Die offene Weite

Die Identifikation mit bestimmten Eigenschaften und weltanschaulichen Positionen hält uns in einer Art Egotunnel gefangen. Die Lösung kann nur aus einem Bewusstseinsraum oberhalb widerstreitender Perspektiven kommen. Teil 2 von 2.

„Ich bin dies. Ich bin das. Jenes bin ich nicht. Du bist anders und musst deshalb bekämpft werden.“ Alles Elend, das aus dem Streit der Meinungen herrührt, beginnt mit Identifikation. Der Mensch erkennt bestimmte Eigenschaften und eine bestimmte Weltsicht als seine „eigene“ an. Jenseits dieser oft engen Umzäunung des „Eigenen“ liegt die unübersehbare Weite des „Anderen“. Dieses wird oft abgelehnt oder gar aggressiv bekämpft — das Ergebnis ist gesellschaftliche Spaltung, aber auch Zerrissenheit, die das Individuum in sich selbst wahrnimmt. Wir haben gesehen, dass Streit und Gewalt oft aus geistiger Enge kommen. Aus dieser heraus werden Narrative konstruiert, die fortan als „Wahrheit“ gelten. Wer diese nicht anerkennt, gilt als „Feind“. Gut und Böse werden durch die größere oder geringere Nähe zum Eigenen definiert. Die Weltwahrnehmung ist somit fast immer perspektivisch verzerrt. Der Autor, erfahrener Psychotherapeut und ehemaliger Leiter der Klinik Heiligenfeld, erklärt hier, dass Heilung — individuell wie gesellschaftlich — aus der Umkehrung der üblichen destruktiven Muster erwachsen kann. Identifikation kann sich in Desidentifizierung wandeln, die Konstruktion von Sinn in Dekonstruktion, die Überbetonung der eigenen Perspektive in eine aperspektivische Sichtweise. Wir gelangen so in einen Bewusstseinsraum von überwältigender Freiheit und Weite, der all die Eitelkeiten, Rechthabereien und weltanschaulichen Scharmützel in heilsamer Weise zu transzendieren versteht. Im ersten Teil dieses Artikels, der ursprünglich als Vortrag konzipiert war, skizziert der Autor begrenzende Geisteshaltungen, die es zu überwinden gilt. Die eingestreuten Gedichte stammen von Uta Galuska.

Offenheit

Wählen Sie einen Weg ins Offen-Sein:

die Aperspektivität zu vergegenwärtigen, den inneren Ort jenseits der Perspektiven

oder sich zu desidentifizieren von ihrem Bezug zu sich und den Dingen

oder alle Konzepte, die Sie gerade beschäftigen, zu dekonstruieren

und spüren Sie, was dann ist —

einfache Sinneserfahrungen, wie Sie sie körperlich empfinden,

was Sie sehen (wenn es zu sehr zu Konzepten von Objekten führt, schließen Sie die Augen)

Gedanken fließen vorbei, ohne dass Sie sie festhalten oder verfolgen.

Lediglich was Sie hören, ist eine Perspektive, aus der ich Sie einlade, einfach in die Offenheit hinein zu spüren:

wie ist Ihre Seele, Ihr Geist oder Ihr Bewusstsein (welche dieser Metaphern Ihnen am nächsten ist) in der Offenheit anwesend:

Still/in Stille, leer/in Leere, frei/in Freiheit, verbunden/in Verbundenheit, wach, achtsam/in reiner Bewusstheit oder noch anders.

Nehmen Sie sich etwas Zeit, in diesen Qualitäten zu verweilen.

Und probieren Sie einmal aus, aus der Tiefe dieses offenen Gewahrseins hinzuspüren zu etwas für Sie Wesentlichem im Leben oder im Augenblick, ohne sich darin zu verlieren oder zu verengen.

Wie erscheint es? Wie erklingt es? Gibt es eine Metapher, die dazu passt, ein Bild, ein Satz, eine Gedichtzeile?

Und gibt es vielleicht einen Impuls dazu, der offen ist, Offenheit in sich trägt?

Gedicht: Geh durch den Ursprung

Geh durch den Ursprung,
Leben ist Übergang.
Geh durch die Welt,
Leben ist Offenheit.
Geh durch dein Herz,
Leben ist Liebe.
Geh durch den Ursprung,
Liebe ist Überallwerden.

Innehalten

Leider neigen die Gewohnheiten unserer Bewusstseinsprozesse dazu, recht schnell aus der Offenheit heraus etwas zu rekonstruieren und eine vielleicht neue Perspektive einzunehmen. Aber damit verpassen wir das Potential der Offenheit. Wir können lernen, in der Offenheit inne zu halten und zu verweilen. Ich möchte Ihnen gerne beschreiben, was unser Bewusstsein hier vergegenwärtigen könnte.

Die Erfahrung des Offen-Seins kann sich vertiefen und erweitern, bis nur noch pure Offenheit da ist, reine Transparenz, eine Art Null-Bewusstsein oder nichts, einfach nur offen.

Es ist eine Art Ursprünglichkeit, Unberührtheit, rein, pur, frei, auch wenn sie berührt wird. Es ist ein Seins-gefühl des Nichtseins, Freiseins, Offenseins, Klarseins, Leerseins, in Frieden Seins.

