Die Real-Utopie
Die Welt verbessert sich — unvermeidlich, aber nicht vorhersehbar.
Pflanzen, Tiere, Menschen verändern sich ständig und stetig aber sehr langsam. Eine Kombination aus Kopieren und Modifizieren des Erbguts, die Genetik, bestimmt die Veränderungsprozesse.
von Heiko Schröder
Memetische Verbesserung der Menschheit
Die Gesellschaft ändert sich auch ständig. Besitz, Strukturen, Verhaltensweisen, Wissen, Deutungsmuster und Ideen werden vererbt — dieser Vererbungsvorgang wird durch Meme bestimmt; Meme, wie sie Richard Dawkins in seinem Buch „Das egoistische Gen“ (1) 1976 definiert hat, die seit geraumer Zeit diskutiert werden (2).
Während die Gene sich nur sehr langsam über viele Generationen hinweg verändern und vererben, können sich Meme schnell vererben und auch verändern; denn ein Mem wird vererbt, indem es von Menschen kopiert wird, was oft nur Informationsfluss erfordert.
Während das Gen automatisch — und bis auf Mutation — identisch kopiert wird, spielt bei der Kopie der Meme eine aktive Zustimmung der Menschen, die sie kopieren eine Rolle. Wenn ich mich bei der Begrüßung entscheide, einem Bekannten die Hand zu reichen, wenn ich eine Melodie summe, wenn ich eine bestimmte Partei wähle oder mir Sportschuhe kaufe, immer ist mein Gehirn mit seinem Bewusstsein und auch mit seinem Unterbewusstsein beteiligt, es kann sich dagegen entscheiden, es kann die Entscheidung beeinflussen.
Veränderung in kurzer Zeit
Gene werden sehr langsam übertragen — es braucht wenigstens eine Generation um auch nur ein bisschen zu verändern. Aber das Mem, wenn es eine Idee ist, kann als Text oder Video via Internet in Sekundenschnelle übertragen werden; es braucht nur etwas Zeit, bis die Idee überzeugt und übernommen wird.
Jedes Jahr machen viele Menschen (wie ich jetzt auch) Sommerurlaub am Strand und sonnen sich. Dieses Mem gibt uns eine „gesunde“ und attraktive Hautfarbe, erhöht aber auch das Hautkrebsrisiko. Wenn ich dieses Mem für mich übernehme, es kopiere, sollte ich mir wenigstens überlegen, ob die angenehmen oder die unangenehmen Nebenwirkungen überwiegen.
Solche Entscheidungen können etwas dauern, bis für mich klar ersichtlich ist, ob es sich lohnt diese Verhaltensweise zu kopieren. Aber Meme brauchen keine Generation, um sich durchzusetzen. Die Meme, mobile Telefone zu nutzen, E-Mail, Facebook, Twitter zu nutzen haben sich in sehr kurzer Zeit durchgesetzt. Moden setzen sich sehr schnell durch, aber zum Beispiel die Art, wie wir Kinder behandeln, ändert sich langsamer.
… alles Meme!
Meme können (im Gegensatz zu Genen) erschaffen werden. Ob eine neue Idee oder eine Verhaltensweise aber zu einem erfolgreichen Mem wird, ist schwer oder gar nicht planbar. Die Entstehung eines Mems beinhaltet einen kreativen Prozess: Jemand hat eine Idee, hat etwas entdeckt, probiert etwas Neues aus und teilt es anderen mit. Wenn viele diese Information teilen, mag es zu dem „Tipping Point“ (3) kommen und ein Mem ist entstanden.
Meme scheinen oberflächlich eher Zufallsprodukte zu sein: Die Verbreitung des Fahrrades, des Autos, des Containers, des Computers. Die Verbreitung demokratischer Prinzipien, die gesetzliche Verankerung der Verbrechensbekämpfung, der nach oben gestreckte Daumen, das Nicken (in vielen Kulturen), die Sprachen, die Musikinstrumente, das Singen, eine einprägsame Melodie — alles Meme.
