stück erzählerischer Befreiungstheologie als Befreiung von dogmatischer Theologie wäre die effizienteste Befriedungsmaßnahme, die man sich nur denken kann. Phantasievolle Radikalität im Kampf gegen alles Radikale.“

Polyphonie — Vielstimmigkeit — war auch das, was europäischer Musik ihre Größe verliehen hatte: Bachs Choräle oder der vieldeutige Orchesterzauber Wagners. Zur Eintönigkeit und Einsilbigkeit verdammt, verkümmert die europäische Idee. „Europa zerbricht immer dann, wenn man es in ein Paket zusammenschnüren möchte.“ Vielleicht meinte Wertheimer damit die Römer, Napoleon, die Nazis, aber auch die EU. Der Germanist wendet sich auch gegen den Traum von „Vereinigten Staaten von Europa“. Eher favorisiert er ein Ensemble einander ergänzender Experimentierräume, in denen sich das Verschiedenartige zunächst eigengesetzlich entfalten kann.

Europa wurde groß durch die beständige Erweiterung des „Meinungskorridors“ — es könnte sterben durch den Versuch seiner gewaltsamen Begrenzung.

Nicht kompatibel ist dieses Modell mit missionarischer Überheblichkeit gegenüber anderen Kulturkreisen. Umgekehrt darf sich Europa aber auch nicht von dialogfeindlichen Konzepten aus dem Osten oder Süden übermäßig beeindrucken oder gar anstecken lassen.

„In seinen besten Zeiten war Europa ein offener Verhandlungsraum, eine argumentative Freihandelszone, in dem alles kontrovers verhandelt wurde und kritisiert werden musste. Es gilt, diese gut 2000-jährige Schulung in der Kunst kritischen Denkens, dieses europäische Grundgefühl, diese kommunikativen Techniken zu stärken, zu ermutigen, zu vermitteln. Erst nach diesem umfassenden Selbstreflexionsprozess sollten wir darüber entscheiden, ob es uns zusteht, global zu intervenieren. Das Bild Europas, wie es sich in der Wahrnehmung und Erfahrung von Außenstehenden darstellt, ist derzeit nur bedingt geeignet, um damit in die Offensive zu gehen.“

Die Bürde der missbrauchten Werte

Vereinfacht gesagt, bedeutet das: Europa muss erst einmal zu sich selbst zurückfinden — dann erst hat es die Legitimation, für sein Modell anderswo zu werben. Nach innen leitet Wertheimer aus dieser Definition des europäischen Wesens die Notwendigkeit des Verzichts auf eine „Leitkultur“ ab. Europa sei ein „im Kern säkularer Raum, der alles Religiöse als private Möglichkeit duldet und schützt. Ein Territorium der (trügerischen) Ähnlichkeiten wie der (scheinbaren) Differenzen. Ein Raum der permanenten Aus- und Verhandlung auch und gerade zwischen Parallelgesellschaften.“ Dieses im Grundsatz positive Bild von Europa schließt die klare Erkenntnis von Verirrungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit ein, unter denen andere Weltregionen, jedoch auch die europäischen Länder selbst, zu leiden hatten. „Es ist an der Zeit, Europa von der schweren Bürde seiner tausendfach missbrauchten und verratenen Werte zu lösen und es gedanklich, ästhetisch, künstlerisch, jedenfalls sehr viel erfindungsreicher als bislang zu definieren. Denn „schließlich wollen wir nicht dazu kommen, den Begriff ‚europäische Werte‘ irgendwann einmal zum Unwort des Jahres deklarieren zu müssen — nach dem Motto ‚Es war einmal ein Europa‘.“

Das Gute am Westen ist zunächst nicht, dass er — um es vereinfacht auszudrücken — für oder gegen Homo- und Transsexuelle, für oder gegen Zuwanderung, materialistisch oder tief religiös, freiheitlich oder autoritär ist; die Stärke dieser Weltregion besteht darin, dass hier solche Fragen offen debattiert werden können und dass Kompromissfindung, so schwierig sie manchmal erscheinen mag, zumindest intendiert ist.

Westliche Werte — das bedeutet im besten Fall: Werterelativismus, der sich in gelebter Toleranz ausdrückt. Freilich ist sich der Westen auch hier untreu geworden. Im heutigen Deutschland etwa darf man zwar alles sagen, muss aber oft schwere Konsequenzen für gegen die Macht gerichtete Äußerungen hinnehmen. Menschen gesellschaftlich auszugrenzen, die ungeimpft sind, Frieden mit Russland fordern oder das israelische Bombardement von Gaza verurteilen, ist — wenn man das Ideal des „Westlichen“ zugrunde legt — im Grunde genommen ein Symptom von Selbstentfremdung.

Wir Untertanen

Westlich ist die Auflösung jeder angeblichen Identität von Führung und Bevölkerung mittels der Kraft des kritischen Geistes. Westlich ist ein gewisses Gewicht auf Minderheitenrechten, während der Osten den Schutz des Ehrgefühls der Mehrheitsgesellschaft vor „aufdringlicher“ Selbstzurschaustellung von Minderheiten betont. Westlich ist die Selbstentfaltung des Abweichenden, östlich die Selbstbehauptung des Normalen. Westlich ist die Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen, östlich die Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft. Daran gemessen ist Deutschland in der Ära von Richard David Precht und Wilfried Kretschmann schon „zu östlich“ geworden.

