Die Perspektiven-Frage
Warum den Medien nicht zu trauen ist.
Im Dezember 2017 hatte der Rubikon seine Leserinnen und Leser eingeladen, selbst publizistisch aktiv zu werden: „Schreiben Sie einfach einen kleinen Essay, eine Glosse, eine Kurzgeschichte oder ein Gedicht zur Frage: Warum vertrauen Sie den (Leit-)Medien nicht mehr? Warum brauchen wir neue, demokratische Medien in Bürgerhand, Medien ‚von unten‘?“, hieß es in einem entsprechenden Aufruf der Redaktion (1). Fast 100 Leserinnen und Leser sandten der Redaktion hieraufhin eigene Texte und erhielten als Dank für ihren Mut jeweils ein Exemplar von „Lügen die Medien?“ als Weihnachtsgeschenk. Hier veröffentlicht der Rubikon nun die besten Leser-Texte in eigener Rubrik (2).
Warum vertraue ich den sogenannten Leitmedien nicht mehr?
von Shabi Alonso
Wenn ich einen ganzen Tag durch eine mittelgroße deutsche Stadt schlendern würde, nehmen wir einmal Mainz, so hätte ich aller Voraussicht nach, insofern ich mich durch Kopfhörer oder einen mobilen Bildschirm nicht abschirmen würde, eine Handvoll an berichtenswerten Ereignissen beobachtet. Würde eine andere Person genau die gleichen Wege zur gleichen Zeit gehen und an den gleichen Orten Pausen einlegen, so hätte sie in der Summe gewiss andere Beobachtungen gemacht, würde demnach auch andere Geschichten erzählen. Wichtg und relevant ist scheinbar das, was bei uns selbst Eindruck hinterlässt. Je nachdem, was mich also interessiert, was an Beobachtungen sogar von Nutzen sein könnte, das „beeindruckt“ mein Gehirn, der Eindruck ist sodann hinterlegt.
Gewissermaßen zensiert mein Gehirn also alle Ereignisse um mich herum. Das ist auch gut so.
Ansonsten wäre ich maßlos überfordert, eine Art autistische Reakton wäre wohl die Folge.
Auf der Makroebene fassen Medien ebenfalls eine Fülle an Ereignissen zusammen, jene kleinen bis hin zu den ganz großen globalen Ereignissen. Da Funk- und Fernsehmedien jedoch über weitaus größere Kapazitäten verfügen, ist bei der Erfassung eine Selektion wie beim Menschen nicht unbedingt von Nöten. Die Zensur findet in den jeweiligen Besprechungen statt.
Versetzen wir uns kurz hinein in die Handlungsstrategien dieser Medienvertreter: Was würden wir als Verantwortlicher senden? Wer würde uns zu beeinflussen versuchen? Diese Fragen sind die Spitze des Eisbergs und lassen erahnen, was unter dem Meeresspiegel an berechtigten Fragen noch schlummert. Wohl erst nach einer gezielten Auslese berichten diese sogenannten Leitmedien, meistens in fünfzehn bis dreißig Minuten, über die ihrer Meinung nach relevantesten Geschehnisse auf der Welt.
Bewusstwerden muss man sich über die Tatsache, dass Interessen, beispielsweise von einem Intendanten, dabei eine ganz besondere Rolle spielen. Zwar findet eine Zensur auch hier aus Ressourcengründen statt, doch stellt sich die Frage, ob die sogenannten Leitmedien noch eine tatsächlich öffentliche Meinung repräsentieren.
Ob die sogenannten Leitmedien eine gemeinsame Linie fahren, dieser Frage haben sich einige mutige Medienwissenschaftler gewidmet. Zunächst einmal ist die These einer gemeinsamen Agenda jener Medien fragwürdig. Erst wenn man sich Alternativen anschaut, erkennt man bei den Leitmedien eine gezielte, zu sehr gleichgerichtete Meinungsäußerung und keine, wie zu erhoffen und erwarten wäre, weitestgehende Objektivität in der Berichterstattung. Durch den von den alternativen Medien angestoßenen Perspektivwechsel wird ein gemeinsamer roter Faden bei den bisher etablierten Medien sichtbar, eine gewisse Monotonie in der Berichterstattung ist erkennbar.
