Die Scham des Ostens
Westdeutschland benötigt die neuen Bundesländer als zu beschämende Projektionsfläche für die eigenen Unzulänglichkeiten. Erst ein vorurteilsfreies Aufeinanderzugehen kann die beidseitige Scham transformieren.
Das Verhältnis zwischen Ost und West ist auch eine Geschichte über Scham. Das permanente Minderwertigkeitsgefühl im Osten wird vom Westen sowohl geschürt als auch geschickt instrumentalisiert. Müsste sich der Westen nicht dafür schämen? Oder wäre es nicht endlich Zeit, dass Deutschland der Scham-Falle entkommt? Ein Beitrag zum Ost-und-West-Spezial.
Die Sache mit der Scham. Natürlich ist nicht wahr, dass Adam und Eva uns das eingebrockt haben, auch wenn deren Geschichte gerne erzählt wird und für jedermann im Alten Testament nachzulesen ist: Kaum hatten sie vom Baum der Erkenntnis gegessen, war es vorbei mit der unbeschwerten Nacktheit, stattdessen „flochten sie Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze“, bedeckten also ihre Genitalien. Vielleicht ist gar nicht so wichtig, wie genau die Scham zu dem Menschen kam; fest steht, sie ist ihm nicht auszutreiben, ist also anthropologische Konstante, so scheußlich sie sich auch anfühlt. Auf körperlicher Ebene: Gesichtsröte, Herzklopfen, Hitzewallungen.
„Der Schamerfüllte möchte (…) die Welt zwingen, ihn nicht anzusehen (…). Er würde am liebsten die Augen aller anderen zerstören. Stattdessen muss er seine eigene Unsichtbarkeit wünschen.“
So beschrieb es der Freud-Schüler Erik H. Erikson.
Blickt man heute auf Deutschland, gibt es sicher viele Bundesbürger, die wünschten, sie wären unsichtbar. Etwa in Bezug auf die eigene Nation. Der stolze Deutsche gilt, historisch nachvollziehbar, als verdächtig; die schwarz-rot-goldene Fahne hat eingerollt zu bleiben, besser noch, man besitzt sie erst gar nicht. AfD-Wähler hingegen sehen dieses Versteckspiel überhaupt nicht ein. Wäre ja noch schöner, sich für sein eigenes Land schämen zu müssen. Die aktuellen Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen sind daher sicher auch ein Befreiungsakt aus der Scham, die in Ostdeutschland just mit dem — gegenständlichen — Mauerfall mitgeliefert wurde und nun seit Jahrzehnten grassiert. Eine Scham, die sich auf alles Mögliche bezieht, vor allem aber auf die eigene Identität. Ihre Existenz hat viel damit zu tun, dass der Graben zwischen Ost- und Westdeutschland weiterhin so hartnäckig besteht.
Wie also die Scham endlich loswerden? Und wer eigentlich hat sich darum zu kümmern? Handelt es sich um eine rein ostdeutsche Angelegenheit? Gibt es in diesem innergesellschaftlich schwelenden Konflikt auch so etwas wie eine westdeutsche Scham? Oder muss sich der Westen nicht vielmehr mit der eigenen Bereitschaft, vielleicht sogar Lust, beschämen zu wollen, auseinandersetzen? Will er sich tatsächlich aus dem von ihm erzeugten Machtgefälle lösen, aus der Hybris, die darauf zielt, beim Gegenüber Scham auszulösen?
Fraglich ist natürlich, ob es hilfreich ist, hier ein nächstes Opfer-Täter-Denken zu etablieren: also da der Osten, der sich gefälligst immer zu schämen hat, und dort der Westen, der partout nicht davon ablassen will, den „Ossi“ in die Schamesröte zu treiben. Anders gesagt, eine Betrachtung, die nur ein Schwarz und ein Weiß berücksichtigt, ist und bleibt intellektuell unredlich. Die Erkenntnis liegt in den Zwischentönen, dort also, wovor man in den allermeisten Debatten flieht.
In der Philosophie ist viel über Scham nachgedacht worden. Aus Sicht des Existenzialisten Jean-Paul Sartre basiert die Scham auf der grundlegenden Erfahrung, ein Objekt für den anderen zu sein, also sich bewusst darüber zu werden, dass ich im Blick des anderen nicht nur existiere, sondern auch durch ihn festgelegt werde. Wer sich schämt, protestiert gegen eine abwertende Einordnung — und erkennt sie zugleich an, gibt also dem Blick des anderen das entscheidende Gewicht als urteilende Instanz.
