Die Schmerzensbindung
Aus Trauma-Bindungsbeziehungen kann man sich nur befreien, wenn sie als solche erkannt werden.
Wenn eine Situation mit Freude und Lust verbunden ist, versuchen wir sie so lange wie möglich aufrechtzuerhalten; dominieren dagegen Schmerz und Stress, suchen wir das Weite. Diese Grundregel klingt einleuchtend, entspricht aber nicht unbedingt der Realität der menschlichen Seele. Frauen wie Männer halten oft viel zu lange an Beziehungen fest, die für sie mit dauerhaftem Leid behaftet sind, ja zerstörerisch wirken. Ein Grund hierfür kann die Trauma-Dynamik sein. Wer unter dem Eindruck eines einschneidenden Ereignisses bei einem anderen Menschen scheinbar Hilfe und Halt findet, kann in besonderem Maß von diesem abhängig werden. Selbst Misshandlungen werden dann immer wieder verziehen, weil der Grad der Verschmelzung mit dem Partner hoch ist, eine Trennung somit undenkbar scheint. Im Zuge der Coronakrise und des durch sie ausgelösten Schocks bilden sich offenbar derzeit besonders viele ungesunde und destruktive Beziehungen. Entkommen können Betroffene diesen nur, wenn sie es schaffen, ihre Situation glasklar zu erkennen.
von Jo Yurcaba
Vor sieben Jahren war ich in einer Beziehung mit einem Mann, die man als „heiß und kalt“ bezeichnen könnte. Es wurde sehr schnell emotional intensiv. Von Anfang an verbrachten wir fast jede Nacht zusammen, und ich hörte auf, mich mit Freunden zu treffen, bis dahin, dass ich sogar einige Freundschaften beendete, weil die Beziehung so vereinnahmend war. Aber nach dieser anfänglichen Phase der naiven, doch glücklichen Co-Abhängigkeit wurde er distanziert und sogar verletzend. Ich erkannte zwar die toxische Natur und die Gefahr dieser Situation, aber dann zog er mich wieder hinein, sagte mir, dass er mich nicht verdiene, und versprach, sich zu ändern. Unsere Beziehung war eine Trauma-Bindungsbeziehung.
Eine Trauma-Bindungsbeziehung spiegelt eine Bindung wider, die durch wiederholtes körperliches oder emotionales Trauma mit zeitweiser positiver Verstärkung entsteht, so die Diplom-Psychologin Liz Powell, PsyD. Vereinfacht ausgedrückt, passieren demnach in einer Beziehung mit Trauma-Bindung „eine Menge wirklich schrecklicher Dinge und dann gelegentlich wirklich schöne Dinge“.
Trauma-Bindung ist auch nicht nur auf romantische Beziehungen beschränkt. Sie kann auch in Zusammenhängen vorkommen wie zum Beispiel bei Schikanen in Studentenschaften, militärischer Ausbildung, Entführung, Kindesmissbrauch, politischer Folter, Sekten, Kriegsgefangenen oder in Konzentrationslagern, sagt Dr. Powell. „In Fällen von häuslicher Gewalt oder Missbrauch haben viele Menschen Schwierigkeiten, die Gewalttäter zu verlassen, weil sie eine starke Bindung zu ihnen haben, die sie dort halten kann, selbst wenn die Dinge sehr schlimm stehen“, so Dr. Powell. „In der militärischen Ausbildung (oder in anderen gruppenzentrierten Situationen) wird man in diese stressigen Situationen gebracht, damit man sich mit seinen Mitstreitern verbindet, damit man in einer Situation, in der es um Leben und Tod geht, Menschen vertrauen kann, von denen man überhaupt nichts weiß.“
Warum kommt es zu einer Trauma-Bindung?
Trauma-Bindungsbeziehungen nehmen aufgrund der natürlichen Stressreaktion des Körpers Gestalt an. Wenn Sie gestresst sind, aktiviert Ihr Körper Ihr sympathisches Nervensystem und Ihr limbisches System ― oder den Teil des Gehirns, der Emotionen und motivierte Verhaltensweisen wie Hunger oder Sexualität reguliert. Diese Aktivierung ist allgemein bekannt als die „Kampf- oder Flucht“-Stressreaktion.
