Die Scham ist vorbei
Der Titel eines Buches aus den 1970er-Jahren von Anja Meulenbelt ist heute aktueller denn je — ein Appell, Wildheit zu wagen.
Jahrtausendelang wurde unsere Sexualität unterdrückt und fehlgeleitet. Wenn hier etwas fehlläuft, so der indische Philosoph Osho, entstehen Perversionen, die sich in Hass ausdrücken, in Gewalt, Geldgier und ständigen Konflikten des Egos, die immer wieder zu Krieg führen. Auch heute steht Sex oft in Verbindung mit Angst und Schmerz. Vergewaltigung, Beschneidung, Genitalverstümmelung, Krankheit, Pornografie, Pädophilie — die eigentlich schönste Sache der Welt ist schwer belastet. Es ist Zeit, die Scham von der Scham zu befreien und in die ursprüngliche Schoßkraft zurückzufinden.
Ich kann mich nicht genau daran erinnern, in welchem Grundschuljahr es war, als ich davon träumte, der blonde Nachbarsjunge würde mich küssen. Es muss zu der Zeit gewesen sein, als ich mir vorstellte, wie es sei, Winnetou würde sich auf mich legen. Damals ahnte ich nicht, dass es einst als politisch unkorrekt gelten würde, auch nur das Wort Indianer in den Mund zu nehmen. Ich ahnte nichts von den Empörungsstürmen um das Thema Sexualität, nichts von Geschlechtsumwandlungen und nichts davon, dass uns einmal empfohlen werden würde, beim Sex auf Abstand zu gehen: „Masturbieren Sie gemeinsam. Verwenden Sie Gesichtsmasken, um das Risiko zu verringern“ (1).
Ein paar Jahre Sex and Drugs and Rock ’n‘ Roll haben es nicht geschafft, die Liebe zu befreien. Kaum waren wir auf den Geschmack gekommen, kam die Angst vor AIDS. Anstatt tiefer in das Thema Sexualität hineinzugehen, in diesen geheimnisvollen Raum in uns, in dem unsere ursprüngliche schöpferische Kraft pulsiert, wurden unsere Beziehungen immer oberflächlicher und austauschbarer. Ein kurzer Schuss, ein schnelles Match, bis zum nächsten Mal. An der Beliebigkeit hat auch die Suche nach dem G-Punkt nichts geändert.
Durch das Internet ist Sex immer nur einen Klick entfernt. In der virtuellen Anonymität sind wir ganz frei, tabulos, enthemmt. Nie hatte Pornografie mehr Erfolg, nie war Geschlechtlichkeit so sehr ein Politikum. Nachdrücklich wirbt das Regenbogenportal, eine Seite des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, für Genderfreundlichkeit und die Anerkennung aller erlaubten sexuellen Praktiken. Freilich ohne Bezug auf wissenschaftliche Quellen erklärt die Seite die Vorstellung der natürlichen Zweigeschlechtlichkeit als widerlegt und bezeichnet die als gestrig, die immer noch glauben, das Vorhandensein bestimmter Genitalien bestimme das Geschlecht (2).
Unter die Gürtellinie
Auf der anderen Seite ist das Thema Sexualität weiterhin tabu. Nicht einmal richtig Smileys und Emojis, so Lars Ebert auf dem Medienportal Transition News, gibt es für Sex und körperliche Liebe, im Gegensatz zu jeder Menge Zombie-Emojis und Familien mit nur männlichen Eltern (3). Wie kein anderes Thema ist die schönste Sache der Welt mit Schweigen, Schuld und Scham besetzt.
Im Laufe unserer Geschichte wurde uns die körperliche Liebe immer wieder madiggemacht. Mit Eva, die die wilde Lilith abgelöst hatte, wurden Erbsünde und gegenseitiges Misstrauen gewissermaßen in die Wiege unserer Zivilisation gelegt. In allen monotheistischen Religionen steht die Frau hinter dem Mann zurück. 500 Jahre Inquisition sorgten dafür, dass die Frauen immer nur noch mehr verteufelt und ihres alten heilenden Wissens nahezu vollends beraubt wurden. Die evangelische Kirche machte es nicht viel besser. Auch für Martin Luther war die Frau nichts weiter als eine Gliedschüttlerin.