Gene und Meme unterliegen im Verbreitungsprozess bestimmten Auswahlkriterien. Meme — noch mehr als Gene — können zudem modifiziert werden, durch einen ungenauen Kopiervorgang beispielsweise, aber genauso durch absichtliche kreative Manipulation.
Meme und der (fast) freie Wille
Richard Dawkins hat den Begriff „The Selfish Gene“ (Das egoistische Gen) geprägt, was dem Gen eine Absicht und ein Eigenleben unterstellt. Dies war sicher unter anderem als Provokation gedacht.
Das Gegenstück zum egoistischen Gen, das „egoistische Mem“, scheint mir weniger angemessen, insbesondere weil es immer Menschen sind, die die Meme bewusst, also aus freier Entscheidung heraus wählen.
Auch wenn der freie Wille (4) ein komplexes Konstrukt ist, deren Existenz von vielen zu Recht angezweifelt wird — es ist aber wenigstens zum Teil unsere Entscheidung, welche Partei wir wählen, welche Zeitung wir lesen, ob wir nicken, ob wir Musik hören und ins Konzert gehen, ob wir Fahrrad fahren oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen.
Selbst wenn jeder von uns viel von anderen kopiert, hat unser eigenes Verhalten auch Vorbildfunktion und führt zu Nachahmung. So kann ein neues Mem entstehen und das Mem vermehrt sich. Meme werden also auch neu erfunden und diese Erfindung beruht auf Kreativität, vielleicht auch mal auf Zufall. Ob und wie weit und wie sich ein Mem durchsetzt hat Malcom Gladwell in „The Tipping Point“ beschrieben.
Mehr Bildung, weniger personelle Gewalt
Eine der wichtigsten Meme für die Entwicklung der Menschheit ist sicher das Bildungssystem. Weltweit wird die Bildung stärker, weltweit wachsen die Einschulungsraten, die Zahl der Universitäten nimmt zu. Auf der ganzen Welt geht die personelle Gewalt gegen Kinder und Frauen zurück. Steven Pinker hat dies in seinem Buch „The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined“ (Deutscher Titel: „Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit) 2011 herausgestellt (5). 2018 wurde in einem Interview von Spektrum.de mit Steven Pinker (6) auf die Entwicklung der Tötungsdelikte in Westeuropa reflektiert:
Tötungsdelikte in Westeuropa | Die Anzahl an Tötungsdelikten in Westeuropa geht seit dem 13. Jahrhundert stetig zurück. Französische, englische oder deutsche Bürger laufen statistisch gesehen 60-mal weniger Gefahr, von einem Mitmenschen erschlagen zu werden, als im Jahr 1300.
Das Wissen der Menschheit insgesamt und der Bildungsgrad der einzelnen Menschen sind beständig gestiegen. Parallel dazu nahm die personelle Gewalt ab. Die Erfindung des Buchdrucks hat die Ausweitung des Bildungssystems möglich gemacht. Dies war anfänglich noch ein recht langsamer Prozess; denn es war sehr aufwendig, ein Buch zu schreiben, zu drucken und zu verbreiten. Bücher mit einer Druckauflage in Millionenhöhe gibt es noch nicht so lange.
Bildungssysteme
Das Drucken von Zeitungen, Radio, Fernsehen und Telefon, haben diese Entwicklung beschleunigt. Das Internet mit Wikipedia, YouTube und Facebook macht es heute möglich, neues Wissen innerhalb von Sekunden über die ganze Welt zu verteilen. So steht nun auch das Wissen darüber, wie am effektivsten gelehrt und gelernt wird weltweit zur Verfügung.
Bildungssysteme entwickeln sich. Sie werden getrieben durch Parteien und Politiker, die — selbst getrieben durch die Formel des ewigen Wachstums — von der Wirtschaft wissen (und diktiert bekommen), was dort gebraucht wird. Getrieben von Eltern und Schülern, die Berufe anstreben, welche ein gutes Einkommen versprechen. Und getrieben von Lehrern, die gerade solche Fächer lehren wollen, die die Wirtschaft verlangt, weil sie darin für sich selbst die besten Anstellungschancen und somit eine Zukunft sehen.