„Wenn diese sympathische Aktivierung die Kontrolle hat, werden die Teile unseres Gehirns, die Dinge wie langfristige Planung oder Risikoanalyse in unserem präfrontalen Kortex erledigen, abgeschaltet“, sagt Dr. Powell. „Sie sind nicht in der Lage, so effektiv zu sein, weil unser Gehirn darauf fokussiert ist, uns einfach durch dieses Trauma zu bringen.“
Dies hilft bei der Erklärung, warum es so leicht ist, sich an alles zu klammern, was einem hilft, ein traumatisches Ereignis zu überstehen: Ihr Gehirn assoziiert diese Sache oder Person mit Sicherheit. Wenn also eine misshandelnde Person beschließt, Sie zu trösten oder sich sogar zu entschuldigen ― für ein Trauma, das sie selbst Ihnen zugefügt hat ―, klammert sich Ihr Gehirn an die positive Verstärkung, anstatt die langfristigen Auswirkungen eines Verbleibs bei dem Täter oder der Täterin zu durchdenken.
„Es besteht eine intensive Bindung aufgrund der Tatsache, dass es eine starke hormonelle Bindung zwischen dem Täter und dem Opfer gibt. Man hat das Gefühl, dass man die andere Person braucht, um zu überleben.“ ― Jimanekia Eborn
Der Kreislauf von Missbrauch und Manipulation führt manchmal auch zu einer chemischen Bindung zwischen Täter und Opfer, sagt Jimanekia Eborn, eine Sexualpädagogin, die sich auf Trauma spezialisiert hat. Hormone binden Menschen in Beziehungen, aber in einer Missbrauchsbeziehung werden diese Chemikalien nicht richtig reguliert. Das Gehirn kann einigen dieser Hormone ― wie Oxytocin, dem Kuschelhormon, und Dopamin, dem Wohlfühlhormon, das mit Verlangen und Motivation in Verbindung gebracht wird ― so extrem ausgesetzt werden, dass es tatsächlich chemisch abhängig von ihnen wird. Infolgedessen wird Ihr Gehirn selbst dann, wenn Sie jemand immer wieder schlecht behandelt, Sie nicht ausbrechen lassen, weil es sich so wunderbar angefühlt hat, als die Person lieb zu Ihnen war.
„Es besteht eine intensive Bindung aufgrund der Tatsache, dass es eine starke hormonelle Bindung zwischen dem Täter und dem Opfer gibt“, sagt Eborn. „Man hat das Gefühl, dass man die andere Person braucht, um zu überleben.“
Wie die COVID-19-Pandemie zur Trauma-Bindung beitragen kann
Die Pandemie selbst verursacht eine Form von kollektivem Trauma, sagt Dr. Powell, denn es besteht eine sehr reale Bedrohung durch Tod oder dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigung, wenn man nur sein Haus verlässt. Um diese Bedrohung zu überleben, haben wir uns isoliert, wochen- oder monatelang, ohne Freunde oder Familie zu sehen, aber da, wie es bei Dr. Powell heißt, „das nicht die Art und Weise ist, wie Menschen funktionieren“, hat diese Dynamik das Entstehen von Trauma-Bindungsbeziehungen ermöglicht.
Für diejenigen, die auf der Suche nach einem Partner sind, kann die Beziehung, wenn man sich gefunden hat, sehr schnell ernst werden, zum Teil deshalb, weil es am einfachsten und sichersten ist, jemanden während der Pandemie zu sehen, wenn man mit der Person zusammenlebt. „Wenn wir uns in einem Trauma-Zustand befinden, sind wir zutiefst verletzlich“, sagt Dr. Powell. Und wenn wir in dieser Zeit neue Beziehungen eingehen, beachten wir vielleicht nicht die Grenzen, die wir normalerweise setzen würden, wenn wir zum ersten Mal mit jemandem zusammen sind.
Das beschleunigte Tempo bestimmter Pandemie-Beziehungen ― oder Turbo-Beziehungen ― kann dazu führen, dass man Warnsignale oder manipulatives Verhalten übersieht und dann, wenn sich toxisches oder Missbrauchsverhalten entfaltet, nicht so reagiert, wie man es normalerweise tun würde. „Aufgrund der Pandemie und der Tatsache, dass sich die Menschen isolierter fühlen, hat der Missbrauch in Beziehungen zugenommen“, sagt Eborn.
