Die Ossi-Verachtung
Rubikon-Herausgeber Jens Wernicke widerspricht der Analyse von Götz Eisenberg zum „autoritären Charakter“ im Osten der Republik.
Nun ja, ich biete jedem Autor und jeder Autorin im Rubikon stets aufs Neue an: „Nein, wir zensieren Menschen mit anderen Positionen nicht, wir diskutieren Dinge aus, vorausgesetzt, sie werden in guter Absicht vorgetragen und sind von humanistischem Geiste beseelt. Wenn Dir also etwas nicht gefällt, dann spar Dir bitte den ‚Das, was der da denkt, ist unpublizierbar, schmeißt den sofort raus!‘-Spruch, sondern schreibe das auf, was Du meinst, und wir veröffentlichen es als Replik. So arbeiten wir hier. Von Demokratie nicht nur reden, sondern sie auch leben und vorleben, bei aller Kraft, die das jeden von uns immer wieder einmal kosten mag.“ Dieses Recht nehme ich mir nun auch selbst einmal heraus – denn insbesondere ein Artikel unserer Samstags-Ausgabe zu den Machenschaften der AfD hat mich wirklich geärgert. Und zwar derjenige vom von mir hoch geschätzten Götz Eisenberg, dessen Arbeiten wichtig und in aller Regel über die Maßen klug und geistreich sind.
Ich will meine Kritik versuchen, in kurzen Worten zusammenzufassen; und ich sage dazu:
„Ja, ich bin Ossi – und genau in dem Alter, über das Götz Eisenberg hier weitgehend schreibt“.
In aller Kürze:
Erstens: Was mir immer wieder auffällt, ist, wie sich „gute Menschen“, die sich selbst leider viel zu oft als „besondere Menschen“ verstehen, meinen, gegen jede Form von Rassismus, Stereotypen und Gruppendenken vorzugehen – und dabei doch genau diese drei Dinge viel zu oft reproduzieren, ohne dies auch nur zu merken. Da erlebe ich oft eine Art „Theorie-und-Praxis-Phänomen“, das dazu führt, dass für das vermeintlich Gute doch die staubigen Denkgebäude derer, die man zu bekämpfen vorgibt, benutzt werden.
Das ist kein inhaltliches Argument, aber es fällt mir immer häufiger auf: Götz Eisenberg ist gegen „Schubladendenken“, das Menschen pauschal über einen Kamm schert, sich aber zugleich nicht zu schade, „Studien“ der einen oder anderen Herrschaftswissenschaften auszukramen, um dann den „archetypischen Ostdeutschen“ auf dem Reißbrett zu entwerfen.
Ich finde das unredlich – und keine der genannten Studien wirft auch nur im Ansatz ein Licht auf die eingeschränkte Perspektive des Herangehens, die gar nicht erst gestellten Fragen sowie die Parteilichkeit der Interpretation der Ergebnisse, die in aller Regel, natürlich macht- wie stereotypenkonform, gleich mitgeliefert wird.
Zweitens: Ich bin der Meinung, dass Wissenschaft eben bedeutet – wirkliche Wissenschaft es bedeuten würde –, nicht vorgefertigte Auffassungen einfach weiter zu bestätigen, sondern an deren Ende und in deren Brüchen, dort also, wo der Erklärungsansatz der Herrschenden in seiner Blindheit und Pauschalität scheitert, die wirklichen, die eigentlich wichtigen Fragen zu stellen. Das eine ist, wenn ich so sagen darf, für mich „intellektuelle Eitelkeit“, das andere Neugier, die mit Ergebnisoffenheit einhergeht und einhergehen muss.
Nur letztere bringt uns dabei einander wirklich näher und gemeinsam weiter voran: Will ich recht haben oder die Dinge und meine Mitmenschen wirklich verstehen? Bin ich offen für Neues oder bestätige mir nur selbst, was ich ohnehin zu denken beabsichtigt hatte und immer schon dachte? Denke ich auch meinen eigenen „Schatten“ mit oder projiziere diesen, „mein Böses“, einfach auf die anderen?
