Die Russen und ich

Ein typischer Wessi erzählt, wie Klischeevorstellungen aus der alten Bundesrepublik unser Russlandbild bis heute prägen. Teil 1/2.

„Oh, those Russians!“ Mit diesem vieldeutigen Ausruf endete der Hit „Rasputin“ der Popgruppe Boney M. von 1978. Westdeutsche der Nachkriegszeit wuchsen mit einem eher diffusen Russlandbild auf. Als kommunistisches „Reich des Bösen“ wirkte das Land düster und bedrohlich, als Ursprungsort klischeehafter Folklore teilweise vertraut — jedoch auf eine Weise, die oft ins Lächerliche gezogen wurde. Russland gehörte auch im Westen zu den bekanntesten Ländern auf dem Globus, kaum jemand war jedoch dort oder hatte wirklich Ahnung davon. Gebildete kannten Tolstoi, schlichteren Gemütern genügte Ivan Rebroff. Heute ist Russland — wieder einmal — Erzfeind. Speziell ältere Westdeutsche fanden schnell wieder auf die vertrauten russophoben Trampelpfade des Denkens aus dem ersten Kalten Krieg zurück, nachdem zwischenzeitlich eine „Gorbi“-Euphorie unser Russlandbild aufgehellt hatte. Russland-Experten in den alternativen Medien fordern gern ein uneingeschränktes Verständnis für Putins Riesenreich ein. Das wäre schön, ist aber schwer zu realisieren. Denn die desaströse deutsch-russische Geschichte und viele transgenerationale Traumata stehen dem im Weg. Gerade vor diesem Hintergrund sollte jedoch Versöhnung das Ziel sein.

Manche werden bis ins hohe Alter von ihren Erinnerungen eingeholt. Die Sachbuchautorin Gabriele Baring berichtet in „Die Deutschen und ihre verletzte Identität“ von durchbrechenden Kriegstraumata bei Altenheim-Bewohnerinnen und -Bewohnern. Gerade wenn Menschen dement werden und die Fähigkeiten des Verstandes schwinden, sind sie der emotionalen Wucht ihrer Erinnerungen hilflos ausgeliefert. Davon erzählen unter anderem Altenpflegerinnen, für die Kriegstraumata ihrer Schützlinge „im Pflegealltag zu einem bedrückenden Problem werden“. Gegenstand dieser Albträume sind immer wieder „die Russen“. Baring berichtet:

„Der Vater einer Bekannten, der wegen seiner Alzheimer-Erkrankung in einem Heim untergebracht war, wies die Schwestern wiederholt an, sie sollten ihm rasch seine Uniform bringen. Die Russen stünden vor der Tür, rief er voller Panik. Es war unmöglich, ihn von dieser Zwangsvorstellung zu befreien. Zu gegenwärtig war das Erlebte, zu real der Schrecken.“

Ein Thema, von dem Nachkriegsfamilien ebenfalls überschattet wurden, waren Väter in russischer Kriegsgefangenschaft. Eine der von Gabriele Baring Befragten erzählt, sie habe als Kind einen Koffer gepackt und zu ihrer Mutter gesagt: „So, jetzt fahre ich selbst nach Russland und holen den Papi.“

Auch über Vergewaltigungen deutscher Frauen durch Soldaten der Roten Armee wurde vielfach berichtet. Die Zahlen darüber schwanken, mindestens eine halbe Million „Fälle“ dürften es aber gewesen sein. Das Thema ist heikel und galt lange als tabu, weil es als Relativierung deutscher Kriegsschuld angesehen wurde. Natürlich haben auch Soldaten der Westalliierten sexuelle Gewalt ausgeübt — und deutsche Soldaten an Frauen aller von Nazideutschland überfallenen Länder. Ohnehin dürfe nicht infrage stehen, dass in der Gesamtbilanz des 20. Jahrhunderts Deutschland das schlimmste Bild abgibt.

Mir geht es aber hier nicht um „objektive Wahrheit“ und den Anspruch einer absolut gerechten Darstellung der Schuld aller Beteiligten; ich will vielmehr eine subjektive Realität darstellen, die Nachkriegsdeutschland mitprägte, die sich über Einzelerfahrungen auch zu Vorurteilen und Mythen ausgewachsen hat und in der kollektiven Psyche bis heute weiterwirkt.

