Die Passion des Julian Assange

Der WikiLeaks-Gründer wird vorläufig nicht an die USA ausgeliefert — dies schließt jedoch nicht aus, dass man ihn langsam zu Tode quälen möchte.

Man muss an einem Menschen nicht die Todesstrafe vollstrecken, um ihn zu zerstören. Julian Assange ist nun schon für eine endlos lange Zeit nicht in Freiheit. Sein körperlicher und psychischer Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide. Ohne ein ordentliches Verfahren bekommen zu haben, fristet er sein Dasein in einem britischen Hochsicherheitstrakt. Dass der Journalist jetzt gegen seine Auslieferung an die USA Berufung einlegen darf, ist ein vergiftetes Geschenk, das ihn der Freiheit keinen Schritt näherbringt. Die Tatsache, dass die USA der britischen Justiz nicht den Verzicht auf die Todesstrafe zusichern wollten, kann auch Ausdruck einer Verzögerungstaktik sein, die die Folterhaft für den unschuldigen Whistleblower nur verlängert. Auch auf diese Weise ist der Absicht, ein abschreckendes Exempel zu statuieren, bestens gedient. Chris Hedges, der den Fall Assange seit Jahren hautnah verfolgt, sieht in dem jedem Gerechtigkeitsgefühl spottenden Schauprozess einen Racheakt.

Fünf Jahre lang haben britische Gerichte den Schauprozess gegen Julian Assange hinausgezogen. (Und) während sich sein körperlicher und psychischer Zustand weiterhin verschlechtert, wird ihm ein ordnungsgemäßes Verfahren weiterhin verweigert. Genau das ist der Sinn der Sache.

Die Staatsanwälte, die die USA repräsentieren, weigerten sich — sei es nun aus Absicht oder Inkompetenz — in einer zweitägigen Anhörung, der ich im Februar beiwohnte, Garantien dafür zu geben, dass Julian im Falle einer Auslieferung die Rechte aus dem Ersten Verfassungszusatz („First Amendment“) gewährt würden und man von der Todesstrafe absehe.

Die Unfähigkeit, diese Zusicherung zu geben, stellte praktisch sicher, dass der Oberste Gerichtshof, wie am Dienstag (26. März 2024) geschehen, Julians Anwälten erlauben würde, Berufung einzulegen. Erfolgte dies, weil man Zeit schinden wollte, um Julian erst nach den US-Präsidentschaftswahlen auszuliefern?

Handelt es sich um eine Verzögerungstaktik, um einen Deal auszuarbeiten? Julians Anwälte und die US-Staatsanwälte erörtern diese Möglichkeit. War es nachlässige juristische Arbeit? Oder ging es darum, Julian weiterhin in einem Hochsicherheitsgefängnis einzusperren, bis er psychisch und physisch zusammenbricht?

Sollte Julian ausgeliefert werden, wird er wegen des Verstoßes gegen den Espionage Act von 1917 in 17 Fällen vor Gericht stehen — wofür er mit 170 Jahren Haft rechnen müsste — sowie wegen einer anderen Anklage, „Verschwörung zum Eindringen in Computer“, mit weiteren 5 Jahren Haft. Das Gericht wird Julian zugestehen, gegen kleinere formale Punkte Berufung einzulegen — seine grundlegenden Rechte auf Meinungsäußerung müssen gewährleistet sein. Er darf auf Grund seiner Staatsangehörigkeit nicht diskriminiert werden und es darf ihm keine Todesstrafe drohen.

In einer erneuten Anhörung werden seine Anwälte nicht auf die Kriegsverbrechen und Korruption, die WikiLeaks enthüllt hat, eingehen können. Auch wird Julian keine Verteidigung im öffentlichen Interesse vorbringen können. Und keine weitere Anhörung wird sich mit der politischen Verfolgung eines Verlegers auseinandersetzen, der kein Verbrechen begangen hat.

Indem das Gericht von den USA Zusicherungen dafür erbat, dass Julian vor den US-Gerichten die Rechte aus dem Ersten Verfassungszusatz zugestanden werden und er keine Todesstrafe fürchten muss, bot es den USA einen einfachen Ausweg: „Gebt uns die Garantien und die Berufung wird abgelehnt.“

Es ist schwer nachvollziehbar, warum die USA das Gremium aus zwei Richtern— Victoria Sharp und Jeremy Johnson — ablehnen sollten, die ein 66-seitiges Urteil mit einem dreiseitigen Gerichtsbeschluss und einer vierseitigen Pressemitteilung veröffentlichten. (Einer der Richter hat früher für den MI6 und das Verteidigungsministerium, dessen Aktionen WikiLeaks enthüllt hat, gearbeitet. Anmerkung der Übersetzerin).