Kritisches Denken
Schon immer hat die Wirtschaft geklagt, dass es nicht genug Fachkräfte gibt, entsprechend sind weltweit die Einkommen der besser gebildeten (und ausgebildeten) Menschen im Durchschnitt höher als die der weniger gebildeten. Dabei geht es der Wirtschaft vor allem um Fachwissen und Teamfähigkeit. Fachwissen wird immer komplexer: Computer müssen genutzt, Regelkreise und Chaostheorie müssen verstanden werden und Teamfähigkeit verlangt das Verstehen psychologischer, pädagogischer und soziologischer Vorgänge. Unser Bildungssystem kommt nicht darum herum, kritisches, also vernünftiges reflektierendes Denken zu lehren.
Kritisches Denken ist aber vielleicht aus der Sicht der Wirtschaft und großer Teile unserer Gesellschaft ein „zweischneidiges Schwert“.
Kritisches Denken oder vernünftiges reflektierendes Denken — oder auch wissenschaftliches Denken — heißt, zu hinterfragen statt zu akzeptieren, was einem gesagt wird. Es kollidiert mit allen Systemen, die auf Autorität aufgebaut sind. Dies gilt für große Teile unserer Bildungssysteme genauso wie für den großen Teil unserer Industrie. Das gilt für die Religionen und für politische Parteien und Regierungen. Es gilt auch für die Familie.
Antiautoritäre Erziehung und freies Denken
In Familie und Schule gab es schon in den 60er Jahren die antiautoritäre Erziehung (siehe: A. S. Neill zu antiautoritärer Erziehung (7) sowie „Freie Kindererziehung in der Familie“ von Paul und Jean Ritter (8)), die Kinder ernst nahm, an Entscheidungen teilnehmen ließ und sie damit zu vernünftigem reflektierenden, also wissenschaftlichem Denken und Argumentieren anhielt.
Die antiautoritäre Bewegung hat sich zwar nicht völlig durchgesetzt, sie hat aber die Diskussion im und um das Bildungssystem bereichert. Die Denkweisen an Universitäten sollten längst überall kritisch, also vernünftig reflektierend und wissenschaftlich sein (sind dies aber selbst an den Stätten des freien Denkens noch nicht uneingeschränkt, sodass Studenten noch vieles auswendig lernen, ohne es wirklich zu verstehen).
Everybody is a Leader
In der Industrie gibt es mittlerweile Firmen, die keinen Chef mehr haben. Flache Organisationsstrukturen setzen sich mehr und mehr durch. Diese verlangen, dass alle Mitarbeiter mitdenken und Entscheidungen treffen. Selbst in modernen Armeen entfernt man sich langsam von streng hierarchischen Befehlsstrukturen, vor allem, weil die hoch technisierte Armee so komplex ist, dass einzelne Befehlshaber oft nicht genug Überblick über mögliche Konsequenzen ihrer Entscheidungen haben.
Bücher wie „Everybody is a Leader“ (9) und „Multipliers“ (10) machen klar, dass man Menschen gut motivieren kann, wenn sie auch Teil der Entscheidungen in einer Firma sein können. Nur dann erfolgt „Buy-In“ (11) und Menschen setzen sich für die Gemeinschaft ein.
Es gibt Webseiten, die helfen, kritisches Denken zu trainieren. Zum Beispiel www.kialo.com, auf der kritisches Denken praktiziert wird oder www.kursfinder.de. Es gibt Techniken, die der Entscheidungsfindung dienen, wie beispielsweise „Six Thinking Hats“, eine von Edward de Bono entwickelte Methode zur Entscheidungsfindung. Es ist zu erwarten, dass die Industrie auch langfristig nach besser ausgebildeten Mitarbeitern sucht, Mitarbeiter die mitdenken, die kritisch und wissenschaftlich denken können.