Das zwiespältige deutsch-russische Erbe

Gabriele Baring schreibt:

„Als Familientherapeutin weiß ich: Die Angst, der Verlust, die nicht zugelassene Trauer, das Wissen um das gesamte Schicksal der Ahnen — alles wird vererbt. In einer einzigen Zelle liegen sämtliche wesentlichen Informationen über die Familiengeschichte. Sie werden weitergegeben von Generation zu Generation. Da diese Informationen in uns vorhanden sind, unser Bewusstsein aber nur das Bekannte erfolgreich bearbeiten kann, äußern sich Unbearbeitetes und Ungelöstes als Angst, oft auch als Wut und Hass.“

Für das Verständnis des jetzt leider wieder aufflammenden Hasses auf alles Russische ist es zunächst nicht wichtig, wie die Objekte dieses Hasses wirklich sind, sondern wie die Mehrheitsgesellschaft über sie denkt — und dafür sind die Erfahrungen und Erzählungen früherer Generationen entscheidend.

Es gibt bezüglich der deutsch-russischen Beziehungen durchaus auch weniger düstere Aspekte.

„Viele Nachkriegskinder wissen beispielsweise nicht, dass sie Halbgeschwister haben. Es sind die Kinder ihrer Väter, die jene als Soldaten zeugten, überall dort, wo sie stationiert waren.“

So Baring. Einen Halbbruder oder eine Halbschwester in Russland zu haben — dieser Gedanke ist den meisten Deutschen fremd, für Tausende dürfte das Szenario jedoch real sein. Umgekehrt gab oder gibt es in Deutschland nicht wenige Kinder russischer Soldaten.

„In Deutschland waren es um die 100.000 ‚Besatzerkinder‘, die meisten haben russische Väter. Viele der sogenannten Russenkinder werden bis heute von ihren Angehörigen ausgeschlossen.“

Zwischen Deutschland und Russland fand also ein reger genetischer Austausch statt, verknüpft mit oft traumatisierenden und tragischen Schicksalen. Die Themen „Russenkinder in Deutschland“ sowie „Deutschenkinder in Russland“ prägten die kollektive Psychodynamik mit — zumal jedem Kind, das geboren wurde, eine noch weit größere Anzahl sexueller Begegnungen gegenüberstand, die folgenlos blieben, oft durchaus verbunden mit tiefen wechselseitigen Liebesgefühlen. Jüngeren Nachkriegsdeutschen mögen „die Russen“ — von der meist verzerrenden politischen Tagesberichterstattung abgesehen — fremd geblieben sein; unseren Vorfahren waren sie es nicht.

Erfahrungen meines Vaters

Zu den Menschen, die mit Russland intensiv in Berührung gekommen waren, gehört auch mein Vater, Josef Rottenfußer. Er geriet in den letzten Kriegswochen in Berlin in russische Kriegsgefangenschaft und wurde zu langen Fußmärschen gen Osten gezwungen. Darüber schrieb er in seiner nur privat verlegten Autobiografie:

„Brach ein Kamerad zusammen und blieb am Ende des Zuges liegen, so wurde mit ein paar Gewehrkolbenstößen geprüft, ob er noch lebte. Rührte er sich nicht mehr, erschoss man ihn. Es kam vor, dass einige von uns versuchten zu fliehen, wenn sich gerade die Gelegenheit bot — zum Beispiel in ein Maisfeld. Meistens wurden sie aber verfolgt und auf der Flucht erschossen. (…) Auf unserem Weg kamen wir manchmal durch kleine Dörfer, wo sich Russen einquartiert hatten. Vor der Tür stehende verwahrloste Frauen riefen uns zu, dass sie laufend vergewaltigt würden. Eine Frau stellte uns einen Eimer Trinkwasser an die Seite. Sofort rannten einige von uns mit dem Kochgeschirr dorthin, um damit ein wenig Wasser zu schöpfen. Bevor sie aber hinkamen, hatte ein Wachposten mit einem Fußtritt den Eimer umgekippt.“

Mein Vater wurde im Lager Gomel inhaftiert — eigentlich in Weißrussland, es war aber stets nur von „russischer Kriegsgefangenschaft“ die Rede. Das Bild, das mein Vater von „den Russen“ zeichnete, war — gemessen an der Situation, in der er ihnen begegnete — keineswegs nur abwertend, eher differenziert. So hatte er Verständnis dafür, dass es im Lager für Gefangene nicht viel zu essen gab:

