Die Pandemie-Ermächtigung
Die Anti-Corona-Maßnahmen werden die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe eskalieren und unsere Gesellschaft für immer verändern.
„Eine Gesellschaft, die im ständigen Ausnahmezustand lebt, kann keine freie Gesellschaft sein“, schrieb der italienische Philosoph Giorgio Agamben am 18. März dieses Jahres. Ob im strengen oder gelockerten Modus, wir leben auch zwei Monate danach immer noch in einem Ausnahmezustand, wer könnte es leugnen.
Wir wachen morgens auf mit den neuesten Zahlen der Corona-Toten und dem aktuellen Reproduktionswert R, die uns den ganzen Tag wie das Jesus-Kreuz in den bayrischen Amtsstuben an unsere Sterblichkeit gemahnen und noch in den letzten Nachrichten mit der Drohung einer zweiten Corona-Welle ins Bett entlassen. Wen könnte die ständige Todesdrohung unbeeindruckt lassen? Die Lage wird dadurch nicht entspannter, dass wir mit einem Tsunami an Daten, Fakten, Informationen, Meinungen, Einschätzungen und Prognosen überschwemmt werden, die mit der Zeit immer kontroverser übereinander herfallen und selbst die Deutungshoheit der letzten Instanz der Regierung, das RKI, in Frage stellen. Die Unsicherheit und Desorientierung über das, was da abläuft und was uns noch erwartet, haben zugenommen. Und dennoch sollen immer noch über 85 Prozent der Bevölkerung den Kurs der Regierung angemessen finden und ihm zustimmen.
Wie ist das zu erklären? Ist der Ausnahmezustand allmählich akzeptiert und zum Normalzustand geworden? Das Forsa-Institut hat Ende April mit einer Umfrage herausgefunden, dass nur 12 Prozent sich daran stören, dass Demonstrationsverbote gelten, die Gewerbefreiheit limitiert ist und überall im Bundesgebiet die Bewegungsfreiheit reduziert wurde. Der Chef des Instituts Prof. Manfred Günther erklärt das mit der Angst vor der Pandemie: „Diese Mischung aus Angst und Gehorsam führt dazu, dass man im Augenblick fast alles akzeptiert. Das ist vielleicht ein Gen der Deutschen.“ An der genetischen Disposition habe ich Zweifel, selbst wenn man in der deutschen Geschichte bestimmt einige Beispiele finden kann. Denn in den von der Pandemie betroffenen Nachbarstaaten finden wir ein ähnliches Maß an Gehorsam.
Wer unter der ständigen Drohung in Unsicherheit und Orientierungslosigkeit lebt, bekommt Angst. Er kann sich zurückziehen und alles akzeptieren, was ihm Sicherheit verspricht, oder revoltieren und protestieren. Die Medien widmen sich derzeit mehr den abartigen Erscheinungen des Protestes, die immer wieder in Krisen auftauchen und sogar Bischöfe und Kardinäle zu seltsamen Weltregierungs-Verschwörungen treiben. Weniger beachten sie die legitimen Gründe des Protests, die sich gegen wirklich massive Einschränkungen unserer Grundrechte richten.
Kurz nach der Warnung Agambens, am 25. März beschloss der Deutsche Bundestag mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes einen besonderen Ausnahmezustand, die sogenannte „epidemische Lage von nationaler Tragweite“. Sie übertrug dem Bundesgesundheitsminister nicht nur Entscheidungskompetenzen der Länder, sondern erteilte ihm auch bis dahin nicht bekannte Vollmachten. In dem Gesetz wird der Bundesgesundheitsminister „ermächtigt“ (Art. 5 Abs. 2), mit seinen Rechtsverordnungen von gesetzlichen Regelungen anderer Gesetze des Gesundheitswesens, zum Beispiel des Arzneimittelgesetzes, des Apothekengesetzes oder des Betäubungsmittelgesetzes, abzuweichen. Ein echtes Notverordnungsrecht, wie es das Grundgesetz (Art. 80) auf Grund der verheerenden Erfahrungen mit dem Notverordnungsrecht der letzten Reichskanzler 1933 in dieser Form nicht zulässt.
