Die schwarzen Schwäne

Das Unerwartete und Unwahrscheinliche erwischt uns oft auf dem falschen Fuß — dabei stellt der Ausbruch aus dem Gewohnten auch eine große Chance dar.

Das Unbekannte weckt in uns widerstreitende Empfindungen. Es nagt an unserem Sicherheitsgefühl und kann Ängste wecken. Andererseits stimuliert es unsere Neugier und befriedigt den Drang nach Erkenntnis und Erlebnissen. Das sind gute Voraussetzungen, um schwarze Schwäne in weiße zu verwandeln. Die Offenheit für das Unbekannte und das Hinterfragen allseits bekannter Muster helfen uns, das Leben besser zu verstehen. Die Dinge sind eben nicht so vollkommen vorbestimmt, wie wir glauben und wie man uns weiszumachen sucht.

Die Fragen, was sich hinter „Schwarzen Schwänen“ (a1) an tieferem Sinn verbirgt und wer Taleb ist, wollen wir noch kurz offenlassen.

Vom Konkreten zum Unfassbaren

Unsere Gesellschaft lebt die Vorbestimmtheit in extremer Weise. Da schwingt der überhebende Glaube mit, unser komplexes Leben berechnen und damit perfekt planen und auch noch optimieren zu können. Die Vorausberechnung der Zukunft ist zu einem gesellschaftlichen Phänomen geworden und versorgt unzählige Institute und Unternehmen dauerhaft mit Aufträgen.

Dass dieser Versuch ständig grandios schiefgeht, wird mit einer Sturheit ausgeblendet, die mich rasch wieder in die Gedankenwelt bestimmter Menschen führen könnte, welche von ihrer Genialität so überzeugt sind, dass ihnen selbst die Fähigkeit abhanden gekommen ist, ihr Dasein als zwar nicht negativ zu betrachtendes, trotzdem sehr wohl fehlerhaftes Wesen Mensch zu erkennen.

Aber trennen wir uns auch von der beruhigenden Gewissheit, dass ein jeder von uns gegen besagte Denk- und Verhaltensweisen immun sei. Philosophen und Ideologen übrigens, denen wir allzu gern nachlaufen — schon weil uns ihr Titel Ehrfurcht einflößt —, sind ausdrücklich darin eingeschlossen. Gerade Ideologen suchen ihre Zukunftsprojekte umzusetzen, die sie quasi im Vorher berechnet haben.

Gesellschaftskonstrukte, sowohl die bestehenden als auch die alternativen, werden aus einer in der Realität komplexen, naturverbundenen Welt per möglicher Umsetzung beliebig abstrahiert. Abstraktion: Was ist das eigentlich?

„Abstrahieren heißt, absehen von der Vielfalt und herausstellen von Zusammenhängen, die sie erklären, erkennbar machen sollen. Mit einer Abstraktion wird als von der Vielfalt an Eigenschaften einer Sache oder eines Gedankens (...) oder wirklicher Verhältnisse (...) abgesehen, sodass die bestimmten Inhalte mit dem Maß der Abstraktheit immer unbestimmter werden und von daher das Qualitative sich in seiner Bestimmtheit reduziert und sich immer ausschließlicher nur quantitativ darstellt, sich höchster Abstraktion überhaupt nur als Quantum bewahrt“ (1).

Widerstehen wir der Versuchung, etwas Gutes oder Schlechtes im Wesen der Abstraktion zu suchen, was ich Ihnen mit dem Zitat keinesfalls unterschwellig vermitteln wollte. Grundsätzlich ist Abstraktion auch erforderlich. Die Frage liegt eher darin, wann Abstraktion sinnvoll ist und wie weit diese getrieben werden soll. Einerseits erlangt man über Abstraktion Klarheit in Bezug auf die zu lösende Aufgabe, schält sozusagen das Wesentliche aus der Komplexität von Strukturen und Prozessen heraus. Andererseits lässt Abstraktion eben Aspekte weg, verarmt sozusagen das zu bearbeitende Feld, ignoriert damit notwendige, zu berücksichtigende Zusammenhänge.