Voraussetzung für die Scham ist also der andere, vor dem ich mich schämen kann, zum zweiten eine Vorstellung davon, wie ich vom anderen gesehen werde, und zum dritten die Wahrnehmung von mir selbst, der ich weniger Bedeutung gebe als der des anderen. Ich stimme also zu, dass ich so bin, wie der andere mich sieht. Sein Blick macht meine Makel übergroß, bringt sie meist überhaupt erst in die Sichtbarkeit.
Allein: Kann es uns denn nicht egal sein, was andere von uns denken? Wieviel Zustimmung brauchen wir wirklich? Sollten wir uns davon knechten lassen? Wieso erlauben wir dem anderen, in uns Scham auszulösen — können wir das nicht steuern oder gar ablegen?
Es heißt, es gäbe auch die sogenannte „Westscham“. Die Frage aber ist, ob es die überhaupt gibt oder sie nicht vielmehr herbeigeredet wird, damit die Ostdeutschen mit ihrer oft thematisierten Scham nicht so alleine dastehen. Ohnehin, wer denkt sich solche Begriffe aus? In den Mainstream-Medien wird ganz selbstverständlich über die „Westscham“ geredet. So tat es unter anderem die Theologin Petra Bahr in einem ZEIT-Interview. „Westscham“ beispielsweise wegen ihrer mit dem Westen verbundenen Privilegien. „Westscham“, weil sie als Westdeutsche nichts beigetragen habe zur friedlichen Revolution. „Westscham“, weil sie lediglich Zuschauerin war.
Auch Juli Zeh äußerte sich. Die Schriftstellerin widersprach. Sie habe keine „Westscham“, aber ihr sei vieles peinlich, und zwar „ungemein peinlich“, etwa die Gehaltsunterschiede zwischen Ost und West. So richtig überzeugend klingt das irgendwie nicht. Eher danach, als würden sich Westdeutsche nur deshalb zu einer Scham hinreißen lassen, damit sie sich nicht schämen müssen, keine zu haben. Denn: Wie sähe das denn aus? Also zahlt man ein bisschen Scham ein — so wie den Soli. Will man es freundlich auslegen, könnte man in den westdeutschen Schambekenntnissen, wie bemüht sie auch sein mögen, eine Art Annäherungsversuch an den Osten sehen. Was, wenn sie das tatsächlich wären? Und inwiefern ließe sich das ausbauen? Dürfte schwierig werden. Bekanntlich ist es nun mal nicht so, dass wir uns in Gesprächen derart auf das Thema Scham stürzen wie auf Lachshäppchen am Buffet.
Man möge es mir übrigens nachsehen, dass ich, auch mangels besserer Begriffe, eine Einteilung mache in „Ostdeutsche“ und „Westdeutsche“. Mir ist das unangenehm, und gewiss auch manchem Leser.
Zugleich: Die Mauer, sie ist ja immer noch da. Immer noch, nach über drei Jahrzehnten, auch wenn die Steine längst abgetragen sind. Nur: Wieso sind wir dermaßen unfähig, diese Mauer zu überwinden? Spätestens hier fängt schon so etwas wie Scham an.
Ich will mich keinesfalls aufdrängen mit meiner Scham, aber ich kann mich, genau besehen, diesbezüglich auch nicht davon ausnehmen. Ich bin in Oberbayern aufgewachsen — die DDR war weder an meinem Gymnasium noch im Familien- und Freundeskreis ein großes Thema. Zumindest erstmal nicht. Ja, das ist schrecklich ignorant. Auch wenn ich mich irgendwann dafür sehr zu interessieren begann, wie das Leben in der SED-Diktatur gewesen ist, viele Bücher dazu gelesen und Gespräche geführt habe, kann ich natürlich nicht mitreden. Allein: Das können viele andere auch nicht, trotzdem tun sie es — und schämen sich nicht dafür.
Darauf, dass ich aus dem Westen komme, habe ich mir nie etwas eingebildet — wieso auch? Wir sind nicht losmarschiert, um die Mauern der DDR niederzureißen. Dann: Der Kapitalismus ist nicht meine Religion. Und: Man ist kein besserer Mensch, weil man die freie Auswahl zwischen mindestens 65 Joghurtsorten hat. Bis heute schäme ich mich dafür, wenn „Wessis“ sich „Ossis“ überlegen fühlen. Manchmal habe ich das Gefühl, die im Westen immer noch existente Hybris kompensieren zu müssen. Dann werde ich hymnisch, halte beispielsweise flammende Reden auf Ostdeutschland, wo ich tatsächlich — ich habe jedes Bundesland bereist — viele besonders schöne Erfahrungen gemacht habe. Über die Hybris des Westens müsste man sich vielleicht weniger ärgern, wenn man sie genauer unter die Lupe nehmen würde. Schlägt es fehl, sie als Kehrseite der Scham zu bezeichnen?