Der Bundestag hat sich mit diesem Gesetz praktisch aus der Regelung der Pandemie verabschiedet, sein Gesetzgebungsrecht auf das Bundesgesundheitsministerium übertragen und die Kontrolle der Exekutive aufgegeben. Bis März 2021 soll dieser Ausnahmezustand dauern, der schon bisher die Grundrechte wie mit einem Rasenmäher beschnitten hat. Dass dies alles gegen Geist und Substanz des Grundgesetzes sich richtet, wird allmählich auch von den Gerichten erkannt. Die Proteste gegen die Auswirkungen dieser Missachtung der Verfassung sollten daher ernst genommen werden.
Doch es gibt weitere Fragen, die offen sind. Warum hat diese Epidemie eine derartige Gewalt exekutiver Eingriffe in das gesamte politische, ökonomische und kulturelle Leben der Gesellschaft gebracht? Man braucht nicht weit in die Geschichte der Epidemien zurückzugehen, um noch ratloser zu werden. Die Asiatische Grippe 1957/58 tötete weltweit über eine Million Menschen, in der Bundesrepublik an die 30.000. In der Presse galt sie als „harmlos“, als „saisonbedingte Erscheinung“. Es gab zwar etliche Engpässe in der Gesundheitsversorgung, aber das Bundesinnenministerium gab die Parole aus, die Epidemie sei „teilweise in der Öffentlichkeit dramatisiert worden“.
Zehn Jahre später folgte die Honkong-Grippe 1968/69 mit weltweit an die zwei Millionen Toten und etwa 40.000 in der Bundesrepublik. Die Auswirkungen waren sehr viel gravierender, aber sie wurden von Politik und Medien heruntergespielt, die Studentenbewegung beherrschte die Medien. Und schließlich die Grippewelle 2017/18. Sie war heftig, geschätzte 25.000 Menschen starben in Deutschland. Aber Grundrechte und Verfassung blieben unangetastet, um die Grippe zu überwinden.
Waren vielleicht diese horrenden Todeszahlen der Grund dafür, nun alles herunterzufahren und still zu legen, um Menschenleben zu retten? Das scheint zu gelingen, aber um welchen Preis? Was zählt das Schicksal von prognostizierten drei Millionen Arbeitslosen, über 10 Millionen in Kurzarbeit, die noch ungezählten Pleiten, das Leid zerbrochener Existenzen und die Sterberate auf Grund verschobener Operationen und mangelhafter Pflege? In den Supermärkten werden Telefonnummern ausgehängt für Kinder zum Schutz gegen häusliche Gewalt. Gab es keine Alternative, wie etwa doch in Schweden, von dem man hier nicht viel wissen will?
Wenn es darum geht, die zerbrochenen Produktionsketten wieder aufzubauen, „systemrelevante“ Unternehmen aus dem totalen Bankerott zu ziehen und die Opfer des Lockdowns vor dem sozialen Elend zu retten, werden gigantische Finanzmittel benötigt. Und es wird sich die Frage stellen, wer diesen wochenlangen Stillstand zu bezahlen hat, wenn jetzt schon klar ist, dass die Steuereinnahmen auf ein Rekordtief fallen werden.
Die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe werden sehr viel härter werden als zuvor, und die vielgepriesene Solidarität im Kleinen wird sich in eine gnadenlose Konkurrenz um die verbliebenen Mittel verwandeln. Wird Hand angelegt an den Sozialhaushalt und die beschlossene Grundrente verschoben, oder gibt es eine Vermögens- und Reichensteuer? Wird endlich Abstand genommen von dem unsinnigen 2 Prozent-Ziel für den Rüstungshaushalt und eine Umverteilung zu den chronisch unterversorgten Haushalten des Bildungs- und Gesundheitssystems eingeleitet?
Es wird viel von den positiven Chancen aus der Krise geredet. Es geht nicht um den an sich fälligen Abschied vom Kapitalismus, sondern zum Beispiel um den Umbau und die Herauslösung der Krankenhäuser aus den Fesseln des Renditesystems. Sie haben sich der Krise nicht gewachsen gezeigt. Obwohl dem Bundestag 2013 eine Risikoanalyse für eine Pandemie wie eine Blaupause zur jetzigen vorlag, wurde nichts unternommen. Stattdessen wurden die harten Restriktionen mit dem Schutz vor der Überforderung der Kliniken begründet. Schutzmasken und Atemgeräte sind die kleineren Probleme. Die Verstärkung des Personals, statt Helden-Boni anständige Gehälter und Arbeitsbedingungen, darum geht es. Bildung und Gesundheit gehören als Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand. Wäre nur das zu erreichen, könnte man von Chancen der Krise reden.