Die Sandkastengesellschaft

Bürger werden von der Politik teilweise wie Kinder behandelt ― vielleicht liegt es ja daran, dass sie sich wirklich wie solche benehmen.

„Wie sag’ ich’s meinem Kind?“ Die politische Führungsriege lässt sich da bei der Bürgererziehung einiges einfallen. Eine schlichte Sprache, einprägsame Parolen, ein holzschnittartiges Denken in Gut und Böse, manchmal sogar Informationsbroschüren und Anzeigentafeln mit bunten Cartoons ... Nur niemanden überfordern, ist die Parole in neu-paternalistischen Zeiten. Gerade in der Corona-Ära mutierte das Land zu einem riesengroßen Kindergarten mit mal betulichen, mal strengen Betreuerinnen. So mancher kritische Geist fühlt sich da nicht ernst genommen oder sogar beleidigt. Es stellt sich aber die Frage: Schätzen uns unsere Landesväter und -mütter wirklich falsch ein? Ist es nicht vielmehr so, dass es der Mehrheit der Zeitgenossen wirklich an Reife fehlt? Vielen scheint es ja ganz lieb zu sein, bei Papa Staat unterkriechen zu können. Bequemlichkeit und übermäßige Empfindsamkeit haben sich breitgemacht. Viele spielen in ihren Hightech-Einzelzellen den lieben langen Tag, anstatt sich dem Ernst des Lebens zu stellen, und in den Social Media ähneln die Auseinandersetzungen zunehmend Sandkastenschlachten mit Schaufeln und Rechen. Es ist wichtig, von den politischen Entscheidungsträgern ernst genommen zu werden — aber verhalten wir uns doch zuerst mal wie Menschen, die man ernst nehmen kann!

Auf die Idee, sich die Hand vor den Mund zu halten, um zu signalisieren, dass man sich den Mund nicht verbieten lässt, muss man erst mal kommen. Verquere Logik. Made in Germany. Allein: Die Spieler der deutschen Fußballnationalmannschaft, die sich im vergangenen Jahr ebenso ablichten ließen, unmittelbar vor dem Anpfiff der WM-Partie gegen Japan, störten sich daran nicht. Das tugendterroristische Mannschaftsfoto sollte sie wohl als moralische Heroen ausweisen. Dabei hatte ihr gratismutiger Protest gegen die FIFA-Regularien höchstens das Niveau eines Kindergarten-Singspiels. Und ist damit nur ein nächster trauriger Beweis für die infantile Regression einer Gesellschaft. Mit längst grotesken Ausmaßen. Die auch in der Politik um sich greift.

Was nur dachte sich die deutsche Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, als sie während ihrer Corona-Quarantäne ein Video auf TikTok stellte, in dem sie mit der Play-back-Stimme einer Fünfjährigen herumträllerte? Warum zwängte sich FDP-Politiker Thomas Sattelberger in einen Astronautenanzug und fuchtelte mit einem Laserschwert herum? Warum albert die grüne Bundestagsabgeordnete Emilia Fester regelmäßig auf Social Media herum, als wolle sie sich für irgendeine Castingshow bewerben? Muss demnächst damit gerechnet werden, dass die „kleine Annalena“ im Bällebad eines Möbelhauses abgeholt werden möchte?

Wie alt Außenministerin Baerbock tatsächlich ist, scheint jedenfalls nicht eindeutig geklärt. Sie will zwar, haubitzenbesessen, dringend den Krieg in der Ukraine gewinnen, ist aber, so scheint es, über die Phase des Sprechenlernens noch nicht ganz hinaus. Mit ihren permanenten, längst befremdlichen Versprechern stellt die Grünen-Politikerin jedes Sandkastenkind in den Schatten; sie „entscheidigt“ und „eskalisiert“, sie referiert über das „fotzile Zeitalter“ und „Rohstoffe wie Kobold“.

Die Krux ist: Politiker sind nicht nur selbst betroffen, sondern sie setzen umgekehrt alles daran, die Bevölkerung dauerzubemuttern und damit in einem Zustand zu halten, als hätten die Bundesbürger gerade erst die Windel-Ära überwunden.

Das geht schon länger so, doch in der Corona-Pandemie gab es kein Halten mehr: Die Regierung spielte sich als oberster Erziehungsberechtigter auf, der uns in alle Alltagsbelange reinredete, indem er etwa dezidiert Anleitung zum Händewaschen und Waschlappen-Gebrauch gab; auch Netflix-Verbot wurde angedroht. Zuzüglich verbaler Strategien des Kleinhaltens: AHA-Regeln, Wir-Formeln und „Doppel-Wumms“-Beschwichtigungen.

Nun muss man freilich fragen, warum sich — vermeintlich — erwachsene Menschen das bieten lassen; schließlich begehrte nur eine Minderheit dagegen auf. Mit Peter Sloterdijk kommt man der Antwort näher. Der Philosoph stellte im ersten Teil seiner Sphären-Trilogie die These auf, Liebespaare neigten deshalb zur Symbiose, weil sie die pränatale Mutter-Kind-Dyade reproduzieren wollten. Zurück in den Uterus; die ewige Sehnsucht nach Rundumversorgung.

Das scheint auch ganz allgemein ein Trend. Denn: Erwachsen sein ist anstrengend, Realität ist auch schmerzhaft. Bietet sich daher die Möglichkeit, entlastet zu werden, lässt man sich, je nach Bequemlichkeitsneigung, gar zu gerne verführen. Gut, wenn man dann alles, was nicht rund läuft, auf andere abschieben kann. Schuld ist dann wahlweise der Partner, der Chef, die Politik. An die Stelle der Eltern wird „Vater Staat“ gesetzt oder auch ihrerzeit „Mutti Merkel“.

