Die Schattenleugner
Die „Lichtermeer-Demos für Demokratie“ werden oft in einen Zusammenhang mit rechten Fackelzügen gestellt. Der Vergleich hinkt, in Wahrheit geht es um etwas anderes.
„Kampf gegen Hass und Hetze“: Diese Widersprüchlichkeit ist seit Wochen das neue „current thing“: mit Hass auf Nazis gegen Hass auf die Straße gehen. Statt Querdenkern bevölkern nun Doppeldenker die Straßen des Landes, um für die Demokratie zu kämpfen. Zu der Zeit, als es wirklich darauf angekommen wäre, blieben Letztgenannte auf den Sofas. Nun wird vielfach dieser Tage Ignazio Silone zitiert: „Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: ‚Ich bin der Faschismus.‘ Nein, er wird sagen: ‚Ich bin der Antifaschismus.‘“ In der Tat ist die Massenmobilisierung beängstigend. Kommt eine emotional aufgeladene Menschenmasse durch ein Feindbild erst mal so richtig in Wallung, kann großes Unheil geschehen. Was vielen kritischen Beobachtern dieser Gesellschaftsdynamik besonders ins Auge fiel, war das „Lichtermeer für Demokratie“ auf der Münchner Theresienwiese am 11. Februar 2024. Dort versammelten sich — #wirsindmehr — Tausende von Menschen; die Ermittlung genauer Teilnehmerzahlen ist seit 2020 vergebliche Liebesmüh. Das Hochhalten vieler Lichter wurde auf Social Media, insbesondere auf X (1), mit den Fackelzügen der Nationalsozialisten 1933 in Verbindung gebracht. Was visuell auf den ersten Blick naheliegend wirkt, entpuppt sich beim zweiten Blick als hinkender Vergleich. Die aktuelle Dynamik gilt es nicht zu verharmlosen, doch sollte die Differenz zwischen einem Meer aus Taschenlampen- und Handylichtern und dem Marsch mit brennenden Fackeln herausgearbeitet werden. Zum einen besteht zwischen beiden doch ein gewaltiger Unterschied, und zum anderen sind Lichtermeere oder Lichterketten gegen rechts in Deutschland und Österreich nichts Neues. Auch ohne historisch holprige Vergleiche kann die sich zuspitzende Bürgerkriegsgefahr nachgezeichnet werden.
Ich sehe keine bösen Menschen. Die Menschen, die sich an diesem Sonntagabend des 11. Februar auf der Münchner Theresienwiese zusammenfinden, versammeln sich ihrem Verständnis nach aus einer guten Motivation heraus. Gut, wer würde auch schon zugeben, etwas aus einem bösen Motiv heraus zu tun? Aber bekanntermaßen ist auch der „Highway to Hell“ mit guten Absichten asphaltiert. Auf der Asphaltfläche versammeln sich an diesem Winterabend — laut Veranstalter — 300.000 Menschen.
Kürzlich schrieb ich noch, dass die Theresienwiese ein Protestblitzableiter sei, eine Fläche, auf die politisch nicht genehme Demonstrationen hingeleitet werden, um — abgeschirmt von der öffentlichen Wahrnehmung — abgehalten zu werden. Das trifft natürlich nicht zu, wenn das leitmediale Spotlight auf die Theresienwiese gerichtet wird, Drohnen das Terrain umkreisen und das Geschehen mit ihren digitalen Augen auf Bild festhalten, und Hunderttausende Menschen die ansonsten stockfinstere Fläche inmitten der Großstadt mit ihren Lichtern illuminieren. Wenn das geschieht — und so geschah es an diesem Abend — dann wird das Protest-Abstellgleis zu einer politisch pulsierenden Lebensader.
Im Gegensatz zu den von der Polizei umgeleiteten Traktorenkolonnen, die im Januar von der Öffentlichkeit unbemerkt auf der Theresienwiese parkten, gingen die Bilder vom Lichtermeer durch die Republik und fanden im Nachbarland Nachahmer.
Lichterdemo und Fackelmärsche
Neben der zu erwartenden euphorischen Rezeption im Netz durch „die Guten“ (Trademark), gab es in ebenso erwartbarer Weise Kritik vonseiten jener, die bei den „current things“ nicht mitmachen. Vielfach wurde — gerade auf X — das Lichtermeer mit den Fackelmärschen der Nazis in Verbindung gebracht (1). Visuell mag das erst einmal naheliegend sein. Eine Masse formiert sich mit Lichtern in der Hand für eine Sache und gegen einen proklamierten Feind. Doch nicht allein aus juristischen Gründen sind solche Vergleiche mit Vorsicht zu genießen. Zwischen beiden hier verglichenen Massenphänomenen gibt es doch einige Unterschiede, die im Nachfolgenden herausgearbeitet werden sollen.