Ein Erklärungsansatz: Gustave Le Bon beschreibt in „Psychologie der Massen“, wie zunächst einmal an der Beobachtung und Feststellung eines Kreises nichts auszusetzen ist. Danach ergänzt er, dass je nach Änderung der Perspektive, aus diesem eben noch klar erkennbaren Kreis, ein Oval entsteht.
Wenn ich diesen Kreis von außen betrachte, sehe ich zwangsläufig nur noch eine Linie.
Vereinfacht übertragen auf die Medien lässt sich sagen, dass relativ einfache Konzentrationen bei der Berichterstattung ein gewisses Bild zeichnen können, welches dem Konsumenten weismacht, dass es sich um Tatsachen handelt. Wer zweifelt am Oval, wenn sie oder er es nicht selbst beobachtet oder erlebt hat, jedoch drei andere Personen mir das gezeichnete Bild attestieren. Da ich es nicht mit eigenen Augen beobachten konnte, bin ich als eine von Informationen abhängige Person auf die Aussagen angewiesen. Es ist zu vermuten, dass ich ihnen Glauben schenken werde, da sie sich einig sind.
Nun kommt aber eine vierte Person hinzu und erklärt: Es handelt sich um einen Kreis. Diese vierte Person, die mir diese neue Perspektive anbietet, erachte ich persönlich als bereichernd.
Es fühlt sich nämlich an, als wenn man Scheuklappen ablegt, der eigene Horizont erweitert sich, man hat ein breiteres Spektrum an „perspektivischem Sehen“ angeboten bekommen.
Zugespitzt könnte die Frage gestellt werden, möchte ich nur die drei Personen angeboten bekommen, die mir die Erde als Scheibe präsentieren oder zusätzlich die eine Person, die mir eine andere Sichtweise anbietet.
Die (Leit-)Medienanstalten nutzen einen „Algorithmus“, mit dem sie ein vermeintlich flächendeckendes Bild für eine bestimmte Agenda malen lassen. Als Konsument kann ich nur hoffen, dass es einer möglichst objektiven Darstellung entspricht. Gleichermaßen jedoch wie ein „Algorithmus“ wahrheitsgemäß sagt, dass Hinz und Kunz durchschnittlich einen Apfel besitzen, wenn man ihm die entsprechenden Infos zur Aufgabenlösung gibt, kann nur der Andersdenkende die Perspektive ändern und eine zweite Wahrheit baut sich auf: Hinz besitzt keinen Apfel, während Kunz zwei Äpfel sein Eigen nennen darf. An diesem Punkt setzt meines Erachtens die Legitimität neuer Medien „von unten“ an.
Wir klicken auf die Inhalte, die uns zusagen, die uns bewegen, bei denen wir tiefer gebohrt haben möchten, statt zu Wochenbeginn wachsweich, aber unfair den Applaus zu ertragen, bei dem wir uns mehrfach fragen, ob dieser nicht einfach inszeniert war.
Betrachtet man die Leitmedien bei der Ausführung ihrer Aufgaben, so stellt man zunächst einmal schnell fest, dass die nahezu täglichen Ansprachen um Viertel vor Zehn, vom 400.000-Euro-Mann oder auch anderen Mediensoldaten, in sich logisch wirken. Sie alle suggerieren uns das Oval.
Auch sonst fühlt man sich im BILDe über globale und regionale Lagen, die WELT macht Sinn, trotz wenig tiefer Inhalte, für die wichtigen Recherchen und Fragen ist oft nicht die ZEIT, dabei befassen sie sich eigentlich N24 Stunden pro Tag mit Nachrichten. Wie die Flügel eines PHOENIX in der Luft breitet sich die vermeintliche Klarheit in unseren Köpfen aus, aber allesamt ähneln sich die Sprechblasen, dass sogar die sonst so „LINKE TAZ“ neuerdings jubelt und das enge Korsett einer illusorischen Meinungsvielfalt im Chomskyschen Sinne entblößt. Auch die letzten ARTEfakte fangen langsam aber sicher an zu bröckeln. Folglich kann man erst durch einen alternativen Betrachtungswinkel diesen in sich „logischen Algorithmus“ durchbrechen, so dass einzig der Konsum mehrerer Medien, die alternativen mit einbezogen, in zwingender Zusammenarbeit mit dem eigenen Bauchgefühl am Ende den entscheidenden Ausschlag geben kann.