Infantilisierung ist, so betrachtet, keine intellektuelle Kränkung, sondern vielmehr eine durchaus willkommene Entwicklung. Der durch relativen Wohlstand noch verstärkt wird, da er einem erlaubt, nie „richtig“ erwachsen zu werden, ohne deswegen gleich in materielle Nöte zu geraten.

Werbung steuert unser Konsumverhalten vorrangig so, dass das unersättliche Kind in uns angesprochen wird, um den maßhaltenden Erwachsenen in uns außer Gefecht zu setzen. Auch Medien tun das, in dem sie gerne derart Panik verbreiten, dass man sich mitunter am liebsten, wie einst als Kind, unter der Decke verstecken möchte. Der Medienwissenschaftler und Kulturkritiker Neil Postman wies bereits in den 1970er-Jahren darauf hin, dass ewig kindische Erwachsene und übrigens auch viel zu früh erwachsene Kinder eine Folge der Dauerberieselung durch Medien sind.

Auch die Psychologie hat Erklärungen. Wenn die einzelnen Entwicklungsschritte vom Kleinkind- bis zum Erwachsenenalter nicht adäquat bewältigt werden, fallen Menschen, besonders in Stresssituationen, auf frühere Stufen zurück. Das Stehenbleiben auf der Stufe eines Kindes kann sich sowohl auf die körperliche als auch auf die geistige Entwicklung beziehen und wird als Infantilismus bezeichnet. Der Begriff stammt vom lateinischen Wort infantilis ab und bedeutet „kindlich“.

Wird Infantilismus herbeigeführt, spricht man von Infantilisierung. Diese drückt sich unter anderem aus in dem Hang zur Verniedlichung und dem Ausleben von kindlichem Narzissmus. Komplexität wird verweigert, der Widerwille gegen alles Komplizierte, Unangenehme und Widersprüchliche ist stark entwickelt.

Die Auswirkungen sind überall im Alltag zu beobachten. Spaß haben steht ganz oben; das Leben als Daueraufenthalt im Vergnügungspark. Wer nicht sofort bekommt, was er verlangt, reagiert wie ein verzogenes Kind. Sechzigjährige Männer tragen Baseballkappen und knappe Shorts wie es auch pubertierende Jungs tun. Manager fahren im Anzug auf Elektrorollern herum und wirken dabei wie Kindergartenkinder. Mütter kleiden sich wie ihre Töchter. Frauen jenseits der Fünfzig nennen sich stolz „Mädels“. Bloß nicht in den Verdacht geraten, Verantwortung übernehmen zu müssen.

In Debatten ist längst schon alles aus dem Ruder gelaufen. Man bekämpft sich auf Sandkastenniveau, insbesondere in den sozialen Medien.

Es finden hochemotionale Verbalschlachten statt, basierend auf kindlichem Gut-Böse-Denkmuster, das auch in Märchen bedient wird. Mit Reflexen wie „Der hat aber angefangen“ und „Du bist nicht mehr mein Freund“. Permanente Rechthaberei, keine Kompromisse. Man wirft sich sinnbildlich auf den Boden wie ein Kind, das im Supermarkt nicht den ersehnten Schokoriegel bekommt. Besonnenheit, Selbstreflexion und Komplexitätsbewusstsein, die einen reifen Menschen ausweisen würden: Fehlanzeige.

Dass die Gesellschaft damit in voraufklärerische Zeiten zurückfällt, sich also nicht mehr aus ihrer, wie es Immanuel Kant formulierte, selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien will, sondern sie vielmehr anstrebt, spielt einer Politik in die Hände, der jedes „Sapere aude“ ein Dorn im Auge ist. Aus „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ wird „Lass das Denken besser sein“ und „Wir denken für euch.“

Angestrebt wird der 24/7-Trottel, insbesondere von den Grünen, um rechtfertigen zu können, warum der Bürger gelenkt, kontrolliert, bevormundet werden muss. Pädagogischer Terrorismus auf dem Siegeszug. Freiheit? Kann weg. Das Sterben der Demokratie hat längst begonnen. Wer das ewige Kind bleiben will, wer Verantwortung und Realität verweigert, wer jedes Regressionsangebot bereitwillig annimmt, trägt also erheblich dazu bei.

Und die Jungen? Sind mehrheitlich alles andere als alarmiert.

Die sogenannte Generation Snowflake, dem Namen nach empfindlich wie eine Schneeflocke, tut vielmehr alles, um sich selbst nur noch weiter in die Position eines Kindes zu manövrieren. Sie träumt von einer durch und durch heilen Welt, in der niemand verletzt werden soll, und stellt überall Triggerwarnungen auf. Hochempfindlich gegenüber allem, fordert sie, vor allem Unbill verschont und beschützt zu werden.

Nichts ist ihr zumutbar, jede Gefahr und jedes Hindernis wird aus dem Weg geräumt. Die Eigenverantwortung geht gänzlich verloren, schuld sind immer nur die anderen; das dauerbeleidigte Kind wird zum Normalzustand. Das sich dann beispielsweise auf der Straße festklebt und berühmte Gemälde mit Tomatensuppe bewirft und sich dabei das Märchen erzählt, damit das Klima retten zu wollen.

Doch alles Mühen ist vergebens. Es gibt keine Rückkehr in den Mutterleib. „Werde, der du bist“, ruft Friedrich Nietzsche uns zu. Zu jedem Werden gehören auch Widerstände, gehört Sperriges und Unliebsames. Doch genau daran können wir wachsen. Jede Erleichterung sollte unbedingt misstrauisch machen. Vor allem, wenn sie von Regierenden in Aussicht gestellt wird.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst bei Radio München:

Radio München · Die infantile Gesellschaft: Von der Weigerung, erwachsen zu werden.