„Die Hungersnot unter der russischen Bevölkerung war offensichtlich. (…) So war es auch für uns Gefangene verständlich, dass für uns eigentlich nichts mehr übrig war und dass man Mehlreste vom Boden zusammenkehrte und dadurch lange Getreidestängel und kleine Steine in unser Brot gelangten.“

Mein Vater schaffte es, als professioneller Geiger in Gomel eine Lagerkapelle zu gründen, die für das Wachpersonal russische Tanzabende aufführte. Er schrieb russische Volkslieder, die ihm von seinen Kontaktpersonen vorgesungen wurden, in Notenschrift nieder und arrangierte sie für kleine Besetzung. Diesen Musikstücken fühlte er sich aufgrund ihrer melodiösen und immer etwas melancholischen Kraft sehr verbunden. Er vergaß beim Spielen zeitweise das Leid und die Strapazen der Gefangenschaft, und es entstand über die Musik ein „Draht“ zu seinen Bewachern.

Zum Jahrestag der Oktoberrevolution musste mein Vater auch politische Kampflieder zur Aufführung bringen. Vielfach berichtete er auch von der Lebensfreude der Russen, ihrer emotionalen Berührbarkeit, ihrer Lust zu tanzen und zu singen. Er erzählte von grausamen Taten, die zum Glück weniger ihn selbst betrafen, wie auch von Momenten unverhoffter Freundlichkeit und Schonung durch Einwohner eines Landes, das unter den Deutschen sehr hatte leiden müssen. Gefördert durch den „Kulturnatschalnik“ (Kulturchef) Mischa, einen russischen Juden, bekam er in der späteren Phase seiner Gefangenschaft eine größere Ration Essen — und überlebte.

Transgenerationale Traumata

Es ist mir klar, dass ich mit all diesen Schilderungen „die Russen“ keinesfalls objektiv oder gar vollständig beschrieben habe. Es sind Einzelgeschichten, mit denen mich biografische Zufälle bekannt gemacht haben. Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang, klar zu machen, mit welchen Geschichten im Kopf meine Generation in Westdeutschland aufgewachsen ist. Tausende von Männern kehrten mit düsteren Erfahrungen aus Krieg und Gefangenschaft nach Deutschland zurück — einige davon schlimmer als der zuletzt versöhnliche Bericht meines Vaters. Wenn über die westdeutschen Nachrichten also Gräuelstorys aus der Sowjetunion berichtet wurden, leuchteten diese vielen unmittelbar ein, da ja „Papa“ etwas Ähnliches erzählt hatte.

Es war für Westdeutsche einer bestimmten Altersgruppe also kaum möglich, sich ein unvoreingenommenes Bild von Russland und den Russen zu machen. Russland war eines der bekanntesten Länder der Erde, aber kaum jemand hatte es bereist oder Russen selbst kennengelernt. Anders als bei Ländern wie Italien und Frankreich konnten Vorurteile nur von den wenigsten durch persönliche Erfahrung korrigiert werden. Von München aus war Florenz ein Katzensprung, viele junge Leute meiner Altersgruppe haben die Stadt bereist.

Moskau dagegen war so weit entfernt wie Syrien oder die algerische Sahara — emotional wie politisch vielleicht noch weiter. Eine mentale Barriere hinderte die meisten Westdeutschen an einer Reise. Von vielen wäre dies vielleicht sogar als Verrat an den Eltern empfunden worden, die von unguten Begegnungen mit Russen berichtet hatten — oder als Verrat an der westlichen, der „Marktwirtschaft“ zugeneigten Wertegemeinschaft.

In seinem Sketch „Alles über den Russen“ parodiert Gerhard Polt einen bayerischen, etwas prolligen Kriegsveteranen, der als Tourist nach Russland reiste. „Der Russe — man hat ihn ja damals zu dieser Zeit in dem Sinn gar nicht kennengelernt — man hat ihn ja damals mehr erschossen.“ Leider ist etwas Wahres dran. Für Menschen beider Länder war die erste Begegnung mit dem jeweils anderen damit verbunden, dass man aufgefordert wurde, auf ihn zu schießen.

Gerhard Polt: Alles über den Russen

Das dunkle Land im Osten

Die Realität wurde durch Erzählungen aus dem Familienkreis, durch transgenerationale Traumata, aber auch durch die Medienberichterstattung überlagert, die — wie auch heute — Russland als den Erzfeind markierte.