Ganz offensichtlich ist Abstraktion eine beeindruckende Leistung des menschlichen Gehirns, was uns Menschen in besonderer Weise dazu befähigt, erfolgreich Problemlösungen anzugehen. Also: Wo ist Abstraktion sinnvoll, ja notwendig, und wo ist ihre Anwendung eher schädlich für uns?

„Das Abstrakte wird (...) in seiner Reduktion auf das immer einfacher Bestimmte zu einer praktischen Kategorie — zum Beispiel um etwas zu sortieren oder einzuordnen. Bei einer Gedankenabstraktion wird dies ausschließlich also zu einer idealen Bestimmung, durch welche in der Wahrnehmung von einem Gegenstand etwas — zum Beispiel durch eine Ideologie — ausgeschlossen wird, das wahr gehabt, aber in seiner wirklichen Beziehung nicht für wahr genommen wird. Mit einer realen Abstraktion aber werden seine Eigenschaften wirklich reduziert, ihm wirklich etwas von seiner Natur genommen, seine Vielfalt nichtig gemacht“ (1i).

Wir müssen also jetzt keine Diskussion darüber angehen, welche die grundsätzliche Notwendigkeit von Abstraktion begründet, zum Beispiel um Baustoffe zu mischen, Materialien zu formen, sinnvolle Computerprogramme zu schreiben. Wobei schon hier mit wachsender Komplexität des bearbeiteten Objekts der Wirklichkeit uns die Grenzen von Abstraktion regelmäßig, manchmal auch sehr schmerzhaft, bewusst gemacht werden.

Sie kennen Beispiele? Brücken stürzen ein, Computerprogramme versagen, Raketen stürzen ab. Was aber ist mit Menschen und Gesellschaften? Die Sicherheit, mit der heutzutage Planungen aufgestellt und, auf diesen basierend, Projekte umgesetzt werden, bis selbige dann scheitern, rührt aus einem menschlichen Missverständnis her. Abstraktion kann — erst recht dann, wenn sie Komplexität unzulässig ignoriert —, mehr als uns lieb ist, „Schwarze Schwäne“, das Phänomen nicht vorhergesehener Ereignisse, hervorrufen.

Was nicht sein konnte, musste kommen?

Was aber, wenn das Unvorhergesehene eingetreten ist?

Dann nutzt man die gemachten Erfahrungen, betrachtet also empirisch, und weil die Dinge so gelaufen sind, wie sie eben liefen, schlussfolgert man nunmehr, dass es so und nicht anders gewesen sein musste. Um die Erfahrungen herum werden nun zielstrebig Beweise gesammelt, die schließlich den Beleg erbringen, dass das untersuchte Ereignis genau so und nicht anders stattfand, weil es auf Gesetzen beruhte. Gesetze, die der Mensch nachträglich „entdeckte“, dienen nun dazu, von einer Unvermeidbarkeit des Ereignisses zu sprechen. Was das konsequente Ausblenden möglicher alternativer oder zusätzlicher Ereignisse einschließt. Ereignisse, die ihrerseits zu Schwarzen Schwänen mutieren, weil wir uns ihnen nicht zuwenden.

Es ist die Welt der „Weißen Schwäne“, unsere Welt, wie wir sie gerne haben wollen, die uns Sicherheit gibt — doch oft ist es ein Zuviel dieser dann doch vermeintlichen Sicherheit. Und es gibt Kräfte, die uns nur allzu gern in der eingegrenzten Welt Weißer Schwäne sehen möchten.

Übrigens ist es auch eine unwissenschaftliche Herangehensweise, sich mit Weißen Schwänen zufriedenzugeben. Wissenschaftler versuchen, Irrwege zu vermeiden, indem sie darauf achten, nicht in die Falle des Bestätigungsfehlers zu laufen. Sie sind sich bewusst, dass etwas nicht zu erkennen keineswegs bedeutet, das Unerkannte sei nicht existent. Daher suchen Wissenschaftler nach Schwarzen Schwänen.

