Die Sackgasse des Verbalradikalismus
#Katalonien, oder: Warum wir eine echte Politik der Massen brauchen.
Sie heißen Alexis Tsipras, Bernie Sanders oder nun auch: Carles Puigdemont. Sie rufen die Massen herbei und fordern kühn die alte Macht heraus. Wenn die Macht allerdings zurückschlägt, verharren sie im Handlungsrahmen des Parlamentarismus. Schließlich kapitulieren sie sang- und klanglos. Hinterher beklagen sie, man habe sie brutal erpresst.
Dieses Muster sehen wir in den vergangenen Jahren wieder und wieder. Es zeigt sich darin der steigende Radikalisierungsdruck von unten, der sich immer neue Ventile sucht.
Wo die Selbstorganisation und die Kampferfahrung der Massen aber noch nicht ausreichen, eine neue, eigene, handlungsfähige, revolutionäre Führung hervorzubringen, hebt der Druck von unten Menschen an die Spitze, deren Radikalismus ausschließlich verbaler Natur ist.
Tsipras, Sanders, Puigdemont
Es sind das typischerweise Außenseiter bürgerlicher Politik mit einem Hang zum Hasard. Die offiziellen Wege zur Spitze sind ihnen verbaut. Die korrupte Fäulnis der bestehenden Institutionen widert sie ehrlich an. Es sind durchaus keine Menschen ohne ein echtes Anliegen.
Alexis Tsipras war 2001 auf der militanten Demonstration in Genua und kam als echter Aktivist der globalisierungskritischen Bewegung in die Politik. Einem Bernie Sanders geht es zweifellos um eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der Arbeiter. Und Carles Puigdemont ist durchdrungen von der katalanischen Sache. Er will die Unabhängigkeit.
Aber wollen bedeutet wenig. Man muss auch können. Und diese Sorte politischer Führer erweist sich immer wieder als unfähig, im Ernstfall tatsächlich die Führung zu übernehmen.
Zunächst stützen sie sich in ihrem politischen Aufstieg auf eine Massenbewegung, von der sie sich die Erreichung ihrer Ziele versprechen. Soweit sie diese Stütze benötigen und sich auf sicherem Terrain wähnen, sind sie bereit, rhetorisch bis an die Grenze des Radikalismus zu gehen. Während die Massenbewegung sie nach oben hebt, werden sie sogar ein wenig übermütig, wie Bernie Sanders, der eine „politische Revolution“ forderte.
Das Zentrum der Politik
Diese Leute sind aber keine Revolutionäre. Die Massen sind für sie kein eigenständiges Subjekt, eher Mittel zu einem sicherlich lobenswerten Zweck.
Ihr Zentrum der Politik ist nicht die massenhafte Bewegung selbstorganisierter Menschen, die ihren Aufstieg ermöglicht - sondern es sind die vorgefundenen staatlichen Institutionen, sei es das Parlament oder auch die Europäische Union.
Ein Ausbruch aus diesem Rahmen ist mit den Sanders, Tsipras, Puigdemont keineswegs zu machen. Sie wollen die Institutionen des bürgerlichen Parlamentarismus verbessern und reformieren, sicherlich. Sie abzuschaffen, ist ihnen unvorstellbar.
Im Fall der Fälle sind ihnen diese Institutionen sogar so lieb und … teuer, dass sie lieber die Hoffnungen der Massen enttäuschen, als den Institutionen wirklichen Schaden zuzufügen.
Das zeigt sich spätestens, wenn die alte Macht die Herausforderung annimmt und ihre Folterinstrumente zeigt. Diese Folterinstrumente heißen dann Finanzkrieg gegen Griechenland oder drohende Präsidentschaft Donald Trumps oder katalanische Unabhängigkeit gegen den erklärten Willen der EU.
Das ist der Punkt, an dem es darauf ankäme, die Massen nicht nur rhetorisch zu mobilisieren. Jetzt bräuchte es echte Massenaktivität, massenhafte Selbstorganisation, um den entscheidenden letzten Schritt zu echter Veränderung entschlossen zu gehen.
Die Rede, die es jetzt bräuchte, wäre wahrlich historischen Formats. Man müsste jetzt zur Besetzung der Banken aufrufen, um Kapitalflucht zu verhindern. Oder man müsste jetzt den Bruch mit der demokratischen Partei vollziehen und eine eigenständige Kandidatur gegen Clinton und Trump verkünden.
Oder aber man müsste die Unabhängigkeit ausrufen und die Massen auffordern, sofort in die Straßen zu strömen, um das Parlament millionenfach zu schützen und die Institutionen des Staates in Katalonien zu übernehmen.
Das historische Zeitfenster
Stattdessen beginnen unsere gerade noch so kühnen Führer zu taktieren und zu zögern. Sie beginnen hinter den Kulissen Verhandlungen über die Kapitulationsbedingungen und bitten den Feind um Aufschub und Nachsicht.