Handylichter blenden, aber brennen nicht
Der augenscheinlichste Unterschied liegt in dem Bedrohungscharakter einer Fackel und dem eines Handylichts beziehungsweise einer Taschenlampe oder Kerze. Fackeln haben ein Einschüchterungspotenzial. „Mit Mistgabeln und Fackeln“ ist eine geflügelte Umschreibung für einen wütenden Mob. Ein Lynchmob mit Teelichtern und Mistgabeln dürfte historisch noch nirgends in den Geschichtsbüchern erfasst worden sein.
Es macht durchaus einen Unterschied, ob Menschen mit Fackeln auflaufen oder mit Handylichtern und kleinen Kerzen. Fackeln können auch dazu verwendet werden, sehr rasch Dinge zu entflammen: Mülltonnen, Bücherberge oder Flüchtlingsunterkünfte.
Handylichter und Kerzen bergen keine Gefahr und stehen in aller Regel symbolisch für die Vertreibung der Dunkelheit. Lichtermeere sind symbolisch an Glühwürmchen-Schwärme angelehnt, Fackelmärsche an Feuerstürme.
Lichtermeere sind nichts Neues …
... allenfalls etwas in Vergessenheit geraten. In den frühen 1990er Jahren gab es bereits zahlreiche, ebenso große Lichtermeer-Veranstaltungen, die sich gegen rechts richteten. Man denke nur an die riesige Lichterketten-Demo in München 1992, auf die sich die diesjährige Lichtermeer-Demo gerne bezieht. Als „Lichtermeere“ bezeichnete Demonstrationen gab es dann im gleichen Winter, vor allem im Januar 1993, auch in allen großen Städten Österreichs.
Und zehn Jahre zuvor bildeten 300.000 bis 400.000 Menschen der damals noch existenten Friedensbewegung eine 108 Kilometer lange Lichterkette von Stuttgart bis nach Neu-Ulm, um gegen den NATO-Doppelbeschluss zu demonstrieren – heute undenkbar. Nur wenige Wochen später, im November 1983, versammelten sich in Leipzig vor dem Bachdenkmal zahlreiche Jugendliche, um mit Kerzen für Frieden und Abrüstung zu demonstrieren, ehe sie von der Polizei gewaltsam verhaftet wurden.
Nazis und Sozialisten haben kein Copyright auf Fackeln
Die negativen Assoziationen von Fackeln rühren von der Verwendung durch die Nationalsozialisten und Sozialisten her: Schnell sind die Bilder von den Fackelzügen am Tag der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten vor dem historisch-geistigen Auge, ebenso wie die Fackelzüge der FDJ — wobei beides natürlich nicht gleichzusetzen ist.
Diese beiden Extrembeispiele, die historisch häufig pars pro toto verwendet werden, sind allerdings nur ein Teilausschnitt der Geschichte der Fackelzüge. Von der Antike bis über das Mittelalter hinweg waren Fackelzüge oder auch Tänze Bestandteile von Festlichkeiten. Ebenso kamen sie bei Bestattungen oder im akademischen Kontext zu Anwendung, etwa wenn altehrwürdige Professoren emeritierten und Studentenverbindungen zu ihren Ehren feierliche Fackelmärsche veranstalteten.
Bis heute sind Fackelmärsche in politischen wie auch in unpolitischen Kontexten fest verankerte, zeremonielle Bestandteile. Denken wir etwa an die Zapfenstreiche, wenn hochrangige Politiker aus dem Amt scheiden. Nicht unerwähnt bleiben sollten die Fackelmärschen in Ferienlagern von Pfadfindern oder der Kinder-Laternenlauf zu Sankt Martin.
Laterne oder Marsch — die Bewegung macht den Unterschied
Einschränkend zu den ersten beiden Merkmalen muss ergänzt werden, dass bei Lichterketten beziehungsweise Lichtermeer-Demonstrationen der 1990er Jahre auch Fackeln zum Einsatz kamen, die — wie oben dargelegt — ein Bedrohungspotenzial haben. Hierbei gibt es aber noch eine Unterscheidung, und zwar die, ob die Fackeln stationär gehalten oder marschierend durch die Straßen getragen werden. Es macht einen Unterschied, ob Menschen mit Fackeln ruhig an einem Fleck stehen, oder ob unter bedrohlich lautem Stampfen gleichmäßiger Schritte das Fackelmeer durch die Straßen getragen wird.