In diesem Sinne muss ich feststellen, dass im gesamten Artikel von Götz Eisenberg das für mich Entscheidendste vollkommen ausgeblendet, die wichtigste aller Fragen nicht einmal angedeutet wird: Wenn denn, wie Götz Eisenberg behauptet, die Sozialisation „in der DDR“ quasi „zu Zwangsresultaten“ und an deren Ende zu einem mehrheitlich „autoritären Charakter“ geführt hätte – wieso um alles in der Welt existieren dann „Ossis“ wie Susan Bonath, ich und viele andere mehr, für die keine dieser Analysen in der vorgetragenen Form auch nur im Ansatz Gültigkeit erlangt?
Diese Frage zu beantworten wäre Aufgabe kritischer Intellektueller, weil sie eben nicht neuen Staub auf die Vergangenheit packte, sondern Veränderung denkbar machen würde.
Drittens: Meine tiefste Kritik, das, was meine Gefühle in Wallung brachte, am Artikel von Götz Eisenberg – und ein wenig auch an dem meiner Freundin Susan Bonath, deren Analyse zum Thema ich jedoch weitgehend teile – ist aber eine ganz andere, schwerwiegende: Warum so viel „intellektueller Popanz“ um eine so banale Wahrheit, die beide Autoren offenbar weder sehen, noch auszusprechen wagen:
- Den Westdeutschen wurde nach 1945 viel zugemutet, aber stets auch das Märchen von der sozialen Marktwirtschaft und dem gerechten Kapitalismus verkauft, und der Mythos der individuellen Freiheit konnte daher lange ungebrochen fortbestehen – bis mit Schröder und Fischer nicht mehr nur wieder Krieg von deutschem Boden ausging, sondern auch das größte Sozialabbauprogramm nach 1945 exekutiert wurde. Auch hier gibt es mehr und mehr Verwerfungen, sitzt die Hoffnung auf „eine gerechte Ausbeutung“ vielen aber in den Knochen, haben sie eine vermeintlich solche doch über Jahre erlebt und können schwer verstehen, dass dies wohl nur eine „historische Ausnahme“ – auch und vor allem aufgrund der Ost-West-Konkurrenz sowie des Gleichgewichts des Schreckens – gewesen sein soll.
- Der Ostdeutsche, gehen wir einmal von einer Art „kollektiver Erfahrung“ im Sinne eines „kollektiven Gedächtnisses“ aus, hat etwas ganz anderes erlebt: Wir wurden in der DDR zu Objekten gemacht, die kaum irgendetwas an ihrer Umwelt selbst zu beeinflussen vermochten; und wir wurden nach der „Wende gleich vom nächsten System verarmt und wieder nur zu Objekten degradiert. Eben genau die von Götz Eisenberg zitierten „Ossis um die 50“ haben allesamt den Zweiten Weltkrieg nicht erlebt, gleichwohl aber Unterdrückung in zwei Staaten, die wirklich manifest gewesen ist. Und zudem im ersten dieser beiden Staaten eine Unterdrückung, die man ihnen als „ganz besonders links“ verkauft hat. Ihre Erfahrung lautet: Egal welches System, wir werden immer belogen, verraten und verkauft. Und wir wurden eben schon von den vermeintlich „linksten Linken“ behandelt wie Dreck – und durften dann, nach der Wende, erleben, wie SPD und Grüne Kriege und Sozialabbau forcierten und selbst die sogenannte Linkspartei in Berlin zuerst die Armen im Stich ließ, dann die halbe Stadt zugrunde richtete und schließlich den Reichen und Mächtigen zum Verkauf feilbot — und am Ende sogar das staatliche Schulwesen verscherbelte.
Lieber Götz Eisenberg, liebe Susan Bonath, was hier helfen würde, um „den Ossi“, den es, wie gesagt gar nicht gibt, zu verstehen, wären sowohl Demut als auch harte Selbstkritik am eigenen politischen Milieu. Sowie vor allem das, was Rubikon-Autor Jens Lehrich in folgende Worte gefasst hat:
„Wir brauchen Empathie da, wo es weh tut — alles andere ist keine Empathie“.