Der Feind erhöht unbarmherzig den Druck, macht aber auch einige sehr attraktive Angebote. Einige davon betreffen die persönliche Zukunft der besagten Führer selbst. So kommt es hart auf hart und weich auf weich - und die Verbalrevolutionäre brechen ein.
Sie unterschreiben dann eben doch einen Knebelvertrag mit der EU und machen sich anschließend zum Knüppel des Finanzkapitals in Griechenland. Sie unterwerfen sich trotz Wahlbetrugs bei den Vorwahlen Hillary Clinton und spielen anschließend das linke Feigenblatt der demokratischen Partei anstatt einer neuen, gesunden Organisation als Galionsfigur zu dienen.
Oder aber sie verzichten darauf, die Unabhängigkeit auszurufen, um neue Verhandlungen mit einem spanischen Zentralstaat zu führen, der wenige Tage zuvor mit Polizeigewalt gezeigt hat, wie er es mit der Demokratie hält, der seit Jahren beweist, dass er an fairen Verhandlungen nicht interessiert ist - und der jeden Dialog auch wenige Stunden nach dieser Rede wieder brüsk zurückweisen wird.
Freilich wird die Kapitulation dann üblicherweise als Kriegslist dargestellt. Man habe „Zeit gewonnen“, heißt es dann. Oder man brüstet sich damit, wie Kurt Tucholsky bissig sagte, „als Sozialdemokrat Schlimmeres verhütet zu haben“.
In Wirklichkeit hat man nicht Zeit gewonnen, sondern eine historische Gelegenheit verschleudert. Und man hat nicht Schlimmeres verhütet, sondern Besseres unmöglich gemacht.
Die Massen wurden dabei am entscheidenden Punkt nicht mobilisiert und ins Gefecht geführt, sondern verwirrt und frustriert nach Hause geschickt.
Wie Michael Böhner aus Barcelona berichtet:
„Die Rede Puigdemonts hat Betroffenheit und Bestürzung bei den Katalanen ausgelöst. Mehrere tausend Demonstranten gingen sofort, und die Stimmung war auf dem Tiefpunkt.“
Kritik des „Zentrismus“
Aus deutscher Perspektive sind das alles noch Luxusprobleme. Sie entstehen erst dann, wenn es eine wirkliche Massenbewegung gibt, deren Sturmböen auch einige Fenstern des Parlaments von außen aufdrücken.
Eine solche Massenbewegung haben wir in Deutschland noch nicht. Wir beginnen erst, sie aufzubauen.
Als wir noch eine massenhafte, mitunter sehr kämpferische Arbeiterbewegung in Deutschland hatten, wurde das hier beschriebene Phänomen unter dem Begriff des „Zentrismus“ sehr ausführlich analysiert. Der Zentrismus beschrieb eine Position, die zwischen Revolution und Reform hin und her schwankte.
In dem Aufsatz „Was nun?“ von Leo Trotzki wird der Zentrismus linker Sozialdemokraten am Beispiel des Österreichers Max Adler dargestellt. Diese Beschreibung trifft aber auch auf Tsipras, Sanders oder Puigdemont zu:
„Max Adler ist ein ziemlich empfindliches zentristisches Barometer. Auf den Gebrauch eines solchen Instruments darf man nicht verzichten, muß jedoch genau wissen, daß es den Wetterwechsel zwar registriert, aber nicht beeinflußt. Unter dem Druck der kapitalistischen Ausweglosigkeit ist Max Adler nicht ohne philosophische Bitternis bereit, die Unvermeidlichkeit der Revolution anzuerkennen. Was ist das aber für eine Anerkennung! Wieviel Klauseln und Seufzer! Am vorteilhaftesten, den Sozialismus auf demokratischem Wege einzuführen. Aber ach, diese Methode ist offenbar nicht zu verwirklichen. Auch in den zivilisierten Ländern, nicht nur in den barbarischen, wird die Arbeiterklasse leider, leider die Revolution vollbringen müssen. Aber auch diese melancholische Anerkennung der Revolution bleibt nur ein literarisches Faktum. Bedingungen, unter denen Max Adler sagen könnte: „Es ist so weit!“, hat es niemals gegeben und wird es in der Geschichte niemals geben. Leute vom Typus Adlers sind fähig, vergangene Revolutionen zu rechtfertigen, ihre künftige Unausbleiblichkeit anzuerkennen, nie aber mögen sie hierzu in der Gegenwart aufrufen. Von dieser ganzen Gruppe alter linker Sozialdemokraten, die weder der imperialistische Krieg noch die russische Revolution verwandelt hat, ist nichts zu hoffen. Als Barometerinstrumente – vielleicht. Als revolutionäre Führer – nein!“