Wenn wir aber davon ausgehen, dass eine völlige Objektivität nicht realisierbar ist, müssen wir uns die wichtige Frage stellen: Auf Basis welcher Moralvorstellung sollte Subjektivität in der medialen Berichterstattung erlaubt sein? Sind es die (trans-)nationalen, territorialen Ansprüche, Rechte und ökonomischen Gesetze oder sind es die bürgerlichen, wahrhaftig freiheitlich-demokratischen Grund- und Menschenrechte? Wenn man sich vor Augen führt, dass die zuerst genannten einst in aller Herren Länder Einzug erhielten, um die letztgenannten Rechte zu schützen, dann ist die im Raum stehende Frage gewiss rein rhetorischer Natur.
Insgesamt ließe sich eine nicht immer objektive Berichterstattung also noch irgendwie erklären. Der endgültige Vertrauensbruch mit den sogenannten Leitmedien ergibt sich jedoch aus ihrer Aufgabe heraus. Leitmedien. Es gibt also etwas zu leiten. In jeder Konstellation sollte Leiten ein Privileg sein.
Diesem Privileg folgt eine Verantwortung, insbesondere wenn eine Deutungshoheit damit einhergeht. Man sollte eine gewisse Konstruktivität erwarten dürfen. Alles, was davon stark abweicht, kann nur als kontrollierte Beeinflussung gemeint sein.
Schließlich stelle ich mir persönlich oft die Frage: Weshalb tauchen keine oder keiner der Sachkundigen und Intellektuellen auf den großen Bühnen staatlicher oder privater Rundfunksender auf, welche auch nur im Geringsten aus dem engen Meinungsspektrum ausbrechen könnten? Dabei könnte doch eigentlich eine gesunde Debatten- und Diskussionskultur erzeugt werden. Stattdessen unterbricht man neuerdings bei Interviews noch energischer die bereits etablierten Monoton-Redner, um dem Zuschauer die Illusion einer kritischen Berichterstattung zu präsentieren. In der Realität ist das Gegenteil der Fall: Redner und Interviewer sind sich bereits einig. Das Gespräch wird fast ausschließlich aufgezeichnet, wohl eher um Pannen zu vermeiden, als dass die Gäste vor 23 Uhr im Bett liegen. Jene, die wirklich mal eine alternative Meinung zu gewissen Themen hätten, werden bereits in der zweiten Liga, den Printmedien so denunziert, dass ein Aufstieg in die „Bild und Ton“-Champions League gar nicht erst zur Debatte steht. Wir müssen uns also eine weitere Frage stellen: Sagen uns die sogenannten Leitmedien, was wir denken oder denken wir nur das, was die sogenannten Leitmedien uns sagen, das wir zu denken haben.
Man kommt, wenn man alternative Medien liest und anschaut unweigerlich zu dem Fazit, dass die Konstruktivität der Leitmedien einer Fassade gleicht.
Zeitgleich mit dem zuvor genannten Vertrauensbruch erscheint ein Phänomen, welches sich als tiefdemokratisch herausstellt, da es partizipatorisch angelegt ist: Alternative Medien leben von der Qualität ihrer Berichterstattung. Ohne die - mitunter finanzielle - Unterstützung können diese Medien nicht lange produzieren. Diese Medien sind also daran interessiert, den tatsächlichen Zeitgeist möglichst genau zu spiegeln. Tatsächlich spürt man bei der alternativen Berichterstattung eine oftmals genauere, direktere Aussprache aller Gegebenheiten während bei den Leitmedien wie seinerzeit beim ehemals ostdeutschen Staatsfernsehen zwischen den Zeilen die eigentlichen Informationen abgeleitet werden müssen. Insofern ist es eine Art Oxymoron, wenn diejenigen Medien Qualitätsmedien genannt werden, die eine einzige Alternative auf allen ihnen zur Verfügung stehenden „Sprachrohren“ verkünden, zugleich diejenigen Medien, bei denen die Qualität ihrer Produkte einen überwältigenden Einfluss hat, als alternative Medien deklariert werden.