Mehr Gerechtigkeit
Kritisches Denken oder wissenschaftliches Denken in demokratischen Systemen führt wohl zwangsläufig dazu, dass Utilitarismus, der Kant‘sche Imperativ und Konsensieren genauso unterstützt werden, wie das kritische Denken selbst. Damit führt es die Menschen automatisch zu der Frage, was gerecht ist, und zu hinterfragen, wer unter einer Entscheidung leiden und wer davon profitieren würde.
Kritisches Denken angewandt in politischen Überlegungen in einem demokratischen System, würde wohl ebenfalls automatisch zur Gemeinwohl-Ökonomie führen, weil ständiges Wachstum unserer Umwelt zu sehr schadet und unser Streben nach Gerechtigkeit verlangt, dass wir uns um das Gemeinwohl kümmern. Diese Entwicklung scheint mir unvermeidlich, aber unvorhersehbar (12). Kritisches Denken würde Chancengleichheit in Bezug auf Bildung und Wohlstand erfordern und Bildung und Wohlstand fördern.
Ausprobieren. Kopieren. Modifizieren.
Ich sehe die Verankerung des kritischen Denkens in allen Bereichen unserer Gesellschaft als genetischen Prozess. Kritisches Denken kann gelernt und trainiert werden. Es wird von einigen praktiziert, und wenn es zu guten Ergebnissen führt, wird es von vielen kopiert.
Meine Erwartung ist, dass alle Prozesse, die die menschliche Gemeinschaft verbessern, durch kritisches Denken gefördert werden. Somit nehmen alle Verbesserungsprozesse den Charakter genetischer Algorithmen an: Sie werden von wenigen ausprobiert, sie zeigen Erfolge, sie werden von einigen kopiert, modifiziert, ausprobiert, zeigen mehr Erfolge und werden von vielen kopiert. Dies führt zu einer aufsteigenden Spirale, zu einer exponentiellen Verbreitung.
Wissen. Fähigkeit. Persönlichkeit.
In der Behandlung unserer Kinder hat sich die Anwendung von Gewalt schon erheblich verringert, die Ernährung und Gesundheitsversorgung haben sich verbessert, Kinder werden sehr viel ernster genommen als noch von früheren Generationen. Die Entwicklung geht in Richtung Unterstützung ihrer Kreativität und ihrer Talente. Sie lernen, vernünftig reflektierend mit ihrer Umwelt und ihrem Umfeld umzugehen und sich zu integrieren ohne sich dabei zu verlieren.
Kitas, Schulen und die Orte der Berufsausbildung werden sich weiterentwickeln zu Stätten, an denen sich die Persönlichkeit genauso entwickeln kann wie die Ausweitung des Wissens und der Fähigkeiten. Auch das wird eher ein genetischer Prozess sein, der von kritischem Denken beschleunigt wird.
Arbeit. Geschick. Teamwork.
Die Arbeitsplätze werden sich so entwickeln, dass der Angestellte mehr Verantwortung erhält und gleichzeitig Miteigentümer der Firma sein kann, die ihn bezahlt. Unangenehme Arbeiten werden zunehmend von Robotern und Computern erledigt, Arbeitszeit wird sich verkürzen. Die Menschen werden zufriedener mit ihrer Arbeit sein und außerdem mehr Zeit haben, sich außerhalb der Arbeitsstelle kreativ zu betätigen.
Unsere technisierte Gesellschaft funktioniert mit Arbeitsteilung und Ausbildung. Fast hinter jedem Gegenstand, den wir in die Hand nehmen, steckt ein Entwicklungsprozess, der über mehrere Generationen erfolgt ist. Es stecken wissenschaftliche Erkenntnisse in ihm, er beruht auf Teamwork und Spezialisation, er verlangt für jeden seiner Produktionsschritte — und für Werbung und Vertrieb sowie für die spätere Entsorgung — Wissen und Geschick vieler Personen.