Vorläufiges Resümee
Der Vergleich der Lichtermeer-Demo in München — und den gleichartigen Demos, die noch folgen werden — mit den Fackelmärschen der (National-)Sozialisten hinkt und ist wenig zielführend.
Die Menschenmassen der Lichtermeer-Demos verharren stillstehend am Ort einer stationären Demonstration. Statt entzündlicher Fackeln halten sie kalte Handylichter in die Höhe, und obendrein handelt es sich bei Demos mit dieser Symbolik um nichts Neuartiges.
Anstelle von irgendwelchen historisch wackeligen und juristisch möglicherweise problematischen Vergleichen, sollte der Fokus lieber auf die dunklen Flecken gerichtet werden, die von dem Lichtermeer nicht erfasst werden.
Licht und Liebe werfen lange Schatten des Hasses
Hass bekämpfen? Wie geht das eigentlich? Ist das nicht sogar total widersprüchlich? Aber genau das haben sich Hunderttausende Menschen in diesem Land auf die Fahne geschrieben. Wie stellen sich diese Menschen das vor? Glauben sie ernsthaft, der Hass ihrer politischen Rivalen verschwindet einfach, wenn dagegen angesungen, angebrüllt und ausreichend Lichter in den Nachthimmel gehalten werden?
Und wird überhaupt einmal die Frage gestellt, wo dieser Hass herrührt? Auf diese Frage haben manche in der Fraktion „der Guten“ eine plumpe Antwort, die von ebendieser Unterkomplexität ist, die man zu gerne den „rechten Verschwörungsideologen“ vorwirft. Die Menschen trügen Hass in sich, weil sie durch Fake-Verbreiter und Desinformations-Trolle im Netz aufgestachelt worden wären. Sozialer Abstieg, Zukunftsängste, mangelnde politische Repräsentation spielt in dieser Betrachtung keine Rolle. Und wenn, dann wird das schlicht dem Umstand zugeschrieben, dass diese Menschen Bildungsverlierer seien. Hätten sie sich halt in der Schule mehr angestrengt.
Was hier entsteht, ist eine überaus simple Dichotomie zwischen Gut und Böse, Dunkelheit und Licht. Auf der einen Seite das Böse — das Dunkeldeutschland mit seinen Rechten, Hassern und Hetzern, alten weißen toxischen Männern — und auf der anderen Seite die gebildeten, kosmopolitischen, woke-diversen, CO2-sparenden, geimpften Demokraten, die sich immer mit dem jeweils richtigen Land solidarisieren und überhaupt jede aktuelle Sache unterstützen, wenn dies das Gut-Sein so erfordert. Letztgenannte wähnen sich ganz selbstverständlich auf der richtigen, der lichtvollen Seite. Böse? Das sind immer die anderen! Nie man selbst.
Im Grunde genommen kranken die „Gutmenschelnden“ an derselben Reflexionsverweigerung und narzisstischen Selbstüberhöhung wie die vielen New-Age-Apologeten, die nicht müde werden, permanent von „Licht und Liebe“ zu schwafeln, während sie mit ihrem passiv-aggressiven Dauergrinsen und Harmonie-Gestöhne die eigenen Schatten und Dämonen unterdrücken.
Bei den „Gutmenschelnden“ geht es eben nicht um „Licht und Liebe“, sondern um „Licht und Haltung“. Stets gilt es dabei, im Licht zu bleiben und die Schatten zu meiden. Es geht fehl, die Lichtermeere mit Fackelmärschen der Nazis zu vergleichen. Vielmehr sollte beleuchtet werden, was bei diesen Demos im Dunklen bleibt. Denn genau das dort Verborgene ist das eigentlich Entscheidende. Dort schlummert, was die Demonstranten bei sich selbst nicht wahrhaben möchten.
An diesem Sonntagabend wurde die bei Nacht sonst stockfinstere Theresienwiese mit tausenden Lichtern erhellt, um das vermeintlich Gute im strahlenden Licht sichtbar werden zu lassen. Ich beobachtete an diesem Abend die Menschen sehr genau. Mit moralischer Selbstgewissheit wurden die Lichter in die Höhe gehalten. Vielfach wurden Selfies geschossen. Man wollte wohl festhalten, dass man Teil des „Sonnensystems des Guten“ ist. Die Menschen strömten in Richtung Licht, zwängten sich eng zusammen, darauf bedacht, nicht im Außen zu stehen, nicht an den Rändern, nicht ... im Dunklen.
