Die Rückkehr des Blob
Mit Joseph Biden als US-Präsident droht eine Neuauflage von Barack Obamas Kriegspolitik.
Der verkündete Wahlsieg von Joseph „Joe“ Biden, des umstrittenen Herausforderers des bisherigen US-Präsidenten Donald Trump, bringt keinen Neuanfang. Es droht eher die Rückkehr zu alten Verhältnissen an der Spitze der Macht, wie der Autor vor dem Wahltag vorhersagte. In das Weiße Haus zieht wieder eine Gruppe ein, die für Beobachter eine „inzestuöse Bande“ darstellt — eben genau jenes Establishment, gegen das Trump stellvertretend für all jene aufbegehrte, die sich als Verlierer unter der alten Machtclique sahen. Die kehrt nach einer Zwangspause zurück und droht, ihren Kurs wieder aufzunehmen — samt neuer Kriege und Drohungen gegen all jene, die die globale US-Herrschaft in Frage stellen. Der Autor warnt vor den Folgen — und vor den Illusionen angesichts einer Vizepräsidentin Kamala Harris.
Was wird am dritten November passieren? Es ist wie eine überdimensionale Einspielung des Hollywood-Sprichwortes „Niemand weiß irgendetwas“.
Die Strategie der Demokratischen Partei ist kristallklar, entwickelt durch Planspiele von Wahlszenarien im Rahmen des „Transition Integrity Projektes“ (TIP) (6, 23), und noch expliziter ausgedrückt durch eine der Initiatorinnen von TIP, eine Juraprofessorin (24) an der Georgetown Universität.
Auch Hillary Clinton hat es schon, unverblümt, ausgesprochen (8). Die Demokraten müssen das Weiße Haus zurückerobern, mit allen verfügbaren Mitteln und bedingungslos, unter allen Umständen.
Und für diesen Fall hat sie gleich einen 5000-Worte-Artikel in Foreign Affairs publiziert, gleichsam als Bewerbung für einen attraktiven Posten (9).
So klar es die Demokraten gemacht haben, dass sie niemals einen Sieg von Trump akzeptieren würden, so klar war auch die Antwort, eine echte Trump-Spätlese: Er wies die „Proud Boys“ an, sich zurückzuhalten — wie um Gewalt einstweilen auszuschließen — aber auch, sich bereitzuhalten für den Fall der Fälle.
Alles ist bereit für einen kleinen Bürgerkrieg am 3. November und danach.
Einfach alles abstreiten, Joe
Dem in TIP dargelegten Szenario folgend lassen Sie uns die Rückkehr der Demokraten ins Weiße Haus in Szene setzen — mit der Perspektive, dass eine Präsidentin Harris eher früher als später übernimmt. Das bedeutet nichts weniger als die Rückkehr des „Blob“.
Präsident Trump nennt es den „Sumpf“. Obamas ehemaliger stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater Ben Rhodes — ein mittelmäßiger Schreiberling — war es, der die ungewöhnliche Bezeichnung „Blob“ (10) einführte, für die inzestuöse Bande, die in Washington DC die Außenpolitik kontrolliert: Denkfabriken, Akademiker, Zeitungen (von der Washington Post bis zur New York Times) und die inoffizielle Bibel, die Zeitschrift Foreign Affairs.
Von Anfang an wird eine demokratische Regierung mit den Implikationen zweier Kriege fertig werden müssen: Der Kalte Krieg 2.0 gegen China, und der niemals endende, Billionen Dollar verschlingende globale „Krieg gegen den Terror“ (GWOT), der von der Obama-Biden Regierung in „Overseas Contingency Operations“ (OCO) umbenannt wurde.
Joseph „Joe“ Biden wurde 1997 Mitglied im „Senate Foreign Relations Commitee“ und hatte dort von 2001 bis 2003 den Vorsitz inne, und dann nochmals von 2007 bis 2009. Er warb mit vollem Einsatz für den Irakkrieg (11) — der, wie er betonte, als Teil des GWOT notwendig sei — und propagierte sogar eine „sanfte Aufteilung“ (7, 12) des Irak, eine Sache die extreme Nationalisten, Sunniten wie Schiiten, von Bagdad bis Basra niemals vergessen werden.
Zu Obama-Bidens geopolitischen Errungenschaften gehört der Drohnenkrieg, alias Hellfire Raketendiplomatie, inklusive Tötungslisten, die fehlgeschlagene Truppenaufstockung in Afghanistan (5), die aus dem Hintergrund gesteuerte „Befreiung“ Libyens, die ein von Milizen kontrolliertes Ödland zurückließ, dann der mittels „moderater Rebellen“ ausgetragene Stellvertreterkrieg in Syrien, und, wieder aus dem Hintergrund gesteuert, die von den Saudis ins Werk gesetzte Zerstörung des Jemen.
