Die Prüfung
Unsere Zeit stellt uns vor größte Herausforderungen ― lassen wir los, was uns beschwert.
Die Lage spitzt sich zu. Immer enger zieht sich das Netz zusammen, immer unbequemer wird es für diejenigen, die sich dem Wahnsinn widersetzen. Die bevorstehende dunkle Jahreszeit ist eine Gelegenheit, das Licht dort zu suchen, wo es sich verbirgt: in unserem Inneren. Aus dem Annehmen und Akzeptieren des Problems heraus kann sich die Lösung entwickeln und den Weg in die Freiheit ebnen.
An einem heißen Tag Ende August ballen sich Gewitter zusammen. Schwül lastet die Luft über dem Land. Die Katzen schleppen sich von Schatten zu Schatten und ich versuche, in meinem Garten die Nachrichten der zurückliegenden Tage zu verdauen. Gestern wurde ein Freund verabschiedet, dessen Trauerfeier im Winter wegen Corona ausgefallen war. Viele kommen in der Sommerhitze zusammen und gedenken dem Verstorbenen. Zum Klang einer Ukulele wird gegessen, getrunken, geschwiegen und erzählt.
Während draußen wie an jedem Samstag in Frankreich die Menschen in immer imposanteren Demonstrationszügen durch die Straßen ziehen, geht es hinterm Gartenzaun um Gott und die Welt. Nur ein Thema wird ausgespart: das, wofür die Menschen auf die Straße gehen. Es ist nicht der Moment für Auseinandersetzungen und auch ich verspüre keinerlei Neigung, eine Beerdigungsgesellschaft aufzumischen.
Zu späterer Stunde zwischen Käse und Dessert ist es dennoch so weit. Auf die Frage, wie es mir geht, antwortete ich unbedacht, dass ich gerade meine Arbeit als Lehrerin verloren habe, da ich mich nicht impfen lassen möchte und nicht an jedem Unterrichtstag 49 Euro für einen Test zahlen kann. Die Schulleiter, nette Menschen, die noch im vergangenen Sommer in meinem Garten gegessen haben, hatten sich bei mir „so etwas schon gedacht“. Es gab kein Gespräch, keinen Versuch, gemeinsam eine Lösung zu finden, kein Wort über die unerträgliche Situation. Jeder macht eben seinen Job (1).
Ich erwähne also, dass meiner nun weg ist.
Die Person neben mir nutzt die Situation, um ein Stück von mir abzurücken. Als Ungeimpfte, so verkündet sie mit erlöschendem Lächeln, sei ich für sie als Geimpfte eine Gefahr.
Eisern darum bemüht, die Fassung zu wahren, und in der Ahnung, in dieser Gesellschaft so ziemlich die einzige Ungeimpfte zu sein, lächele ich tapfer weiter und beschränke mich darauf, einem sich hochschaukelnden Monolog zuzuhören.
Warum sich die Leute nur so anstellen, Impfen, das weiß doch jeder von Polio und Tuberkulose und so, das sei doch eine gute Sache. Es sei unvertretbar, dass man jetzt sogar Impfzentren angreift. Sie vertraue eben dem System, auch wenn sie natürlich wisse, dass es in der Pharmaindustrie um Profit geht, das sei doch ganz normal. Wo, bitteschön, ist das Problem? Ich belohne mein immer noch freundliches Schweigen mit einem weiteren Stück Kuchen.
Ungeheuer
Innerlich fühle ich mich voller Unruhe in einer Zeit, die mich ständig mit der Frage konfrontiert: Bist du bereit, diese Tür zu durchschreiten? Es ist wie eine Häutung, oft schmerzhaft, immer notwendig. Schleier zerreißen, Illusionen zerplatzen, Täuschungen werden offensichtlich, im Großen wie im Kleinen, im Individuellen wie im Kollektiven. Der Schraubstock, der sich immer enger zusammenzieht, ist Anlass für ein weiteres großes inneres Reinemachen.
Einmal mehr steige ich mit einer flackernden Kerze in der Hand in den Keller und erkenne nicht nur meine eigenen Wunden und Verletzungen, sondern die einer ganzen Zivilisation. Wir haben unterdrückt und gequält, ausgebeutet und zerstört, geraubt und gemordet. Wir haben ignoriert, was nach unserer Aufmerksamkeit rief und ausgeschlossen, was um Einlass bat. Wir haben die Tränen nicht gesehen, haben immer neue Mauern errichtet, Festungen und Gefängnisse, in denen wir uns schließlich selbst eingeschlossen haben.