Wenn Sie, lieber Götz Eisenberg, doch Freund der Frankfurter Schule und Kritischen Theorie sind, dann verstehen Sie vielleicht, was ich meine, wenn ich sage: Ihre Analyse ist eine der „kalten Vernunft“, die laut Bloch die Welt kaum besser zu machen vermag, da ihr die Liebe, das Mitgefühl und wirkliches Verständnis abgehen. Das Werk Ihrer Schule zum Thema lautet „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“ und wurde von Max Horkheimer verfasst.
Worauf will ich hinaus? Darauf, dass es eigentlich alles andere als schwer sein sollte, die „Volksseele“ der „Ostdeutschen“ ein wenig respektvoller zu interpretieren, anstatt sich erzieherisch und mit erhobenem Zeigefinger moralisch über sie zu erheben.
Massenpsychologische Prozesse mögen uns politisch oft nicht gefallen, doch ist auch die „Psychologie der Massen“ eine, die stets Gründe für ihr handeln kennt, die als solche zu sehen und anzuerkennen sind, wenn man in anschließender Analyse überhaupt einen Beitrag zu wirklichem Verstehen und zukunftweisender Veränderung leisten will.
Konkret: Da der heute 50-jährige Ossi sein Leben lang von nunmehr zwei verschiedenen Staaten verarmt, unterdrückt und entmündigt wurde – und da er sehr genau erlebt hat, dass ihn CDU, FDP, SPD, Grüne und auch Linke ein ums andere Mal im Kern seiner Interessenlagen verraten haben, und da „Linke“ in seiner Erfahrung sowieso die sind, die im Zweifel eine Mauer bauen und seine Tochter oder Schwester abknallen, wenn diese sich nach – wie moralisch oder politisch vermeintlich falsch das auch immer sein mag – mehr wirtschaftlicher oder politischer Freiheit sehnt, meine Güte, was sollte da massenpsychologisch auch anderes am Ende rauskommen als:
„Nun gut, alle haben mich von vorne bis hinten verarscht, außer die Rechtspopulisten, die Nazis, die kenne ich nicht, die waren zu Lebzeiten noch nicht am Zug; wahrscheinlich lügen die auch, aber es ist einen Versuch wert, beim nächsten Mal diese zu wählen. Vielleicht tun die ja was gegen Hartz IV und all den anderen Scheiß? Die Linken tun ja angeblich seit fast 20 Jahren was dagegen — angekommen ist bei mir davon noch nichts.“
Dieser Gedanke ist rudimentär vernünftig und aus dem kollektiven Erleben eines wiederholt verratenen „Volkes“ sehr wohl verständlich.
Dass dieser Gedanke ebenfalls ein Betrug ist und wir ohne soziale Kämpfe von unten gegen oben in diesem Land gar nichts mehr zum Besseren verändern werden – das ist diesen Menschen noch zu vermitteln. Zuhören werden sie allerdings niemandem, der von Beginn an so auftritt, dass bei ihnen nur ankommen kann:
„Ihr seid ja eh ein wenig dumm und qua Sozialisationszwang geborene Nazis.“
Und, das noch zum Schluss: Diese ganze Debatte mit „rechts und links“ ist inzwischen fraglich, in Zeiten, in denen die CDU teils eher noch für Sozialpolitik steht, als die Linke dies tut. Wichtiger aber: Diese klassische Projektion der eigenen Probleme auf „den Ossi“ ist auch eine wunderbare Leistung, die der eigenen Entlastung und Verdrängung dient:
„Hinter der Neigung, die Ursachen des Rechtsextremismus im Osten zu verorten, verbirgt sich wahrscheinlich ein gerütteltes Maß an unbewältigter Vergangenheit.“
Oder meinen Sie wirklich, „die 68er“ seien alles Gutmenschen gewesen und diese Revolution von Sinn, Verstand und Liebe getragen gewesen? Puh, da wären Sie ja wirklich Abkömmling eines „ganz besonderen Volkes“; was ich, zu meinem Bedauern, in keiner Weise zu glauben vermag.