Wie man Trauma-Bindung erkennt und was man dagegen tun kann
Das Wichtigste beim Verständnis einer Trauma-Bindungsbeziehung ist, dass sie keine gesunde Beziehung sein kann, weil sie nicht auf gleichen Voraussetzungen beruht. „Oftmals, wenn Leute sich in einer Trauma-Bindung befinden, mag es für einige ungefährlich aussehen und sich sicher anfühlen“, sagt Eborn. „Aber es gibt eine Menge Unstimmigkeiten innerhalb der Beziehung, und es kann extrem dysfunktional sein. Es gibt immer eine Form der Manipulation, die damit verbunden ist.“
Es muss auch erwähnt werden, dass sich Beziehungen mit Trauma-Bindung zwar immer sehr intensiv anfühlen, dass aber nicht alle Beziehungen, die sich intensiv anfühlen, auch tatsächlich von ungesunder Art sind und nicht immer eine Trauma-Bindung darstellen. Und vergessen Sie nicht, dass Trauma-Bindung in verschiedenen Formen des Missbrauchs auftreten kann: körperlich, emotional und psychologisch. Hier sind einige weitere Anzeichen dafür, dass eine Bindung durch Trauma entstehen könnte:
- Die Beziehung entwickelt sich in einem beschleunigten Tempo.
- Sie fühlen sich sehr vertraut, obwohl Sie sich noch nicht sehr lange kennen.
- Sie machen große Veränderungen im Leben für eine relativ neue Beziehung.
- Sie stecken Zeit und Mühe in die romantische Beziehung auf Kosten von Freundschaften, Familie und anderen Beziehungen.
- Sie haben extreme Angst, die Beziehung zu beenden.
- Sie haben das Gefühl, dass der andere der Einzige ist, der Ihre Bedürfnisse erfüllen kann.
Das Vorhandensein dieser Faktoren, ob einzeln oder kombiniert, bedeutet zwar nicht automatisch, dass eine Beziehung durch Trauma belastet ist, aber wenn Sie das Gefühl haben, dass dies der Fall ist, könnte es an der Zeit sein, das Ende der Beziehung in Betracht zu ziehen ― was keine leichte Aufgabe ist. „Es kann sich so anfühlen, als ob Teile von Ihnen gewaltsam herausgerissen werden“, sagt Dr. Powell.
Um diesen Effekt abzuschwächen und Ihnen zu helfen, in Ihrer Entscheidung standhaft zu bleiben, umgeben Sie sich mit einem unterstützenden Netzwerk aus Freunden, Familie und psychologischen Fachleuten, die Ihnen bei diesem Prozess helfen können. „Eine Trauma-Bindung kann dazu führen, dass wir unsere eigene Realität infrage stellen oder der Realität eines anderen Menschen mehr vertrauen als unserer eigenen“, sagt Dr. Powell. „Es ist also oft ein Prozess, in dem man wiederentdeckt, wer man ist, und wiederentdeckt, was die Realität für einen selbst ist, und herausfindet, wie man dieser selbst vertrauen kann.“
Jo Yurcaba ist eine freiberufliche Redakteurin und Journalistin in North Carolina. Sie schreibt über Politik und Identität und ist auf Sozialpolitik, LGBTQ+-Rechte, reproduktive Gerechtigkeit, sexuelle Gewalt und Wissenschaft und Gesundheit spezialisiert. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in ELLE, Teen Vogue, Marie Claire, Rolling Stone und The Village Voice veröffentlicht. Sie tritt regelmäßig im Radio auf, um über ihre Berichterstattung zur Abtreibungspolitik zu sprechen. Sie hat aber auch schon über Waffengewalt, Country-Musik und sexuelle Gewalt in Gefängnissen gesprochen. Sie ist auf Podien aufgetreten, um über ihre Erfahrungen als Überlebende sexueller Übergriffe zu sprechen, und hat Diskussionen über die Gesundheit von Frauen moderiert.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien am 12. Oktober 2020 unter dem Titel „How to tell if you’re in a trauma bonding relationship“. Er wurde von Sabine Amann aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzerteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam lektoriert.