Schicht um Schicht haben wir unsere Ängste in starre Gewänder gehüllt: die Angst, nicht gut genug zu sein; die Angst, zu versagen; die Angst, ganz allein zu sein. So wuchs sich das, was wir ursprünglich schützen wollten, zu wilden Ungeheuern aus, die bei jeder Berührung Feuer speien. Diese Ungeheuer sind es, die uns heute gegeneinander aufbringen, die Gesellschaft spalten und die Menschheit zersplittern.
Ihre Namen sind Legion. Wut, Groll, Verbitterung heißen sie, Berechnung, Wehleidigkeit, Selbstgerechtigkeit, Hochmut, Eitelkeit, Gier, Geltungssucht, Niedertracht, Starrköpfigkeit, Kälte, Ignoranz, Boshaftigkeit, Grausamkeit. Sie halten dort Einzug, wo niemand zu Hause ist, wo die Menschen nicht wissen, wer in ihnen wohnt und wer sie sind. Wer nicht Souverän im eigenen Reich ist, mit dem haben Vampire ein leichtes Spiel. Ohne es auch nur zu ahnen, werden wir zum Festschmaus für die Kräfte, die uns unsere Energie rauben und uns nach unten ziehen.
Zu unserem Besten
Damit wir die Energieräuber und Blutsauger einlassen, kommen sie in appetitlicher Verkleidung daher. In den raffiniertesten Gewändern ziehen sie über die Bildschirme, hinter denen wir unser Leben verbringen. Sie meinen es gut mit uns! Kontrolle, Überwachung, Zwang, Freiheitsentzug ― alles zu unserem Besten! Wer das nicht glaubt, der ist asozial, verrückt, gefährlich, ein Terrorist. Was mit Terroristen geschehen muss, darauf sind wir vorbereitet. Ganz hart durchgreifen muss man hier. Wir sehen ja, was geschieht, wenn die an die Macht kommen!
Vor allem Gefährlichen gibt man vor, uns schützen zu wollen: Extremisten, Viren, Cyberangriffe, Feuersbrünste, Starkregen, Flutwellen ― Klimawandel! Längst haben die „Guten“ dieses Ziel im Visier. „Hilft am Ende nur militärische Gewalt gegen Klimaverschmutzer?“, fragt ein US-Politologe im Spiegel (2). Ein Blick auf die Titel der Leitmedien reicht, um zu erkennen, in welche Richtung es geht. Die seltsam unsinnige Kontraktion aus „Klimawandel“ und „Umweltverschmutzung“ macht es leicht sich vorzustellen, wie es aussehen wird, wenn das Militär als rettende Instanz auf den Plan gerufen wird.
Einer der größten Umweltverschmutzer des Planeten wird mit modernster Technologie jeden dingfest machen, der sich nicht an die Regeln hält. Tracking-Apps verfolgen die, die ihren Müll nicht richtig trennen, ihr Auto nicht korrekt einstellen oder ihr Haus nicht genügend isolieren.
In naher Zukunft schon werden wir, wer weiß, nicht nur alle paar Monate gegen Viren, sondern auch gegen CO2-Ausstoß geimpft.
Immer unerbittlicher werden die Kontrollen. Doch das macht uns nichts aus. Haben wir nicht das Glück, in einem Land zu leben, in dem es keinen Hunger gibt (na ja, fast), in dem kein Krieg herrscht (oder?), in dem sexuelle Orientierungen nicht verfolgt werden und Frauen Männern dank Gendersternchen gleichwertig sind (was war das noch mal, Frau und Mann?)? Angesichts des gewaltigen Unrechts in vielen Ländern der Welt, so eine französische Journalistin, seien diejenigen geradezu verwerflich egoistisch, die sich darüber beklagen, beim Restaurantbesuch einen QR-Code vorlegen zu müssen. Das bisschen Kitzeln in der Nase, der kleine Piks, ein harmloser Code ― wie kann man da nur so einen Hermann draus machen?