Vielleicht ist auch speziell die deutsche Untertanenmentalität so beschaffen, dass kollektivistische und autoritäre Gesellschaftskonzepte des Ostens spielend an ihnen andocken können.

Der Grund, warum derartige Konzepte in Mode kommen, könnte auch sein: Staatsbürger im Sinn der fundamentalistisch islamischen oder auch der chinesischen Doktrin sind für Machthaber leichter handhabbar. Ein wirklich „westlicher“ Mensch, sofern er Werte der Aufklärung, des Pluralismus und Liberalismus verinnerlicht hat, ist für Regierungen unbequem. Die Verbindung aus einer erodierenden politischen, geschichtlichen und kulturellen Bildung bei Jüngeren, dem zunehmenden Konsum seichter Globalkultur in Netflix-Manier und dem unverblümt freiheitsfeindlichen Handeln der jetzt regierenden Politikergeneration ergibt ein ungesundes Gemisch, das für die Zukunft nichts Gutes erwarten lässt.

Wasser predigen, Wasser trinken

Machthaber wollen nur zu gern ihre Herrschsucht, ihre Grausamkeit und ihre Verachtung der Freiheit zu kulturellen Besonderheiten erklären, die „Respekt“ verdient hätten. Erweisen wir den Regierenden in menschenrechtsfernen Systemen jedoch diesen Respekt, entziehen wir ihn damit zugleich denen, die ihn verdient hätten: den Opfern von Machtmissbrauch.

Wir können Menschenrechte nicht herbeibomben — aber nicht, weil es nicht wünschenswert wäre, dass sie respektiert werden, sondern weil Menschlichkeit auf keine Weise furchtbarer verletzt wird als durch Krieg. Es bleibt, für westliche Werte zu werben, indem wir sie auf glaubwürdige Weise verkörpern. Dazu brauchen wir zuallererst andere „Vertreter“. Mit kapitalistischer Ausplünderung schwächerer Staaten, mit kriegerischem Dominanzgebaren, mit Abu Ghraib, Guantanamo oder der brutalen stellvertretenden Bestrafung eines Julian Assange wird das nicht klappen. Um den peinlichen Widerspruch zwischen „Wasser predigen“ und „Wein trinken“ aufzulösen, wäre es aber der falsche Weg für den Westen, das Richtige gar nicht mehr zu fordern. Besser sollten wir das Falsche künftig unterlassen.

Es ist gut, offen zu bleiben für das Fremde. Dabei sollten wir aber Idealisierung und exzessive „Fernstenliebe“ vermeiden, wo diese nicht verdient ist. Wichtig ist es, ganz genau hinzuschauen. Der eigene Kulturkreis ist gewiss nicht objektiv „überlegen“, aber es ist unser Kulturkreis. Vielleicht macht es Sinn, dass wir durch Geburt schicksalhaft hier hineingestellt wurden. Wir können somit versuchen, aus westlicher Einfärbung — oder westlicher Eintrübung — unseres Charakters das Beste zu machen. Wir können die spezielle Wesensart der eigenen Hemisphäre bestmöglich realisieren, ohne andere abzuwerten und ohne sich den Blick über den Tellerrand zu verbieten.

Die Einwilligung in den eigenen Untergang

Exzessive Selbstbeschimpfung kann dazu führen, dem eigenen Untergang zuzustimmen, ihn unbewusst mit herbeizuführen. Und genau das geschieht gerade. Wer sich selbst verachtet, wird den Kräften der Zerstörung leichtherzig zustimmen. Warum sollte er das auch nicht tun? Es gibt ja nichts, was wirklich bewahrungswert wäre. Osten und Süden kämpfen zunehmend selbstbewusst gegen „westliche Werte“. Westliche Machthaber vertreten sie zwar noch nach außen hin, treten sie in Wahrheit aber längst mit Füßen. Westliche Systemkritiker indes verhöhnen sie nur noch als Teil geheuchelter Selbstbeweihräucherungsroutinen. Wer also tritt noch wirklich aufrichtig für sie ein? Haben wir uns auf eine Epoche ohne westliche Werte einzustellen? Und wenn ja, wie wird es sich in einer solchen leben lassen?

Im Grunde offenbaren Kritiker des Westens gerade im Prozess des Kritisierens ja ihre westliche Prägung. Gerade dieses bohrende In-Frage-Stellen des „Eigenen“, verbunden mit dem wägenden In-Betracht-Ziehen des „Fremden“ ist sehr westlich im guten Sinn. Alle Formen übergriffiger Kolonialherren-Attitüde stehen für die Schattenseiten des Westens. Seine Lichtseite besteht darin, dass Gesellschaften geschaffen wurden, die eher offenen Debattenräumen glichen als Resonanzräumen hoheitlicher Verkündigung. Jedenfalls war das einmal so. Der Westen ist dabei, sich zu verlieren. Seine Toleranz weitete sich zur widerstandslosen Hinnahme selbst destruktiver Konzepte des „Östlichen“, während die konstruktiven westlichen Modelle an der mangelnden Treue jener Bevölkerung zugrunde gehen, zu deren Schutz sie einmal ersonnen wurden.