In vielen Kulturen erleiden Mädchen und Jungen Genitalverstümmelungen und Beschneidungen. Seit etwa 5.000 Jahren gibt es die Genitalverstümmelung in Afrika. In 35 Staaten wird sie heute noch praktiziert (4). Mehr als ein Drittel der Männer ist beschnitten. Überall in der Welt steht Sexualität mit Gewalt in Verbindung. Zu jedem Krieg gehört Vergewaltigung. Sie ist nicht nur eine Art Kollateralschaden, sondern wird vorsätzlich und in voller Absicht als Kriegswaffe eingesetzt. So sind wir alle, Männer und Frauen, in unserem tiefsten Inneren, dort, wo unsere Schöpferkraft sitzt, mehr oder weniger schwer traumatisiert.
Aus dem Leib getrieben
Die Opfer tragen nicht nur körperlichen Schmerz, sondern auch eine lebensverneinende Scham mit sich herum. Diese Scham hat sich in unserem Schoßraum festgesetzt, dort, wo die deutsche Sprache ein und dasselbe Wort für zwei Dinge hat, wie sie unterschiedlicher kaum sein können: das höchst unangenehme Gefühl, wenn man sich vor anderen Menschen in einer peinlichen Situation befindet, und den Bereich des Körpers, in dem wir höchste Lust und Wonne erfahren können, die tiefe und hingebungsvolle Vereinigung mit einem anderen Menschen.
So hat im Laufe der Jahrtausende eine Scham die andere quasi neutralisiert. Damit ist auch unsere Schöpferkraft blockiert, die Kraft, mit der wir nicht nur Kinder zeugen und auf die Welt bringen, sondern in symbolischer Weise neues Leben erschaffen. Um den Schmerz zu ertragen, der uns und unseren Vorfahren im Laufe der Zeit angetan wurde, haben wir ihn abgespalten. Somit wurde auch unsere Kreativität für uns unzugänglich, unser Bauchgefühl, unsere Intuition. Mehr und mehr haben wir uns verschlossen und kommen nicht mehr an das heran, was uns ursprünglich unsere Kraft gab.
Verfremdet
Mit dem Verlust unserer Schöpferkraft wurde der Weg frei für den neuen, verbesserten Menschen, den Menschen, der bereit ist, sich letztendlich mit der Maschine zu vermählen. Wer hier noch an Zufall glauben mag, der sollte zweimal hinschauen. Dann erkennt er, dass die uns bevorstehende posthumane Ära bereits in der Genesis angelegt ist: künstliche Befruchtung, absolute Kontrolle durch eine männliche Übermacht, Unterordnung und Entrechtung der Frau in ihrer Rolle als Gebärende.
Wie Eva aus der Rippe Adams geht das transhumane Leben aus dem Leib des Mannes hervor. Bereits heute ist es möglich, Männern einen Uterus einzupflanzen. Die Bezeichnungen „Frau“ und „Mann“ werden immer weiter verwischt und durch Menschen mit und Menschen ohne Uterus ersetzt.
Schon in der Vorschule werden die Jüngsten der Gesellschaft auf diese schöne neue Welt vorbereitet. Bereits vor ihrer natürlichen Geschlechtsreife können Kindern Hormonblocker verabreicht werden, damit sie sich das passende Geschlecht aussuchen können.
Während es auf der einen Seite völlig in Ordnung ist, Menschen zu diskriminieren, die bei den Themen Corona, Ukraine und Klima nicht den offiziellen Vorgaben folgen, werden auf der anderen Seite bunte Paraden abgehalten, die den Schein von mehr Toleranz und Offenheit vermitteln sollen. Tatsächlich ist unsere Gesellschaft heute gespaltener und verschlossener denn je. Diejenigen, die noch altmodisch Männer und Frauen genannt werden, beäugen sich misstrauisch, ahnden jeden Fauxpas und schaffen es nicht, zueinander zu kommen.
Trügerischer Fortschritt
Die immer weiter fortschreitende Entfremdung trifft und betrifft zunächst uns selbst. Viele haben den Bezug zum eigenen Körper verloren. Für alles gibt es Spezialisten. Schwangerschaft wird von vielen wie eine Krankheit erlebt und eine Hausgeburt gilt als gefährliches Wagnis. Ohne die Kittel in Weiß, so dünkt es manchen, wären wir gar nicht am Leben. Brav gehen wir Frauen regelmäßig zur Krebsvorsorge, folgsam lassen wir uns kalte, metallene Geräte in den Unterleib schieben und uns bis in unser Intimstes hinein ausleuchten.
Vor Krankheiten schützt uns das quälende Prozedere freilich nicht. Unterleibserkrankungen und Brustkrebs haben in den vergangenen Jahren geradezu explosionsartig zugenommen. Um dem vorzubeugen, lässt sich in Deutschland mittlerweile jede zehnte Frau Eierstöcke und Gebärmutter entfernen. Jede sechste Frau über 60 hat eine Hysterektomie hinter sich. Daneben leiden immer mehr Frauen unter Endometriose, einer Krankheit, bei der die Gebärmutterschleimhaut auch außerhalb der Gebärmutter wächst. Sie führt zu Schmerzen im Unterleib, in Beinen und Rücken, beim Gang zur Toilette und beim Sex.