Ich komme zurück zu der Verantwortung von Medien im 21. Jahrhundert.
Seit Jahrzehnten braut sich hier, im Auge des Hurrikan, eine „Risikogesellschaft“ zusammen, die Ulrich Beck so nannte und beschrieb. Statt dass die bisherigen Leitmedien selbst Alternativen aufzeigen, müsste man sie wohl eher der Beihilfe anklagen, die Gesellschaft zunehmend in immer mehr Einzelteile zu zerlegen, damit eine gesunde Allianz für Humanität und Toleranz gar nicht erst entsteht. Schließlich sind die elitären Medien und ihre Nutznießer im Sinne einer Mehrklassengesellschaft nicht mit „Manpower“ gesegnet.
Trotzdem beanspruchen die sogenannten Leitmedien als Teil des Systems für sich die letzte Instanz der Deutungshoheit, was sich nach Abwägung aller Vor- und Nachteile eher als Gefahr für das Miteinander und Füreinander herausstellt. Dazu passt ein Formulierung aus „Ändere die Welt“ von Jean Ziegler:
„Jedes System der Selbstinterpretation ist vom Klasseninteresse durchdrungen und besetzt. Jede Ideologie insofern sie behauptet, die ´Wahrheit der Fakten´ auszusprechen, ist eine Lüge.“
Ob nun die Dämme im Finanzwesen brechen, doch ein Kriegsgrund fingiert wird oder am Ende die Natur ihren Tribut fordert, es kann zumeist nicht schnell genug gehen, dass unsere Familien, Freunde, Nachbarn und Kollegen das ebenso scharf erfassen und reagieren. Kommt es irgendwann dazu, so wären Leitmedien zu alternativen Medien ähnlich wie Nokia zu Apple. Bis dahin sollten wir dankbar für jedes alternative Medium sein, welches unseren Horizont erweitert. Und ansonsten so nüchtern bleiben wie einst Max Frisch in „Der Mensch erscheint im Holozän“, wenn er schreibt:
„Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen.“
Die Zunge eines Menschen ist gefährlicher als der Rachen eines Tigers
von Shabi Alonso
Und ja, es waren die Zungen, die ungeheure Zahlen junger Menschen dazu verleiteten,
Dann anderen das Leben zu nehmen und die Flaggen bis auf den Tod begleiteten.
Und ja, es waren die Zungen, weswegen unschuldige Frauen wegrannten,
Dennoch zu viele auf unzähligen Scheiterhaufen verbrannten.
Und ja, es waren die Zungen, die die Welt geradlinig beherrschten und bekundeten,
Dabei jegliche Fundamente kreisförmiger Physik belächelten und verwundeten.
Und ja, es waren die Zungen, die so vieles an Zuständen nicht formulierten,
Von denen einiges mit der Realität des Einzelnen längst korrelierte.
Und ja, es waren die Zungen, die selbstsüchtig Halbwahrheiten postulierten,
Massen sich verirrten, doch wehe denen, die wegen der Ungereimtheiten nachträglich protestierten.
Und ja, es waren die Zungen, die die Symbiose von Mensch und Natur sezierten,
Das Streben des Menschen nach Glückseligkeit pervertierten.
Und ja, es waren die Zungen, die den Algorithmen eine Beherrschung der Massen zugestand,
Da die Komplementation von Herz und Verstand ihnen zu sehr im Weg stand.
Es waren nun mal die Zungen,
die dem eigenen Sohn, der eigenen Tochter,
dann dem Nachbarn oder der Gemeinschaft über Dritte, einer ganzen Region,
erst über Boten, später über Postkutschen bis hin zu Eisenbahnen,
sodann über Telefone und Radios bis hin zu Fernsehern
und nunmehr einem weltumspannenden Kommunikationsnetz alles madig reden konnten,
was einer persönlichen und wahrhaftigen Menschwerdung zuträglich gewesen wäre.
Und ja, auch werden es Zungen sein, die alles Unmoralische beim Namen nennen, sei es im Tausch gegen den eigenen Atem.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.rubikon.news/artikel/gemeinsam-verandern-wir-die-welt
(2) https://www.rubikon.news/kolumnen/leser-aktion