Fassen wir zusammen, was den Russen nach Meinung von Westdeutschen der Nachkriegszeit vorzuwerfen war: Russen hatten unsere Väter in der Kriegsgefangenschaft misshandelt. Russen waren — zusammen mit Polen — für die Vertreibung von Millionen Deutschen aus den Ostgebieten verantwortlich. Russen hielten Ostdeutschland wie auch viele andere Länder Europas quasi besetzt und zwangen ihnen einen ungeliebten Totalitarismus auf. Der Osten Europas erschien daher von „uns“ wie abgeschnitten. Es war teilweise so, als ob er nicht existieren würde.

Östlich des Eisernen Vorhangs begann etwas Unheimliches, das man nicht bereisen durfte und daher gar nicht kannte, über das man sich aber trotzdem eine Meinung gebildet hatte. Aus der Presse. Mit meinen Eltern gelangte ich in einem unserer Urlaube im Bayerischen Wald bis Bayerisch Eisenstein, an die Grenze zur damaligen Tschechoslowakei. Das war für uns das Ende der Welt. Auf keinen Fall erwogen wir, diese Grenze für einen Tagesausflug zu überschreiten. Dies wäre verbunden gewesen mit der Vorstellung von Grenzschikanen und einer feindseligen, komplett gehirngewaschenen Bevölkerung. Dabei begann hinter dem Arber noch nicht einmal Russland. Aber fast.

Weiter mit typischen westdeutschen Narrativen: Russen bedrohten uns mit einem Atomkrieg. Sie hatten ihre Hochrüstung so weit vorangetrieben, dass sie für den freien Westen eine ständige Provokation darstellten und friedliebende Länder wie die Bundesrepublik Deutschland oder die USA zur „Nachrüstung“ zwangen. Wegen der Russen mussten junge Deutsche bei der Bundeswehr einrücken, sich schikanieren und zum Schießen ausbilden lassen. Russen unterstützten krude arabische Regime gegen unseren Freund Israel und waren überhaupt global ein ständiger Unruheherd.

Lange Zeit war Leonid Breschnew Staats- und Parteichef der Russen. Er wirkte mit seinen dicken Augenbrauen und seiner eher statuarisch-behäbigen Art irgendwie düster und bedrohlich. Theo Waigel hatte auch dicke Augenbrauen, aber die wirkten sympathisch-verschmitzt — die von Leonid Breschnew bedrohlich. Andrei Gromyko, über mehrere Jahrzehnte russischer Außenminister, war in der deutschen Presse bekannt als „Mr. Njet“. Das heißt, er sagte zu allen gut gemeinten Vorschlägen der NATO „nein“. Die einzige legitime Antwort wäre natürlich ein eifriges „da“ gewesen — ja.

Projizierte Kriegsschuld

Ja, den meisten Westdeutschen, die ich kannte — auch meinen Eltern — war bewusst, dass 1941 Deutschland Russland angegriffen hatte — nicht umgekehrt. Aber die wenigsten versuchten, ins Detail zu gehen, sich das Ausmaß und die Art der begangenen Gräuel genau anzuschauen. Man nimmt heute an, dass 24 Millionen Bewohner der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg getötet wurden. Was Deutsche Russen angetan hatten, war für Erstere jedoch weit weg, eher abstrakt; was Russen Deutschen angetan hatten oder noch antaten — in Form der deutschen Spaltung etwa bis 1989 —, erschien dagegen sehr konkret. Ob es um schlimme Kriegserinnerungen ging, um Mauertote, den Verlust der deutschen Ostgebiete oder die Drohung mit der totalen atomaren Vernichtung.

Nach dem Krieg verschoben Deutsche ihre Schuldgefühle also auf die Sowjetunion, was der Selbstentlastung diente. In meiner Jugend besaßen Deutsche gerade noch die mentale Kapazität, um die Schuld ihrer Vorfahren an den Juden „aufzuarbeiten“. Für die Würdigung der Leiden der Russen blieb keine Energie mehr übrig. Es war schlimm genug, wenn man auf Reisen nach Frankreich oder Holland noch auf Reste von Animosität gegenüber den ehemaligen deutschen Besatzern stieß. Da musste man sich nicht auch noch Russland antun.