Zig Millionen Brasilianer werden außerdem nie vergessen, dass Obama-Biden die NSA-Spionage und die hybride Kriegstaktik legitimierte, die zur Amtsenthebung von Dilma Roussef führten, zur Neutralisierung von Expräsident Lula und zur Ausweidung der brasilianischen Wirtschaft durch Aufkäufer-Eliten.
Zu seinen früheren, ausgewählten Ansprechpartnern zählt Biden den ehemaligen NATO-Generalsekretär und Kriegstreiber Anders Fogh Rasmussen, unter dessen Supervision die Zerstörung Libyens stattfand — und John Negroponte, der die Contras in Nicaragua „organisierte“ und dann die „Supervision“ von ISIS/Daesh im Irak übernahm — ganz im Sinne der Rumsfeld/Cebrowski-Strategie (13), Jihadisten zu instrumentalisieren, um die Drecksarbeit des Imperiums zu machen.
Man kann sicher darauf wetten, dass eine Biden-Harris Regierung eine faktische NATO-Erweiterung herbeiführt, unter Einbeziehung von Teilen Lateinamerikas, Afrikas und des Pazifik, sehr zur Freude des transatlantischen Blobs.
Andererseits kann man fast sicher auch zwei ausgleichende Entwicklungen erwarten: Die Rückkehr der USA zum JCPOA, dem Nuklearabkommen mit dem Iran, das Obamas einzige außenpolitische Errungenschaft darstellt, und eine Wiederaufnahme der nuklearen Abrüstungsverhandlungen mit Russland. Das würde gegenüber Russland auf eine Eindämmungsstrategie hinauslaufen, nicht auf einen neuen, destruktiven Kalten Krieg, obwohl Biden kürzlich wieder öffentlich kundgetan hat, Russland sei die „größte Bedrohung“ der USA.
Kamala kann mit allen
Kamala Harris wird schon seit dem Sommer 2017 für den Aufstieg an die Spitze vorbereitet (14). Wenig überraschend, steht sie zu 100 Prozent hinter Israel — genau wie Nancy Pelosi („und wenn dieses Capitol zusammenstürzte, wäre das Letzte, das noch übrig bliebe, unsere Hilfe — aber so will ich es gar nicht nennen — unsere Zusammenarbeit mit Israel.“)
Kamala ist ein Falke in Bezug auf Russland und Nordkorea. Gesetzesinitiativen zur Vermeidung von Krieg mit Venezuela beziehungsweise Nordkorea hat sie nicht unterstützt. Man kann sie als reinrassigen, demokratischen Falken ansehen.
Aber ihre Positionierung ist ziemlich clever. Sie erreicht zwei große Gruppen: Sie passt genau in den Blob, hat aber zusätzlich Woke-Attribute (1) wie ihre trendigen Turnschuhe und ihre angebliche Begeisterung für hip hop. Und als zusätzlichen Bonus hat sie einen guten Draht zu der Bande der „Never Trumper“.
Die Never Trumper sind eine Gruppe von Republikanern — vorwiegend in Denkfabriken unterwegs — die die Demokraten infiltrieren und durchsetzen. Sie sind erstklassiges Blob-Material. Der ultimative neokonservative Never-Trumper ist jemand wie Robert Kagan, Ehemann der Maidan-Keksverteilerin Victoria Nuland, von der das berühmte „Fuck the EU“-Zitat stammt. In vielen Teilen Westasiens witzelt man seitdem über das „Kaganat von Nulandistan“.
Kagan, von sich selbst und anderen gefeiert als konservativer Star-Intellektueller, ist einer der Begründer des grausigen neokonservativen „Project for the New American Century“ (PNAC) (15). Auf dieser Basis entwickelte er sich zum fröhlichen Verfechter des Irakkrieges. Obama las seine Bücher mit Ehrfurcht. Im Jahr 2016 unterstützte Kagan nach Kräften die Kampagne von Hillary Clinton. Selbstredend sind alle Neocons des Kagan-Typs fanatische Iranhasser.
An der Finanzfront findet man das „Lincoln Project“ (16), das im letzten Jahr von einer Bande gegenwärtiger und ehemaliger republikanischer Strategen gegründet wurde, die unter anderen den Blob-Stars Papa Bush und Dick Cheney nahestehen. Eine Handvoll Milliardäre spendete munter an dieses Anti-Trump Super-PAC (4). Dazu gehört Jean Paul Gettys Erbe Gordon Getty, der Erbe des Hyatt-Hotelimperiums, John Pritzker, und die Erbin von Cargill, Gwendolyn Sontheim.