Das Dunkle wurde irgendwie gefürchtet. Dort in dem Dunklen, da schien es etwas zu geben, vor dem man sich fürchtete. Im Lichte tausender Smartphone-Scheinwerfer wurden Kampfparolen gegen rechts skandiert. Wehe dem, der dort vor Ort irgendwie in die Kategorie des wie auch immer gearteten „rechts“ hineingerät. Als „Ungepikster“ fühlte ich mich in dieser Menschenmenge unwohl, wie ein Westagent inmitten einer sowjetischen Militärparade. Mit einem Neuralink-Chip unter der Schädeldecke hätte ich mich nicht auf die Demo getraut. Und genau das ist es, was viele in dieser Menge wohl fürchteten. Sie bemerkten — wenn vielleicht auch nur unterbewusst — wie mit all jenen verfahren wird, die abweichen, die das Licht verlassen. Sicherer fühlt es sich dann an, gegen Nazis anzubrüllen … statt sich mit dem eigenen inneren Nazi auseinanderzusetzen.
Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz schrieb bereits in seinem Buch „Das gespaltene Land“ — welches wohlgemerkt kurz vor Corona erschien — hierzu treffend:
„‚Nazi‘ ist zu einer moralischen Allzweckwaffe gegen Andersdenkende pervertiert im Bemühen, eine politisch kritische Stimme als ‚rechts‘ zu denunzieren mit der Absicht, damit jeden Inhalt so zu entwerten, dass man sich damit gar nicht mehr auseinandersetzen, geschweige denn eine womöglich wichtige und ernst zu nehmende Aussage hören muss. Etwas nicht wirklich hören und verstehen zu wollen verrät den Abwehrcharakter der Handlung. Die Beschimpfung ist eine Schutzreaktion. Der ‚Nazi‘ als selbstverständlich übler Mensch erspart den Blick auf das eigene Böse, denn das ist im ‚Nazi‘ bereits identifiziert. Je mehr einer ‚Nazi‘ ruft, desto mehr verkörpert er etwas von dem, was er eigentlich oder angeblich bekämpfen möchte. (…)
Heute wird der ‚Nazi‘ aus der unbewältigten Geschichte wieder als Gespenst aufgeblasen, wo eine Erkenntnis der eigenen Entfremdung dringend erforderlich wäre, die die soziale Hetze: ‚Du Nazi!‘ in die eventuell schmerzvolle und bittere Frage: ‚Ich Nazi?‘ als eine innerseelische demokratische Grundübung verwandeln müsste. Dabei geht es nicht um politische Positionen oder eine ‚Gesinnung‘, sondern darum, ob hasserfüllte Gedanken und feindseliges Handeln aus eigener Selbst-Verstörung auf andere projiziert werden. So gesehen gibt es rechte ‚Nazis‘, linke ‚Nazis‘, grüne ‚Nazis‘, islamische ‚Nazis‘, (…) und ganz normale ‚Nazis‘.
Der Missbrauch der Moralkeule ‚Nazi‘ wirft ein Licht auf den Missbrauchenden und auf die Absicht der Diffamierung. Psychodynamisch gesehen, gleicht die Denunziation einem rassistischen Akt. Der Verfolger benutzt eine für immer diskreditierte Bezeichnung gegen andere, die ihm sofort den Status des Guten, des moralisch Reinen verleiht. Wer ‚Du Nazi!‘ sagt, wähnt sich automatisch in der Position des Überlegenen, des Besseren. Die Jagd auf ‚Bösewichter‘ hilft, das eigene Böse zu bannen oder gar nicht erst zu realisieren. Dabei ist der Kampf gegen Andersdenkende an sich ein feindseliges Agieren, das genau die Übel vollzieht, die denunziert und bekämpft werden sollen“ (2).
Im Grunde genommen handelt es sich bei diesen Demonstrationen um Veranstaltungen von „Schatten-Leugnern“: Menschen, die sich ihrer eigenen Schatten nicht bewusst sind und diese stattdessen auf das massenmedial servierte Feindbild projizieren.
Wie es weitergeht, ist schwer absehbar. Die Erzählungen hinter den „current things“, die Narrative der Polykrisen und die kuratierten Bildschirmrealitäten kollidieren immer offensichtlicher mit der Lebensrealität vieler Menschen. Lange wird es sich nicht mehr aufrechterhalten lassen, sämtliche Verwerfungen der Gesellschaft dem Phantom des allgegenwärtigen Nazis in die Schuhe zu schieben. Dann führt im Grunde genommen kein Weg mehr daran vorbei, sich den eigenen Schatten zu stellen.
„Man wird nicht dadurch erleuchtet, daß man sich Lichtgestalten vorstellt, sondern durch Bewusstmachung der Dunkelheit“ (C. G. Jung).