Nach allem, was man dem Reich im Osten an Gräueln zuschrieb, hatte niemand so richtig Lust, sich ausgerechnet bei „denen“ zu entschuldigen. Sich einem Volk im Büßerhemd zu nähern, das einen gleichzeitig permanent mit der Vernichtung bedrohte — das war zu viel für die kollektive Psyche, es hätte Nachkriegsdeutschland schier zerrissen. Also trafen die meisten Deutschen eine Entscheidung — gegen das Schuldgefühl und für den Hass. Zudem war uns dieser Hass ja von unserem großen US-amerikanischen Bruder verordnet worden. Westdeutschland war bewusst wiederbewaffnet und als Frontstaat gegen den Warschauer Pakt in Stellung gebracht worden.

Der verbreitete Antikommunismus in der Bundesrepublik Deutschland half dabei, eigene kollektive Schuldgefühle über den deutschen Einmarsch in die Sowjetunion zu bewältigen. In vielen Haushalten gehörte Alexander Solschenizyns Sachbuch-Klassiker „Der Archipel Gulag“, veröffentlicht zwischen 1973 und 1976, in die Bibliothek. Auch meine Eltern hatten ihn im Regal.

Ich kam nicht über ein paar Kapitel des sehr belastenden Straflager-Epos hinaus. Das Buch war wie die verschlossene Tür bestimmten Horrorfilmen: Man ging nicht hinein, wusste aber, dass es etwas unerträglich Grauenhaftes beinhalten musste. Ich las später, quasi als Stichprobe, vom selben Autor „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“. „Der erste Kreis der Hölle“, wie ein weiteres Werk Solschenizyns hieß — für viel Westbürger war das Russland als Ganzes.

Gulag und Violinkonzert

Es war bezeichnend, wie begierig sich Nachkriegsdeutsche auf russische Dissidenten wie Solschenizyn oder Andrei Sacharow stürzten. Es wirkte fast, als hätten die Russen mit ihren Menschenrechtsverletzungen unter Stalin, Chrustschow und Breschnew nachträglich einen Rechtfertigungsgrund für den Einmarsch der Deutschen 1941 geliefert. In der schuldbedrückten Atmosphäre der 50er-, 60er- und 70er-Jahre galt es zwar als tabu, über das Leid von Deutschen im Krieg zu sprechen, dafür hielt man sich aber durch antikommunistisch motivierte Russland-Feindlichkeit schadlos. Dieses Ventil erlaubte es, Schuld- und Hassgefühle auszuagieren, die bei Älteren durch eigene Erlebnisse, bei Jüngeren durch die überlieferten Erfahrungen der Elterngeneration motiviert waren.

So wie in der Autobiografie meines Vaters die Schönheit russischer Kultur den furchtbaren, politisch bedingten Erfahrungen gegenüberstanden — etwa in Form der Volkslieder, die er auf der Violine spielte —, gab es auch in meiner Jugend solche positiven kulturellen Eindrücke aus Russland. Die Plattensammlung meiner Eltern enthielt eine Aufnahme mit Volksliedern wie „Stenka Razin“ oder „Kalinka“, gesungen brisantereweise vom Chor der Roten Armee.

„Stenka Razin“, russisches Volkslied, gesungen vom Chor der Roten Armee

Ich hörte diese melancholischen, sehr emotionalen Weisen gern. Als ich etwas älter wurde, war für mich der Inbegriff des Russischen eine Aufnahme von Tschaikowskys Violinkonzert mit David Oistrach, dem russisch-jüdischen Meistergeiger, der sicher zu den größten seines Jahrhunderts zählte. Dieses Werk war von einer sehnsuchtsvollen Inbrunst, wie sie selbst im führenden Land auf dem Gebiet der romantischen Musik — Deutschland — nur selten zu finden war.



Tschaikowsky Violinkonzert, 1. Satz, gespielt von David Oistrach, Teil 1 und Teil 2

Man kann auch sagen: Beide Mentalitäten waren absolut kompatibel, einander sogar ähnlich, wenn man den Stimmungsgehalt musikalischer Meisterwerke Deutschlands wie Russlands zum Maßstab nimmt. Während mir chinesische Musik bis heute fremd geblieben ist, verstand ich russisch schon sehr früh — intuitiv. Sie ging und geht mir nahe.

Daher ist es für mich unverständlich, wie jemand auf Idee kommen kann, Russland nicht zu Europa zu zählen.