Bekannte Figuren
Die Schlüsselfigur des Blobs in einem mutmaßlichen Weißen Haus unter Biden-Harris ist Tony Blinken, der unter Obama stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater war und wahrscheinlich der nächste Nationale Sicherheitsberater sein wird.
Das ist Geopolitik — mit einer wichtigen Zugabe: die vormalige Nationale Sicherheitsberaterin Susan Rice, die ihre Chancen auf die Vizepräsidentschaft zugunsten von Kamala Harris begraben musste, könnte die nächste Außenministerin werden.
Ein möglicher Mitbewerber von Rice ist Senator Chris Murphy, der in einem Strategiepapier namens „Rethinking the Battlefield“ (17) erwartungsgemäß voll auf die Obama-Biden Linie einschwenkte: Statt neuer Ideen lieferte er bloße Rhetorik über den Kampf gegen ISIS/Daesh und das Containment von Russland und China.
Der nette Tony Blinken arbeitete in den Nuller Jahren für das „Senate Foreign Relations Comittee“, dadurch kannte er Biden schon vor der ersten Obama-Amtszeit sehr gut. In dieser stieg er auf zum stellvertretenden Nationalen Sicherheitsberater und in Obamas zweiter Amtszeit zum stellvertretenden Außenminister.
Blinken nahestehend ist Jake Sullivan, der unter der Protektion von Hillary Clinton Blinken im Amt des Nationalen Sicherheitsberaters nachfolgte, in Obamas zweiter Amtszeit. Er wird eine Spitzenposition bekleiden, entweder im Nationalen Sicherheitsrat oder im Außenministerium.
Was wird aus den drei Harpyien?
Viele von Ihnen werden sich an die „Drei Harpyien“ (2, 18) erinnern, wie ich sie vor der Bombardierung und Zerstörung Libyens genannt habe, und dann wieder 2016, als ihr Bemühen um ein ruhmvolles Fortsetzungskapitel durch Trumps Sieg so sang- und klanglos beendet wurde. Wenn es zur Rückkehr des Blobs kommt, wird das mit Abstand ihr größter Auftritt werden.
Von den drei Original-Harpyien, scheinen zwei — Hillary Clinton und Susan Rice — im Begriff zu sein, eine neue machtvolle Position zu erlangen. Die Handlung verdichtet sich für Nummer drei, Samantha Power, einst US-Botschafterin bei der UNO und Autorin von „The Education of an Idealist“ (19). Wir erfahren dort, dass solch ein „Idealist“ Damaskus und Moskau in Fetzen zerreißt, während er Obamas Drohnenkrieg gleichgültig gegenübersteht, ebenso den Todeslisten, der Bewaffnung von Al Qaida, deren Umbenennung in „gemäßigte Rebellen“ und der rücksichtslosen Zerstörung des Jemen durch die Saudis.
Samantha scheint Geschichte zu sein. Dafür gibt es jetzt eine neue Harpyie — die eigentliche Königin des Blob.
Die Königin des Blob
Michèle Flournoy ist vielleicht der Inbegriff des wieder erstarkenden Blob: die typische imperiale Funktionärin des Gebildes, das der ehemalige CIA-Analytiker Ray McGovern MICIMATT getauft hat: der Militärisch-Industrielle-Kongressgestützte-Geheimdienstliche-Mediale-Akademische-Think-Tank Komplex.
Die ideale imperiale Funktionärin legt Wert auf Diskretion: Fast niemand auf der Welt — außerhalb des Blob — kennt den Namen Michèle Flournoy.
Flournoy ist ehemalige Chefberaterin der Boston Consulting Gruppe, Mitgründerin des „Center for a New American Security“ (CNAS), Senior Fellow an Harvards Belfer Center, Unterstaatssekretärin im Verteidigungsministerium unter Obama-Biden, Hillary Clintons erste Wahl für das Verteidigungsressort 2016 und auch jetzt wieder Favoritin für das Amt der Pentagonchefin nach 2020.
Der delikateste Punkt in Flournoys Lebenslauf ist aber, dass sie zusammen mit niemand anderem als Tony Blinken die Firma WestExec Advisors (20) gegründet hat.
Jeder Blob-Insider weiß, dass WestExec der Name der Straße ist, die am Westflügel des Weißen Hauses vorbeiführt. In einem Netflix-Plot wäre dies der offensichtliche Hinweis, dass die Hauptprotagonisten der Firma ein kurzer Weg zum Ruhm erwartet, der geradewegs hineinführt in die Pennsylvania Avenue Nr. 1600.