Ohne Bedenken führen wir uns chemiegetränkte Tampons in die empfindliche Vagina ein und halten uns mit der Pille allzeit bereit. Vom Regelblut wollen wir so wenig wie möglich mitbekommen. Oft wird es mit Erbrochenem gleichgesetzt, mit Kot und sonstigen Ausscheidungen. So haben wir auch zu Geburt und Sterben immer weniger Bezug. Sie gehören uns nicht mehr und werden von anderen gemanagt. Den bisherigen Gipfel dieser Entwicklung haben wir während der Coronajahre erlebt: Gebärende und sterbende Menschen hatten keine oder nur eingeschränkte Rechte, diese wichtigen Momente im Kreise ihrer Lieben zu erleben.
Die wilde Lilith
Mit dem Bezug zum eigenen Körper sowie zu einer gesunden und erfüllenden Sexualität haben wir auch an Bewusstsein verloren. Die von vielen Menschen empfundenen Scham- und Schuldgefühle gehören auf der Bewusstseinsskala des amerikanischen Psychiaters David Ramon Hawkins zu der untersten Bewusstseinsebene (5). Hier sind wir wie zusammengefaltet, verletzt, gedemütigt, ohnmächtig, uns unserer Kraft nicht bewusst. Menschen, die auf diese Weise gefangen sind, kann man beliebig manipulieren. Sie bleiben in Apathie, Ärger, Wut, Trauer und Angst hängen und haben keinen Zugang zu den höheren Bewusstseinsstufen, in denen sich Mut, Zuversicht, Vernunft, Freude und Liebe entfalten können.
Es ist die wilde Lilith, die uns aus diesem Dilemma befreien kann. Ein Dämon soll sie gewesen sein, die erste Frau Adams. Häufig wird sie als geflügeltes Mischwesen dargestellt, als fiktive Schimäre. Sie ist ruhelos, ohne festen Wohnort, und wird dem Wind zugeordnet. Lilith gilt als unrein, als Kobold, als nachtaktives Tier, und soll zu den Geistern gehören, die des Nachts die Menschen heimsuchen und den Kindstod verursachen. Ihr schlechter Ruf basiert darauf, dass sie sich der Beherrschung durch den Mann entzogen hat.
Lilith verkörpert Freiheit, Sinnlichkeit, Leidenschaft und ausgelebte Sexualität. Die christlich-patriarchal geprägte Kultur konnte sie nur zu einem Wesen der Nacht abwerten und schließlich ganz verschwinden lassen.
Doch heute ist sie wieder da. Die jüdisch-feministische Theologie und die Emanzipationsbewegung haben sie von ihrer negativen Konnotation befreit. Sie erinnert uns an unsere ursprüngliche Wildheit, an die unbändige Kraft, die in jeder Frau steckt, und die den Männern so viel Angst macht. Welche Kraft bedeutet es, neues Leben aus sich heraus zu gebären! Welche Energie braucht es, die Kinder zu nähren, die ihr entspringen, und die Familie zusammenzuhalten! Der Mann, der nicht mehr Beschützer dieser Kraft sein will, kann sich nur wie ein bedeutungsloser Gimpel vorkommen, der nur dadurch versuchen kann, Bedeutung zu erhalten, dass er der Frau diese Kraft streitig macht.
Aus dieser Verletzung des Egos heraus wurde vor mehr als 5.000 Jahren das Patriarchat geboren (6). Aus Männern wurden Alleinherrscher und aus Göttinnen Hausfrauen. Verloren haben letztlich alle. Nicht nur die Lust aneinander schwindet, auch die Geburten gehen radikal zurück. Immer mehr Menschen mit oder ohne Uterus leiden unter unregelmäßigen Monatsblutungen, Erektionsstörungen, Impotenz und Unfruchtbarkeit. Wenn wir aus dieser Nummer wieder herauskommen wollen, dann ist es jetzt an der Zeit, gemeinsam unsere ursprüngliche Wildheit zu entdecken.