Beziehungsbänder
Da mir diese Ungeheuerlichkeiten von an sich klugen, freundlichen, oft sozial, künstlerisch oder pädagogisch engagierten Menschen angetragen werden, die sich selbst für die „Guten“ halten, bin ich wieder bei mir selbst und meinen Dämonen angekommen. Wilden Derwischen gleich tanzen sie auf meinen Nerven und meinen Gefühlen herum, machen mich betroffen, traurig, besorgt, wütend, schwindelig, ohnmächtig. Ganz elend fühle ich mich. Sind denn alle verrückt geworden? Bin am Ende ich es, die total daneben liegt? Kann ich denn nichts tun?
Zu einer Beziehung, so der französische Sozialpsychologe Jacques Salomé, gehören mindestens drei: ich, du und das Band zwischen uns. Jeder hält ein Ende des Beziehungsbandes in seinen Händen. Über das Ende unseres Gegenübers haben wir keinerlei Macht, wenn uns an echten, gleichberechtigten Beziehungen gelegen ist und wir nicht zu Manipulation, Betrug oder Gewalt greifen wollen. Allein auf unseren Teil des Bandes haben wir Einfluss.
Wie verhalte ich mich hier? Halte ich das Band ganz locker in der Hand? Ziehe ich daran? Setze ich es unter Spannung? Bringe ich es zum Zerreißen? Lasse ich es los? Wie gehe ich mit den Dingen um, die sich im Laufe der Zeit in das Beziehungsband eingeschlichen haben? Was mache ich mit den Kröten und Schlangen, die hier im Verborgenen wirken? Tue ich so, als seien sie nicht da oder versuche ich, sie aus dem Weg zu räumen und die Beziehung wieder in Fluss und ins Gleichgewicht zu bringen?
Wenn ich etwas verändern will, dann kann ich das nur bei mir selbst tun. Wie ein Peitschenhieb knallt mir die Erkenntnis entgegen ― wieder und wieder. Wenn ich Frieden finden will, dann bleibt mir nur, das Band zu ergreifen und mich dem zu stellen, was es mit mir macht. Nicht als ergebenes Opfer, nicht, indem ich mein eigenes Haupt mit Lorbeeren schmücke, sondern indem ich das auflöse, was mir Kopfzerbrechen macht, schwer im Magen liegt, an die Nieren geht und mein Herz bedrückt.
Die Macht des Loslassens
In einem traditionellen Verfahren der Hawaiianer zur Aussöhnung und Vergebung treffen sich Familien, Clanmitglieder und Dorfbewohner in regelmäßigen Abständen, um das in ihre Mitte zu bringen, was das harmonische und friedliche Zusammenleben stört. Respekt, Ehrlichkeit und das Bewusstsein der eigenen Verantwortung sind Voraussetzungen dafür, dass das Ritual funktioniert und Probleme gelöst werden können.
Wie in der „Gewaltfreien Kommunikation“ nach Marshall Rosenberg (3) geht es hier nicht darum, andere zu beschuldigen oder anzuklagen. Jeder Mensch, so beschreibt es auch Jacques Salomé, ist zu 100 Prozent dafür verantwortlich, wie er seine Beziehungsbänder in den Händen hält. Wer es wirklich ernst meint mit dem Frieden, der verzichtet auf Schuldige und Opfer, auf den Ruf nach Rache und einem Retter. Er trägt weder sich selbst noch anderen etwas nach und verbringt seine Lebenszeit damit, seine Menschlichkeit zu nähren und zu pflegen.
Die Heilerin Morrnah Simeona und der Psychologe Hew Len haben das ursprüngliche Ritual des Ho’oponopono an die moderne Zeit angepasst und daraus einen individuellen inneren Vergebungs- und Reinigungsprozess entwickelt. Er hilft dabei, erwachsen zu werden. Hierzu muss zunächst das Kind wahrgenommen werden, das in jedem von uns weiterlebt. Jeder Mensch trägt unverheilte Verletzungen aus der Kindheit mit sich herum, die dann zum Ausdruck kommen, wenn etwas an die alte Wunde rührt. Es ist das Kind in uns, das nach Aufmerksamkeit ruft und uns zeigt, was geheilt und geklärt werden will. Versuchen wir nicht, es zum Schweigen zu bringen, sondern spüren wir seinem Ruf nach.