Was treibt die Entwicklung der Gesellschaft voran, was bremst sie?
Warum wird Gewalt weniger statt mehr? Die Frage, ob der Mensch gut oder schlecht ist, ist viel diskutiert worden und, dass der Mensch zu guten und zu schlechten Taten fähig ist, ist bekannt. Für den einzelnen Menschen gibt es ständig Gelegenheiten, sich selbst einen Vorteil durch egoistische Verhaltensweise zu verschaffen.
Aber wenn Menschen sich an einen Tisch gesetzt und darüber nachgedacht haben, welche Regeln sie aufstellen wollen, dann haben sich überwiegend Regeln durchgesetzt, die zum Frieden beitragen. Das gilt für die christlichen Zehn Gebote genauso wie für viele unserer Gesetze, unserer Verfassungen und der Menschenrechte.
Es ist für die meisten von uns günstig, wenn wir uns darauf einigen, uns nicht gegenseitig zu verletzen, zu töten, zu bestehlen oder zu betrügen. Für die Menschheit ist es günstig, wenn wir uns gegenseitig helfen. Es ist also durchaus egoistisch, solche Regeln anzustreben. Zusätzlich sind wir genetisch mit Empathie behaftet und wir wissen heute, dass unsere Spiegelneuronen dazu führen, dass wir mitleiden und uns ebenfalls leicht gemeinsam freuen können.
Gegenkräfte
Dagegen gibt es aber auch Kräfte, die bestehendes Unrecht aufrechterhalten wollen. Wer besitzt, wird dies nicht aufgeben wollen; denn die Angst vor Verlust, also Verlustangst (13) ist stärker als die Freude über Gewinn.
Die Freude am Besitz, das Bestreben „besser“ zu sein und mehr haben zu wollen, ist tief in unserer Gesellschaft verankert. Es drückt sich aus in den vielen Filmen, die von reichen Leuten handeln und vor allem in den vielen Übertragungen von Sportereignissen.
Ich vermute, dass Wettkampf, bei dem es Gewinner und Verlierer gibt, nicht genetisch in uns verankert ist, sondern nur memetisch. Wir müssen also viele unserer Meme ändern. Meme können aber kaum von außerhalb durch Gesetz oder Befehl geändert werden. Meme wachsen langsam und werden langsam wieder vergessen, sie kommen von innen aus der Gesellschaft, sie entstehen in uns.
Über-Ich, Ich, Es und die Angst
Die Frage, welche Bedeutung Meme letztlich haben, aufgezeigt in „Hast du Meme? Oder haben Meme dich?“ (14), hat viel Ähnlichkeit mit der Frage nach dem freien Willen in Free Will von Sam Harris.
Wir werden durch Meme gelenkt und unser Wille ist auch nicht total frei — der freie Wille wird eingeschränkt durch unseren Charakter, unser Über-Ich, unser Ich und unser Es (15), was auf uns zum Teil von unserer Umwelt mit Hilfe von Memen übertragen wurde. Es sind Meme, die uns lenken (Religionen sind Meme genauso wie Erziehungsstile). Andererseits können wir aber auch Meme entwerfen und Meme formen. Wir sind in der Lage, darüber zu reflektieren, welche Meme uns nützen und welche für uns schädlich sind.
Besonders die Situation unserer heranwachsenden Kinder ist so, dass sie oft hinterfragen, ob wir Erwachsenen ihnen die richtigen Muster vorleben und vorgeben. Oft blicken wir kritisch auf die „angepassten“ Menschen herab. Es gibt also Spielraum für uns zwischen Anpassung und Rebellion, zwischen Kämpfen und Aufgeben, zwischen Progressiv und Konservativ — und in diesem Spielraum verändert sich die Menschheit, verändern sich ihre Meme.