Und haben Sie eigentlich einmal mit der oberen Mittelschicht zu Mittag gegessen in den letzten Jahren? Ist Ihnen bei diesen Gesprächen, wohl gemerkt „mit Westdeutschen“, der tief verwurzelte Hass gegen Arme, Schwache und Kranke entgangen, der sich nur noch schwer zu tarnen vermag?
Wieso eigentlich sind „Ossis“ „Nazis“, wenn sie AfD wählen, diejenigen aber, die nichts gegen Euthanasie oder Sozialeugenik hätten und Arme gern verhungern ließen, jedoch aus dem Westen kommen und in aller Regel Schlips tragen – wieso diese nicht? Lassen Sie mich raten: Zu deren „rechten Einstellungen“ stand in den von Ihnen zitierten Studien nichts, da ging es nur um den „Habitus im Osten“ und die Gefahr, die insbesondere von „kleinen Leuten“ ausgeht.
Und warum sind Ökonomen, die gezielt die Ideologie der Massenverarmung als Wissenschaft ausgeben, eigentlich keine „Rechten“? Menschenfeinde sind sie allemal.
Wo Linkssein stets auf Neue meint, empathie- und beziehungslos zu agieren, über andere moralisch zu urteilen und zu richten – da ist es an der Zeit, kein Linker mehr zu sein; kein Linker dieser Gattung jedenfalls.
Vielmehr ist es an der Zeit, uns einmal an die eigene Nase zu fassen:
Wo sind wir, wir alle, auch wir Linken, latent oder offen autoritär, vernunftfeindlich, nicht mehr offen für Neues, nicht mehr im Besitz von Empathie? Wo verurteilen wir andere, eben weil wir es können und die intellektuellen Waffen hierzu von jenen bekommen haben, gegen die wir sie primär einsetzen sollten?
Und genau dort, an diesem Punkt und hinter dieser Selbstreflexion verschwinden die Konzepte von falscher, weil bedingungsloser Liebe zum eigenen Milieu und werden wir überhaupt erst offen dafür, uns als Mensch unter Menschen lebendig zu erfahren, nicht als „Linker“ oder „Rechter“, der all seine Unterdrückungserfahrung auf das jeweils andere politische Spektrum projiziert – und damit nur das alte, verlogene Märchen weitertradiert, das da behauptet:
Der Faschismus käme von unten, von den einfachen Menschen, die ihn hervorbrächten. Das kam er noch nie.
Johannes Groß, dem einstigen Chefredakteur von „Capital“, wird diesbezüglich nachgesagt, bereits Anfang der 1990er Jahre die politische Marschrichtung der westdeutschen Machteliten, denen der sogenannte Kommunismus nun nicht mehr im Wege stand, in klare Worte gefasst zu haben:
„Nach dem Scheitern des Kommunismus und der anscheinend wachsenden Funktionsschwäche der traditionellen Demokratien bleibt der Faschismus eine der Möglichkeiten der Politik.“
Unsere stärkste Waffe im Kampf gegen den Faschismus ist und bleibt daher unsere Solidarität mit anderen Menschen, egal, welcher Hautfarbe und Herkunft und welchen Geschlechtes sie sind. Und egal auch, welcher politischen Gesinnung sie den Eid geleistet haben; dafür können sie wenig bis nichts.
Das heißt, wohl gemerkt, nicht, dass das, was andere tun, richtig sein muss, nur müssen wir die Sphären trennen: Ihr Handeln erfordert Kritik, ihr Menschsein jedoch verlangt unseren Respekt.
Wer das nicht versteht, treibt immer weitere Teile der Bevölkerung im Land mit seiner beziehungslosen Moral von oben herab den Rechten in die Hände, die tun, wozu sie gerufen wurden:
Den Klassenkrieg gegen alle Armen — auch die rechten — auf die nächste Stufe heben.
Weiterführende Literatur:
- Harald Werner: „Zweifel am ‚ostdeutschen‘ Rechtsextremismus“
- Wolfgang Engler: „Die Ostdeutschen und die Demokratie“