Das Unvorstellbare ist aber oft nur deshalb unvorstellbar, weil wir uns, unserer Natur entsprechend, nur ungern unangenehmen Situationen aussetzen. Wie heißt es so schön: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Das sollte es aber. Vor allem, wenn wir uns in einem Zustand scheinbarer Sicherheit wähnen, die uns jede Notwendigkeit erspart, Veränderungen anzustreben oder überhaupt erst einmal über den Tellerrand zu schauen. Da aber tauchen sie auf, die Schwarzen Schwäne.

Es wird Zeit, sich Nicholas Taleb zuzuwenden — erst einmal seinem Truthahn. Wie sicher fühlt sich ein Truthahn?

Der Truthahn und der Schwarze Schwan

„Wir wollen uns einen Truthahn vorstellen, der jeden Tag gefüttert wird. Jede einzelne Fütterung wird die Überzeugung des Vogels stärken, dass es die Grundregel des Lebens ist, jeden Tag von freundlichen Mitgliedern der menschlichen Rasse gefüttert zu werden, die ‚dabei nur sein Wohl im Auge haben‘, wie ein Politiker sagen würde. Am Nachmittag des Mittwochs vor dem Erntedankfest wird dem Truthahn dann etwas Unerwartetes widerfahren, und er wird seine Überzeugung revidieren müssen“ (2).

Zum Leidwesen des Vogels, so füge ich hinzu, kommt dieses Revidieren dann zu spät. Das ist umso bedauerlicher, als der Truthahn im Allgemeinen deutlich mehr Freiheitsgrade hat als etwa in der Intensivwirtschaft zusammengepferchte, eingesperrte Hausschweine, Rinder, Hühner et cetera. Der Truthahn hatte eine Wahl. Freilich hätte eine andere Entscheidung sein Bemühen, sozusagen effizient und bequem zu leben, fundamental in Frage gestellt. Vor allem hätte er seine bisher getroffene Entscheidung als eine falsche Entscheidung in Erwägung ziehen müssen. Aber es dürfte eingängig sein, dass das nur anscheinend determinierte Schicksal, vor dem Erntedankfest geschlachtet zu werden, mehreren anderen, vor allem lebenswerten Perspektiven sehr wohl hätte weichen können.

Faszinierend für den Autor ist es hier, die Frage der Verantwortung ins Spiel zu bringen. Der Truthahn — wir betrachten die Sache natürlich philosophisch und reflektieren menschliches Verhalten — hat vor seinem Ableben Tag für Tag sehr wohl selbstverantwortlich entschieden, sich von seinen Schlächtern mästen zu lassen. Als es zu spät für ihn war, als der Schwarze Schwan erschien, hatte er diese Möglichkeit nicht mehr. Der Schwarze Schwan war aber immer da, er war immer real existent. Als Schwarzer Schwan jedoch nur deshalb, weil der Truthahn nicht bereit und willens war, die Signale zu deuten, die auf Schwarze Schwäne hinweisen.

Fatal ist jedoch, wie sich der Truthahn jeden Tag ein wenig mehr bestätigt in seiner Entscheidung fühlte, Menschen zu vertrauen, die einfach nur das Beste für ihn zu tun schienen, reinste Gutmenschen sozusagen. Menschen, die scheinbar nur auf der Welt existierten, um ihm, dem Truthahn, die Futterwünsche von den Augen abzulesen. Die ihn dabei von der Last „befreiten“, schwierige, unbequeme Entscheidungen zu treffen — eine sozusagen großzügig gewährte Freiheit, eine Scheinfreiheit, keine errungene Freiheit. Da waren also paternalistische „Betreuer“, die sich um die Sicherheit des Truthahns besorgt gaben. Die ihm die Alternativlosigkeit der zu fällenden Entscheidung einflößten, ihn belohnten, bestätigten.

Der Truthahn kümmerte sich nicht aktiv um seine Sicherheit, er ließ dies andere tun. Seiner Verantwortung vermeintlich entbunden, fühlte sich der Truthahn ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt am sichersten, als sein gewaltsames Ende unmittelbar bevorstand. Es ist eben so: Wenn wir nicht tun, wird mit uns getan. Sind wir Truthähne?