Die Anhörung im Februar war Julians letzte Möglichkeit, Berufung gegen den Auslieferungsentscheid der damaligen Innenministerin Priti Patel von 2022 sowie gegen zahlreiche Urteile der Bezirksrichterin Vanessa Baraitser von 2021 einzulegen.

Wenn Julian eine Berufung verweigert wird, kann er beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einen Dringlichkeitsantrag auf Aussetzung nach Vorschrift 39 stellen, der in „außergewöhnlichen Umständen“ und „nur bei unmittelbarem Risiko eines bleibenden Schadens“ gewährt wird. Das britische Gericht könnte jedoch Julians sofortige Auslieferung vor dem Vorliegen einer Anweisung nach Vorschrift 39 anordnen oder beschließen, ein Ersuchen des EGMR, Julians Fall dort zu verhandeln, zu ignorieren.

Julian befindet sich seit 15 Jahren in einem Rechtsstreit. Dieser begann 2010, als WikiLeaks geheime Militärakten aus den Kriegen im Irak und in Afghanistan veröffentlichte — darunter auch Aufnahmen, die zeigen, wie aus einem US-Hubschrauber heraus Zivilisten in Baghdad erschossen wurden. Unter diesen befanden sich auch zwei Reuters-Journalisten.

Julian flüchtete für sieben Jahre in die Botschaft Ecuadors in London, weil er die Auslieferung in die USA befürchtete. Im April 2019 verhaftete ihn die Metropolitan Police, die von der Botschaft die Erlaubnis erhalten hatte, in diese einzudringen und ihn festzunehmen. Seit fast fünf Jahren wird er in der HM Prison Belmarsh festgehalten, einem Hochsicherheitsgefängnis im Südosten Londons.

Das Verfahren gegen Julian hat die britische sowie die internationale Justiz zum Gespött gemacht.

Das spanische Security-Unternehmen UC Global hat der CIA Video-Aufnahmen von Treffen zwischen Julian und seinen Anwälten während seines Aufenthaltes dort zur Verfügung gestellt und damit massiv gegen das Anwaltsgeheimnis verstoßen.

Die ecuadorianische Regierung unter der Führung von Lenin Moreno hat gegen das Völkerrecht verstoßen, als sie Julians Asylstatus aufhob und der Polizei Eintritt in ihre Botschaft gewährte, damit Julian in einen wartenden Transporter verfrachtet werden konnte. Die Gerichte verweigern Julian bis heute den Status eines rechtmäßigen Journalisten und Verlegers. Die USA und Großbritannien haben Artikel 4 ihres Auslieferungsabkommens ignoriert, der eine Auslieferung aufgrund politischer Vergehen untersagt. Sigurdur Thordarson, Hauptzeuge für die USA und verurteilter Betrüger und Pädophiler, gab zu, die Anschuldigungen gegen Julian für Geld erfunden zu haben.

Julian, ein australischer Staatsbürger, wird nach dem US-Spionagegesetz angeklagt, obwohl er keine Spionage betrieben hat und sich nicht in den USA aufgehalten hatte, als ihm die geleakten Dokumente zugespielt wurden. Die britischen Gerichte erwägen eine Auslieferung — trotz der Pläne der CIA, Julian zu entführen und zu ermorden, wobei auch eine Schießerei auf den Straßen Londons unter Beteiligung der Londoner Metropolitan Police nicht ausgeschlossen wurde.

Julian wird ohne Gerichtsverfahren bis heute in einem Hochsicherheitsgefängnis in Isolationshaft gehalten, obwohl sein einziger formaler Verstoß gegen das Gesetz in der Verletzung seiner Kautionsauflagen bestand, nachdem er in der ecuadorianischen Botschaft Asyl erhalten hatte. Dies rechtfertigt nur ein Bußgeld.

Und schließlich hat Julian nicht wie Daniel Ellsberg die Dokumente geleakt. Er veröffentlichte Dokumente, die von der US-amerikanischen Whistleblowerin Chelsea Manning geleakt wurden.

Drei der neun Rechtsgründe wurden von den Richtern als mögliche Gründe für eine Berufung akzeptiert. Die übrigen sechs wurden abgelehnt. Das Gremium aus zwei Richtern lehnte auch den Antrag von Julians Anwälten auf Vorlage neuer Beweise ab.