Was ich über die Scham der Ostdeutschen weiß, das weiß ich aus zahlreichen Berichten und persönlichen Begegnungen. Dialekte werden versteckt, man will nicht viel über seine Herkunft reden, man wehrt sich mit einem „Es war nicht alles schlecht“. Man will nicht unbedingt so viel darüber wissen, wer man selbst war in dem SED-Regime, will verdrängen, welche Zwänge man selbst oder die eigene Familie über sich hat ergehen lassen, ohne sich zur Wehr gesetzt zu haben, oder man will nicht zugeben müssen, dass man gar nicht mal darunter gelitten hat. So oder so, jeder DDR-Bürger war zwangsläufig mit den durch die Diktatur gelegten Strukturen konfrontiert, musste sich zu dem Staat also in Bezug setzen. Die Ostdeutschen waren nie eine homogene Masse, gleichwohl sie demselben Erfahrungsraum ausgesetzt waren.
Erst nach dem Mauerfall gab es plötzlich „die Ostdeutschen“, unabhängig davon, ob sie frühere Stützen des Regimes waren, Spitzel und Karrieristen, oder — notgedrungen — Angepasste oder stille oder renitente Abweichler.
Immer wieder gibt es Umfragen, wonach sich etwa die Hälfte der Ostdeutschen immer noch als Bürger zweiter Klasse fühlt. Ohne Scham sind solche Aussagen nicht zu denken. Und die hat nicht nur mit der Vergangenheit zu tun, sondern ebenso mit der Gegenwart, wonach in Ostdeutschland ziemlich viel im Argen zu liegen scheint. Schlechte Bezahlung, fehlende Perspektiven und verwaiste Dörfer sind freilich nicht von der Hand zu weisen.
Zugleich ist es unredlich, den Osten darauf zu reduzieren. Zumal man in einen Teufelskreislauf kommt, wenn die geringen Zukunftsaussichten mit der ostdeutschen Herkunft quasi vorherbestimmt seien.
Also: Was gibt es Schönes zu sagen? Es gäbe viel. Darauf lässt sich der Westen jedoch kaum ein. Auch weil er zugeben müsste, dass er zu Unrecht alles schlechtgeredet hat. Stattdessen wird darauf bestanden, dass der Osten zurückgeblieben sei, Demokratiedefizite habe und eine hohe Affinität zur Rechtsradikalität. Kurz und gut: Er brauche angeblich dringend Nachhilfe, und zwar vom Westen — doch der klagt nur weiter an. Nochmal: Es scheint eine Lust an der Beschämung zu geben. Vielleicht auch, darauf soll gleich eingegangen werden, eine Notwendigkeit, um sich selbst zu schützen.
Dirk Oschmann nennt den Osten in seinem Bestseller „eine westdeutsche Erfindung“. Der Literaturwissenschaftler, aufgewachsen im einstigen Bezirk Erfurt, zeigt auf, dass sich der Westen auch nach dem Mauerfall noch immer als Norm definiert — und den Osten als Abweichung. Das lässt sich auf psychoanalytischer Ebene, basierend auf Gedanken von Arno Gruen, wie folgt weiterdenken:
Der Osten dient als Projektionsfläche von allem Unliebsamen, das der Westen von sich abspaltet. So bleibt die Weste weiß. Insofern braucht der Westen den Osten dringend, um dorthin alle eigenen zerstörerischen Anteile, alle Bäh-Attribute abschieben zu können.
Doch diese Anteile dürfen dort nicht einfach herumliegen, sondern werden überdies vom Westen bekämpft. Damit wäre, und hier kommt Freud ins Spiel, der Westen das „Über-Ich“, also die moralische Instanz, die alles im Griff hat, und der Osten das „Es“, das nur dem Lustprinzip folgt, also den inneren Schweinehund nicht überwinden kann.
Was tun, um der Schamfalle zu entkommen? Wenn der Osten seine Scham nur bewältigen kann, indem der Westen ihm hilft, bleibt wieder, dass der Westen sich als Retter inszenieren kann. Das also wäre ein Irrweg. Auch andersherum funktioniert es nicht, da jedes Erlöserprinzip ein Gefälle schaffen will und eben nicht die Augenhöhe. Vielleicht so: Erstmal die Scham anerkennen. Sie bietet auch, und dieses Sujet findet sich oft in der Literatur, eine vorübergehende Zeit des Nachdenkens, des Zu-Sich-Kommens. Das Sich-Verschließen durch die Scham trägt in sich die Möglichkeit der Selbsterkenntnis. Und darin liegt wiederum der Anstoß zu Veränderung. Der beste Begleiter in diesem Prozess ist die Neugier aufeinander. Und das bedeutet, alle Vorwürfe endlich in Fragen zu verwandeln, die zu einem Forschen führen. Einem gemeinsamen Forschen.