Der Truthahn ist kurzsichtig und schmalspurig. Mit solchen Tieren lässt sich viel anstellen — mit Menschen, die sich an dieses Schema halten, allerdings auch.

Schwarze Schwäne als philosophische Kategorie

Nicholas Taleb ist der Autor des Buches „Der Schwarze Schwan“, Untertitel: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. Er selbst sagt, er sei Levantiner. Er wuchs im Libanon auf. Dort und in Teilen Syriens finden wir die Region der Levante. Taleb ist Finanzmathematiker, aber auch Philosoph und Autor. Ihn hat fasziniert, wie wir mit dem Unvorhergesehenen umgehen und warum wir es oft nicht vorhersehen — obwohl wir es oft sehr wohl könnten. Das Unvorhersehbare mündet also in der Figur des Schwarzen Schwanes.

So erklärt sich auch, was das Schicksal eines Truthahns mit Schwarzen Schwänen zu tun hat. Wobei Schwarze Schwäne einen historischen Bezug zu schwarzen Schwänen aufweisen. Denn wir Menschen hierzulande „wussten“ schon immer, dass es keine schwarzen Schwäne gibt. Und diese Überzeugung wurde Tag für Tag genährt, weil wir Menschen hierzulande ja auch an jedem neuen Tag keinen schwarzen Schwan entdecken konnten. Wir sahen keinen, also gab es für uns auch keinen — bis wir Europäer Australien entdeckten. Da brach unsere Gewissheit zusammen. Für die australischen Ureinwohner waren schwarze Schwäne schon immer weiße Schwäne (3). Aber vielleicht waren umgekehrt für jene weiße Schwäne schwarze Schwäne?

Haben wir daraus gelernt? Haben wir gelernt, immer mal wieder skeptisch unsere Gewissheiten zu prüfen?

Nicht nur, dass wir damit vorhersehbare Risiken erkennen und ihnen entgegenwirken könnten. Das unerwartete Ereignis kann schließlich auch positiv wirken!

Schwarze Schwäne sind daher auch Chancen. Chancen, die wir nicht wahrhaben wollen. Weil wir uns dem aus Bequemlichkeit und Fatalismus verwehren. Dann wird ein Weißer Schwan zum vorgeblich vorbestimmten, unvermeidlichen Ereignis. Als solcher wird er uns sogar penetrant angeboten. Nach dem Motto zu leben, „was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, hält uns also nicht nur in einer trügerischen Sicherheit, sondern beraubt uns auch möglicher attraktiver Perspektiven.

Eine der großen Herausforderungen für uns besteht wohl darin, genau dann besonders skeptisch, nachfragend und kritisch — vor allem selbstkritisch — zu sein, wenn wir uns am sichersten fühlen.

Sind wir damit nun, wenn wir nach Schwarzen Schwänen schauen, vor dem Unvorhersehbaren gefeit? Natürlich sind wir das nicht. Wir können aber auf jeden Fall unnötige Schwarze Schwäne vermeiden. Ebenso wie wir eine innere Einstellung dafür herausbilden können, wie wir positiv mit Schwarzen Schwänen umgehen, sozusagen das Beste aus dem Unvorhergesehenen machen.

Es geht nicht um Angst vor Schwarzen Schwänen. Angst verstärkt sogar die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens. Weil uns Angst fokussiert, unseren Horizont einschränkt und damit der Fähigkeit beraubt, Dinge, die wir tun, kritisch zu betrachten. Zumal es auch „gute“ Schwarze Schwäne gibt. Es geht viel mehr um Achtsamkeit und Aufmerksamkeit. Es geht um eine gesunde Skepsis.

Gesunde Überzeugungen lieben den skeptischen Blick auf sich selbst. Gesunde Überzeugungen lieben keine Dogmen. Und sie sind stets auf der angstfreien Suche nach Schwarzen Schwänen.

Gehen wir also gemeinsam auf die Suche nach Schwarzen Schwänen und vermeiden so die unnötige Heimsuchung durch Schwarze Schwäne.

Bitte bleiben Sie schön aufmerksam, liebe Leser.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Von Schwarzen Schwänen“ bei Peds Ansichten.


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