Es gibt eine Balance für die Geschwindigkeit von Veränderungen, die durch unsere Angst vor Veränderung und unsere Angst vor Stagnation bestimmt wird (siehe: Grundformen der Angst (16)).
Mehr Gerechtigkeit — eine Doppelsieg-Strategie
Den großen Veränderungen der Gesellschaft hin zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Chancengleichheit, zu mehr Kooperation und weniger Wettkampf steht eine mächtige Opposition gegenüber. Es sind nicht nur diejenigen, die von den jetzigen Ungerechtigkeiten profitieren. Es sind jene, die übertriebene Angst vor Veränderungen haben — konservative Kräfte der Gesellschaft.
Diejenigen, die eine Vormachtstellung besitzen, also viele der besonders reichen Menschen — sie alleine sind in einer recht kleinen Minderheit, werden aber von den konservativen Teilen der Gesellschaft unterstützt. Die konservativen Kräfte in der Gesellschaft neigen dazu, solche Veränderungen nur zu befürworten, wenn sie in kleinen Schritten geschehen. Aber kleine Schritte in dieser Richtung werden diese Konservativen unterstützen.
Einkommen, Vermögen und Verteilung
Würde in Deutschland das Einkommen umverteilt, und zwar zum Beispiel so, dass der Quotient aus Maximaleinkommen und Minimaleinkommen 10 beträgt (siehe: Gemeinwohl-Ökonomie (17)), wobei das Minimaleinkommen mit 1500 Euro definiert ist, so läge in Deutschland das Jahreseinkommen einer Person zwischen 18.000 Euro und 180.000 Euro — bei einem jährlichen Durchschnittseinkommen von etwa 40.000 Euro. Eine so große Veränderung könnte in unserem politischen System vermutlich nur in mehreren kleineren Schritten eingeführt werden.
Im Vergleich zur jetzigen Realität würden Einkommen soweit sinken, dass sich kaum jemand einen Ferrari oder eine Luxusjacht leisten könnte. Große Villen würden nicht mehr gebaut und einige Hersteller von Luxusartikeln würden ihre Produktion wohl erheblich umstellen müssen. Sie würden dabei möglicherweise aber gewinnen, denn die Gemeinwohl-Ökonomie wird im Durchschnitt mehr Wohlstand schaffen. Dies wird viel mehr Menschen die Möglichkeit geben, sich zum Beispiel ein iPhone zu kaufen, aber niemand wird mehr nach einem mit Diamanten besetzten iPhone verlangen.
Die positiven Effekte
Fraglich ist nicht, ob eine derartige Angleichung der Einkommen negativen Einfluss auf die Zufriedenheit vieler Menschen hätte. Aktuell haben weniger als 1,5 Prozent der Bevölkerung überhaupt ein Einkommen, dass über 180.000 Euro im Jahr liegt. Obige Zahlen sollten daher unter verschiedenen Modellvorgaben nachgerechnet werden. Unter utilitaristischen Maßstäben wäre zu erwarten, dass sich die Situation für die überwältigende Masse der Menschen erheblich verbessert, weil es weit mehr Gewinner als Verlierer gebe.
Die Änderung der Einkommensverteilung und auch des Vermögens (Erbschaftsteuer) muss einhergehen mit der Änderung der Chancengleichheit in der Bildung, zusammen mit einer Ausweitung der Bildung; denn wir müssen besser lernen, die Zusammenhänge zu verstehen.
Selbst diejenigen, die im Rahmen dieser Veränderungen finanziell etwas abgeben, werden vielleicht zufrieden mit diesen Veränderungen sein. Denn mehr Gerechtigkeit (18) und ein verstärktes Gefühl, dass wir alle in einer gerechten Welt leben, führen zu geringerer Kriminalität, besserer Gesundheit für die Allgemeinheit, weniger Neid und höherer Zufriedenheit.