Mehr als ein Rubbelspiel
In unserer Zivilisation gilt das Wilde als gefährlich. Die ungezähmte Natur, der wilde Dschungel machen Angst und müssen gezähmt werden. Dieses Denken hat sich über Jahrtausende in uns festgesetzt. So kommt es, dass weiter jeden Tag gigantische Flächen Urwald abgeholzt werden und bis zum Letzten versucht wird, das Leben in künstliche Formen zu gießen. Wenn wir nicht in den Technoskeletten erstarren wollen, müssen wir uns an das Wilde und Ungestüme in uns erinnern, an das, was uns als Kinder Purzelbäume schlagen und juchzend und kreischend Schmetterlingen hinterherlaufen ließ.
Die uralte Kraft ist noch da. Unsere Schoßräume sind noch nicht versiegelt. Wir können es noch empfinden, das tiefe Sehnen und Wollen, die Lust, berührt zu werden und zu berühren, den tiefen Wunsch, einander wirklich zu begegnen und sich im anderen zu erkennen. Auch wenn wir verlernt haben, in unserem Denken das Richtige vom Falschen zu unterscheiden — in unserem Fühlen wissen wir noch, wie es ist, wenn wir echt sind, authentisch, wahrhaftig.
Es fühlt sich wohlig an, warm und umfangend, zart und kräftig zugleich. Wie in Wellen durchströmt es uns, das Glück des gemeinsamen Seins, in dem Lust und Schmerz, Lachen und Weinen, Ekstase und tiefe Entspannung so nah beieinanderliegen. Es ist das Animalische in uns, so die Friedensforscherin Sabine Lichtenfels, das uns die göttlichen Sphären erschließen lässt (7). Erst wenn es uns gelingt, uns wieder mit der irdischen Urkraft zu verbinden, steht uns auch der Himmel offen.
In der Sexualität vereinen sich die Gegensätze. Wie ein Echo klingt es herüber aus uralter Zeit, als wir noch ganz waren, heile, eins. Damals waren wir noch nicht zerrissen in der Dualität, sondern ergänzten uns gegenseitig in der Polarität.
Die Kraft, die aus dieser Zeit zu uns herüberströmt, können wir uns jetzt zunutze machen. Wir können uns daran erinnern, wer wir wirklich sind, und die Flamme, die die Urvölker des Planeten für uns bewahrt haben, weitertragen.
Vom Weibchen zum Weib
So kann abgewandt werden, was uns sonst bevorsteht: die totale Vernichtung des natürlichen Lebens und seine Ersetzung durch das künstliche. Männer und Frauen können sich jetzt darauf besinnen, wieder zusammenzukommen und einander in ihrer Wahrhaftigkeit zu begegnen. Es sind die Frauen, die die ersten Schritte längst getan haben. Längst haben sie sich auf den Weg gemacht, sich aus den Lumpen der Unterwürfigkeit zu befreien, nicht, um das Lebendige noch skrupelloser als die Männer zu zerstören, sondern um es mit liebevoller Fürsorge zu umhegen.
Aus unterdrückten Weibchen sind echte Weiber geworden. Keine Amazonen, die sich die Brust abschneiden, um besser schießen zu können, sondern Frauen, die es in sich haben. Sie lassen sich nicht mehr erzählen, dass sie zum schwachen Geschlecht gehören. Sie scharren nicht wie die Hennen um den Hahn herum in der Hoffnung auf ein paar Körnchen Anerkennung. Denn sie wissen, wer sie sind, und haben gelernt, sich selbst wertzuschätzen.
Sie brauchen keinen Mann, um sich selbst schön zu finden, niemanden, der sie mit Glimmer überschüttet. Sie nehmen die Dinge selbst in die Hand, selbstbewusst, sinnlich, leidenschaftlich. Sie haben den Zugang zu ihrer Schoßkraft gefunden und die Scham befreit. Es sind Frauen, die sich ihrer weichen Macht bewusst sind, einer Macht, die sich nicht gegen die Männer richtet, nicht gegen die Liebe, sondern einer Macht der gemeinsamen sexuellen und politischen Verantwortung, aus der heraus eine friedliche Welt geboren wird (8).
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Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www1.nyc.gov/assets/doh/downloads/pdf/imm/covid-sex-guidance.pdf
(2) https://www.regenbogenportal.de
(3) https://transition-news.org
(4) https://www.target-nehberg.de/de/weiblichegenitalverstuemmelung
(5) David R Hawkins: Die Ebenen des Bewusstseins: Von der Kraft, die wir ausstrahlen, VAK Verlags GmbH 2014.
(6) https://www.rubikon.news/artikel/zuruck-in-die-steinzeit
(7) https://www.rubikon.news/artikel/die-grosste-macht
(8) Sabine Lichtenfels: Weiche Macht. Perspektiven eines neuen Frauenbewusstseins und einer neuen Liebe zu den Männern, Meiga 2017.