Flournoy, mehr noch als Blinken, hat WestExec Advisors zu einem sicheren Einstieg in das MICIMATT des Beltway (3) gemacht, weitgehend ohne die Unterstützung von PR und Medienaktionen, allein durch Gespräche mit den Vertretern der Denkfabriken.
Hier ist eine Kostprobe (21) von Flournoys Art zu denken. Sie sagt laut und deutlich, dass bloße, gutartige Abschreckung der USA gegenüber China eine „Fehlkalkulation“ sei. Dabei sollte man sich erinnern, dass Flournoy tatsächlich die Chefplanerin (22) der gesamten, fehlgeschlagenen Kriegsstrategie Obamas ist.
Kurz gesagt, Biden-Harris bedeutet die Rückkehr des Blobs mit aller Macht. Biden-Harris wäre nichts anderes als Obama-Biden 3.0. Erinnert Euch an die sieben Kriege. An Obamas Truppenaufstockungen. An seine Todeslisten. An Libyen. An Syrien. An den „sanften“ Putsch in Brasilien. An den Maidan. Ihr seid alle gewarnt.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien unter dem Titel „A dem presidency means the return of the blob“. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzerteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam lektoriert.
Quellen und Anmerkungen:
(1) „Woke culture“ steht in den USA für ein gesteigertes Bewusstsein bezüglich der Diskriminierung von Minderheiten. Der Begriff wurde im Zuge der „Black lives matter“-Bewegung nach 2014 populär.
(2) ein geflügeltes Mischwesen der griechischen Mythologie in Vogelgestalt und mit Frauenkopf
(3) Der Beltway ist der Autobahnring um Washington, innerhalb dessen sich die gesamte Politik abspielt.
(4) Super PACs sind Geldsammelstellen für den Wahlkampf, die von sämtlichen Restriktionen bezüglich der Spendenhöhe befreit sind — durch einen Gerichtsentscheid aus dem Jahr 2010.
(5) Im Frühjahr 2010 verstärkte Obama die US-Truppen in Afghanistan um 30.000 Mann in der Hoffnung, den Widerstand der Taliban zu brechen.
(6) Ein Projekt, das im Juni 2020 anhand von Planspielen mögliche Störungen der Präsidentschaftswahlen 2020 oder der Übergangsphase untersuchte.
(7) Der „soft partition“-Plan sah die Aufteilung des Irak in drei semiautonome Regionen vor, Kurdistan, Shiastan und Sunnistan, unter einer gemeinsamen Zentralregierung.
(8) https://www.washingtonexaminer.com/news/hillary-clinton-biden-should-not-concede-under-any-circumstances
(9) https://www.foreignaffairs.com/articles/united-states/2020-10-09/hillary-clinton-national-security-reckoning
(10) https://www.foreignaffairs.com/articles/united-states/2020-04-29/defense-blob
(11) https://www.jacobinmag.com/2019/07/joe-biden-iraq-war-hawk-presidential-candidate
(12) https://www.nytimes.com/2007/07/30/world/americas/30iht-letter.1.6894357.html
(13) https://ubiquity.acm.org/article.cfm?id=1022362
(14) https://pagesix.com/2017/07/15/kamala-harris-meets-with-democratic-elite-in-hamptons/
(15) https://theintercept.com/2016/07/25/robert-kagan-and-other-neocons-back-hillary-clinton/
(16) https://www.nytimes.com/2019/12/17/opinion/lincoln-project.html
(17) https://www.murphy.senate.gov/imo/media/doc/Rethinking%20the%20Battlefield.pdf
(18) https://www.counterpunch.org/2016/06/30/the-three-harpies-are-back/
(19) https://www.amazon.com/Education-Idealist-Memoir-Samantha-Power-ebook/dp/B07NVP9DR4/ref=sr_1_1?dchild=1&keywords=The+Education+of+an+Idealist&qid=1603954226&s=digital-text&sr=1-1
(20) https://westexec.com/
(21) https://www.foreignaffairs.com/articles/united-states/2020-06-18/how-prevent-war-asia
(22) https://www.washingtonian.com/2011/01/31/the-making-of-michele-flournoy/
(23) https://secureservercdn.net/192.169.223.13/lz3.b02.myftpupload.com/wp-content/uploads/2020/09/Preventing_a_Disrupted_Presidential_Election_and_Transition_8-3-20.2.pdf
(24) https://www.washingtonpost.com/outlook/2020/09/03/trump-stay-in-office/?arc404=true