Das Kind will wahrgenommen werden, geliebt, in den Armen gehalten. Weinend oder mit den Füssen stampfend ruft es nach der Mutter. Die Mutter kommt und nimmt das Kind in seinem Schmerz an, so, wie es gerade ist: Ich liebe dich. So fasst es Vertrauen und kann sich beruhigen. Hat es etwas getan, was nicht richtig war, kann es Reue zeigen: Es tut mir leid. Nun kommt nach der Horizontalität der geöffneten Arme der Mutter die Vertikalität des Vaters ins Spiel, die uns aufrichtet: Bitte verzeih mir. Dankbarkeit schließt das innere Ritual ab. Wir sind von einer Last befreit.
Nur wer es lernt, Mutter und Vater für sich selbst zu sein, kann erwachsen werden und die volle Verantwortung für sein Leben übernehmen.
Wenn wir nicht in der Sandkiste sitzen bleiben wollen, wo wir uns gegenseitig die Schaufeln über die Köpfe ziehen, müssen wir dafür Sorge tragen, uns selbst gute Eltern zu sein und uns selbst bedingungslos zu lieben. Allein Menschen, die hierzu in der Lage sind, können gemeinsam eine friedliche, gesunde und gerechte Gemeinschaft aufbauen, in der jeder sich entfalten kann. Tun wir das nicht, wird es unser Untergang sein. Wie Vieh werden wir gechippt und zum Schlachthof geführt, während Maschinen und Roboter die Herrschaft über den Planeten Erde übernehmen.
Aus der Akzeptanz erwächst die Stärke
So wie es im Moment aussieht, wählen die meisten Menschen den zweiten Weg. Ich kann es nicht ändern. Jeder muss selbst erkennen, was gut ist und was nicht. Wir können uns nur in Freiheit entfalten. Selbst Gott mischt sich hier nicht ein. Er akzeptiert es, wenn sich jemand von ihm abwendet.
Die Lösung entsteht aus dieser Akzeptanz heraus. Nur im Akzeptieren unserer Grenzen können wir sie überwinden, nur im Anerkennen unserer Schwächen kommen wir in unsere Stärke. Hinein also in die eigene Dunkelheit. Nicht, um in ihr stecken zu bleiben, sondern um in ihr das Licht zu holen. Wie Orpheus müssen wir in die Unterwelt hinein. Wie er müssen wir bereit sein, dem Tod zu begegnen.
Wir werden sterben. Etwas in uns wird sterben. Akzeptieren wir es. Schlucken wir nicht die Köder derer, die uns weismachen, uns davor zu retten. Hören wir auf, für die Eventualität, an eine Beatmungsmaschine angeschlossen zu werden, unsere Seele zu verkaufen. Akzeptieren wir, dass alles vorbei sein wird. Denn nur wer den Tod annimmt, der kommt ins Leben. Das Samenkorn muss sterben, um zur Pflanze zu werden und Früchte zu tragen.
Bereit für die Wende
Machen wir uns nun ganz leicht. Lassen wir das in uns sterben, was uns schwer macht: die Illusion, dem Unausweichlichen entfliehen zu können. Lassen wir uns *ent*täuschen. Nehmen wir den Schmerz an, doch halten wir uns an ihm nicht fest. Wem das gelingt, der macht sich bereit für eine Wende, die vielleicht unser aller Vorstellungsvermögen übersteigt. Denn vielleicht werden nicht diejenigen die Sieger sein, die heute von der Krise profitieren.
Vielleicht wird es ganz anders kommen. „Sie denken zu schieben, doch sie werden geschoben“, spricht Mephisto in Goethes Faust. Vielleicht werden wir die Krise, die Phase der Entscheidungsfindung, dazu nutzen, den Tod wieder ins Leben zurückzuholen und all das zu integrieren, was wir so lange von uns gestoßen und ausgeschlossen haben. So kann aus dem Chaos eine neue Ordnung, ein neuer Kosmos entstehen, in dem nicht Zerstörung, sondern Harmonie herrscht.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Wer mich in dieser Situation unterstützen möchte, kann das mit dem Kauf meines Buches „Wind unter den Flügeln“ tun, eine umfangreiche Sammlung meiner Aufwind-Texte: https://www.bod.de/buchshop/wind-unter-den-fluegeln-kerstin-chavent-9783753491264.
(2) https://www.spiegel.de/ausland/klimawandel-harvard-forscher-stephen-walt-einige-staedte-werden-wir-aufgeben-muessen-a-4d5e625d-0002-0001-0000-000178784948
(3) https://www.rubikon.news/artikel/frieden-beginnt-im-gesprach