Mehr Freiheit für jeden
Ich habe ein paar Jahre als Hochschullehrer umgeben von armen Menschen gelebt — für sie war ich reich. Bettler saßen auf meinem Weg zur Universität. Ich fühlte mich nicht gut in der Rolle reich zu sein und ich glaube das geht den meisten Menschen so. Deshalb schotten sich viele Wohlhabende ab. Sie errichten hohe Mauern um ihr Haus und an dem Tor zum Grundstück steht ein bewaffneter Wächter. Das bedeutet aber auch weniger Freiheit für die Bewohner des Hauses.
Wenn diese Ungerechtigkeiten verringert werden können, müssen sich Wohlhabende weniger mit hohen Mauern und Bodyguards umgeben. Sie würden somit Freiheit hinzugewinnen, die ihnen die Möglichkeit zu einem größeren und vielleicht interessanteren Freundeskreis eröffnet.
Heiko Schröder ist Professor der Informations- und Kommunikationstechnologie. Er hat in Deutschland, USA, Großbritannien, Australien, Singapur, Äthiopien, Indonesien und Botswana geforscht und gelehrt.
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag erschien zuerst im „Neue Debatte-Magazin“.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Richard Dawkins: Das egoistische Gen (Original: The Selfish Gene; 1976).
(2) Spektrum.de (01.12.2000): Evolution – Die Macht der Meme. Auf https://www.spektrum.de/magazin/die-macht-der-meme/827031 (abgerufen am 11.09.2019).
(3) Malcolm Gladwell: The Tipping Point – How Little Things Can Make a Big Difference (2001).
(4) Sam Harris: Free Will (2012). Siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/Free_Will_(book) (abgerufen am 11.09.2019).
(5) Steven Pinker: The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined (2011). Siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/The_Better_Angels_of_Our_Nature (abgerufen am 11.09.2019). Das Buch wurde in Deutsch unter dem Titel „Gewalt – Eine neue Geschichte der Menschheit“ (Verlag S. Fischer, 2013) veröffentlicht.
(6) Spektrum.de (19.04.2018): „In der Welt herrscht immer weniger Gewalt“. Auf https://www.spektrum.de/news/immer-weniger-gewalt-in-der-welt/1559618 (abgerufen am 11.09.2019).
(7) Alexander Sutherland Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill (Rowohlt, Reinbek 1969).
(8) Paul und Jean Ritter: Freie Kindererziehung in der Familie – Selbstbestimmung als Erziehungsprinzip (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1987).
(9) trainingmag.com (13.09.2016): Everybody is a Leader, Auf https://trainingmag.com/everybody-leader (abgerufen am 11.09.2019).
(10) Liz Wiseman und Greg McKeown: Multipliers – How the Best Leaders Make Everyone Smarter (Kindle, 2010).
(11) John P. Kotter: Buy-In – Saving Your Good Idea from Getting Shot Down (Kindle, 2010).
(12) Journal of Democracy: China at the Tipping Point? (2013). Auf https://www.journalofdemocracy.org/wp-content/uploads/2013/01/Nathan-24-1.pdf (abgerufen am 11.09.2019).
(13) Ulrike Sammer: Verlustangst und wie wir sie überwinden (Fachratgeber Klett-Cotta, 2018).
(14) Gen-ethisches Netzwerk: Hast du Meme? Oder haben Meme dich? Auf https://www.gen-ethisches-netzwerk.de/hast-du-meme-oder-haben-meme-dich (abgerufen am 11.09.2019).
(15) Strukturmodell der Psyche. Auf https://de.wikipedia.org/wiki/Strukturmodell_der_Psyche (abgerufen am 11.09.2019).
(16) Fritz Riemann: Grundformen der Angst (42. Auflage, Ernst Reinhardt Verlag, 2017).
(17) ecogood.org: Gemeinwohl-Ökonomie – Ein Wirtschaftsmodell mit Zukunft. Auf https://www.ecogood.org/de/idee-vision (abgerufen am 11.09.2019).
(18) Alfie Kohn: Punished by Rewards – The Trouble with Gold Stars, Incentive Plans, A’s, Praise and Other Bribes (2000).