Julians Anwaltsteam bat das Gericht, den Yahoo! News-Bericht in das Verfahren einzubringen. Dieser enthüllte nach der Veröffentlichung der als Vault-7 bekannten Dokumente, dass der damalige CIA-Direktor Mike Pompeo die Ermordung Julians erwog. Julians Anwälte hofften auch, eine Erklärung von Joshua Dratel, einem US-Anwalt, einzubringen, der sagte, die Verwendung der Begriffe „nichtstaatlicher feindlicher Nachrichtendienst“ und „feindlicher Kämpfer“ sollte eine Ermordung rechtlich absichern. Das dritte Beweisstück, das die Anwälte hofften, vorbringen zu können, war die Aussage eines spanischen Zeugen in dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, das derzeit in Spanien gegen UC Global läuft.

Die CIA ist der Motor hinter Julians Auslieferung. Vault 7 enthüllte Hacker-Tools, die es der CIA ermöglichen, auf unsere Telefone, Computer und Fernseher zuzugreifen und sie, selbst wenn ausgeschaltet, in Überwachungs- und Aufnahmegeräte zu verwandeln. Der Auslieferungsantrag enthält keine auf der Veröffentlichung der Vault-7-Dokumente beruhenden Anklagen, die US-Anklage erfolgte jedoch nach deren Veröffentlichung.

Die Richter Sharp und Johnson taten den Bericht in Yahoo! News als „eine weitere Meinungsäußerung von Journalisten zu Fragen, die vom Richter berücksichtigt wurden“ ab. Sie wiesen das Argument der Verteidigung zurück, dass Julians Auslieferung gegen Sektion 81 des britischen Auslieferungsgesetzes von 2003 verstößt, das Auslieferungen in Fällen der Verfolgung aufgrund politischer Ansichten verbietet. Auch die Argumente von Julians Anwälten, dass eine Auslieferung Julians gegen seinen Anspruch auf Schutz nach der Europäischen Menschenrechtskonvention — das Recht auf Leben, das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, das Recht auf ein freies Verfahren und der Schutz vor Strafe ohne Gesetz — verstoßen würde, lehnten die Richter ab.

Die USA bauten ihre Argumentation größtenteils auf den eidesstattlichen Erklärungen des US-Staatsanwalts Gordon D. Kromberg auf. Kromberg, stellvertretender Staatsanwalt im Eastern District von Virginia, erklärte, dass Julian als ausländischer Staatsangehöriger „zumindest dann, wenn es sich um Informationen zur nationalen Verteidigung handelt, keinen Anspruch auf Schutz durch den Ersten Verfassungszusatz hat“. Der King´s Counsel Ben Watson, der die britische Regierung während der zweitägigen Anhörung im Februar vertrat, räumte ein, dass Julian im Falle einer Schuldigsprechung nach dem Espionage Act zum Tode verurteilt werden könnte.

Die Richter forderten den US- und den britischen Außenminister dringend auf, bezüglich dieser drei Punkte dem britischen Gericht bis zum 16. April (2024) Zusicherungen zu geben. Werden diese Zusicherungen nicht gegeben, wird das Berufungsverfahren fortgesetzt.

Werden die Zusicherungen gegeben, haben die Anwälte beider Parteien eine Frist bis zum 30. April, um dem Gericht neue Schriftsätze einzureichen. Danach wird das Gericht am 20. Mai erneut tagen, um zu entscheiden, ob das Berufungsverfahren fortgesetzt werden kann.

Die Ziele dieses Dickens´schen Albtraumes bleiben dieselben: Julian aus dem öffentlichen Bewusstsein auslöschen. Ihn dämonisieren. Diejenigen kriminalisieren, die Regierungsverbrechen aufdecken. Julians Kreuzigung in Zeitlupe nutzen, um Journalisten — gleich, welcher Nationalität, egal, wo sie leben —zu warnen, dass sie entführt und in die USA ausgeliefert werden können. Den gerichtlichen Lynchmord jahrelang hinauszögern, bis Julian, der sich bereits in einer bedenklichen physischen und körperlichen Verfassung befindet, zerfällt.

Bei diesem Urteil geht es, wie in allen Urteilen in diesem Fall, nicht um Gerechtigkeit. Es geht um Rache.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „The Crucifixion of Julian Assange”. Er wurde von Gabriele Herb ehrenamtlich übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratteam lektoriert.