Es ist durchscheinend für das Geheimnisvolle einer uns weit überschreitenden Intelligenz, ein Dunkel, das leuchtet, ein Nichts, das strahlt. Es ist eine Intelligenz, die alles gestaltet und so sein lässt, wie es ist. Sie ist nicht durch unser Denken zu erfassen, jedoch in der Offenheit spürbar und erahnbar. Sie bringt diesen und jeden Moment hervor und lässt uns leben und sprechen und hier gerade zusammen sein. Und wir können mit so viel Bewusstheit wie möglich die Größe des Lebens erfahren und uns davon berühren und uns davon beeindrucken lassen. Spiritualität bedeutet für mich, sich auf das Leben einzulassen, sich ihm anzuvertrauen, seine Größe zu spüren und der Intelligenz zu folgen, die sich darin zeigt. So leben wir unser eigenes persönliches Leben als Teil dieses gewaltigen kosmischen Geschehens, das uns lebt.

Und einen Zugang dazu finden wir im Innehalten und Vergegenwärtigen des Ursprungs, der immer ursprünglich bleibt, auch wenn sich alles füllt oder entfaltet. Hier können wir allem begegnen, ohne dass es eingeengt oder spezifisch ist.

Zunächst einmal können wir das lebendige Strömen spüren, das Leben in seiner Dynamik, denn es ist in Bewegung. Jeder Moment entwickelt und verändert sich aus sich heraus. Und diese Bewegung aus allen Potentialen des Seins heraus können wir spüren.

Wir können sanft hineinlauschen und hineinspüren in das Leben und die Welt. Es ist eine feine Rezeptivität, sich orientierend, bewegend, ahnend. Hier sind die Betrachtungen und Impulse noch nicht so deutlich, noch keimend, wie Wellen auf einer Wasseroberfläche. Und sie besitzen eine eigene Schönheit des noch nicht Verwirklichten.

Wie ist es, das Nachklingende verklingen zu lassen, das Schöne und Schreckliche verklingen zu lassen und mit offenem Herzen und offenem Geist durchs Leben zu gehen, gütig, freundlich, neugierig, kreativ, ohne feste Ziele, jedoch orientiert in der Tiefe unserer Seele oder unseres Bewusstseins?

Gedicht: Übergänge, Membrane, Leere

Übergänge, Membrane, Leere
von Nichtmehr und Nochnicht,
im Zwischen von allem
liegt ein wesentliches Geheimnis.
Im Zwischen ist wie vor dem Quell
des Schöpferischen.
Im Zwischen ist alles verbunden.
Ich spiele darin.
Ich bin die Unsichtbarkeit darin
und doch ganz Erscheinung.
Und hier, in genau diesem Zwischen,
fühle ich mich vertraut,
finde ich jene Beseeltheit,
die sich an die Dinge legt,
sobald ich sie berühre,
und erfahre ich durch dieses beseelte Verbundensein
die unendliche und ewige Offenheit
für Danken und Lieben.

Neukonstruktion

Ich möchte jetzt nicht über den Sprung in die Sterne sprechen, dass Offenheit ein Sternentor sein könnte in andere parallele Universen, wer weiß.

Sondern ich möchte über das Leben sprechen, zunächst einmal das Zwischenleben.

Offenheit ermöglicht es, zwischen zu sein, zwischen Vergangenheit und Zukunft, Geburt und Tod, gegenwärtig.

Offenheit ermöglicht, Wandel zu spüren, wie er sich entfaltet, in uns und um uns herum.

Und mit Fragen zu leben, eher als mit Antworten: Wie wollen wir leben? In welcher Welt wollen wir leben? Was ist unser Wesen als Menschen? Gibt es Antworten, die passen? Zum Beispiel: Leben lieben, in Würde leben, in Freiheit leben, weise leben, beseelt leben? Welches sind überhaupt gute oder angemessene Fragen zum Leben?

Welche Fragen stellt ein vergegenwärtigtes Leben an sich selbst? Und was scheint auf, wenn das Leben keine Fragen mehr stellt? Vielleicht blüht es in seiner Selbst-Vergegenwärtigung, staunt strahlend in lebendiger Natürlichkeit, einverstanden mit Entstehen und Vergehen.

Und natürlich rekonstruieren wir unsere Erfahrungen. Wir beschreiben — so wie ich gerade —, was wir erleben, was wir vielleicht tiefer oder anders verstehen. Wenn wir wirklich tief unsere Konstruktionen losgelassen haben und in dieser Offenheit verweilen können, dann spüren wir, dass unsere üblichen Konstruktionen, unsere Sprechweisen und unsere Denkweisen nur eine Art von Beschreibung sind, die aber nur sehr schwach das beschreiben kann, was wir in diesem weiten Raum unseres Bewusstseins erleben.

In diesem Zwischenleben benötigen wir ein anderes Sprechen als unsere übliche bezeichnende und definierende Sprache. Es ist daher keine Rekonstruktion unserer Erfahrungen nach dem Durchgang durch die Offenheit, sondern eine Neukonstruktion, ein immer wieder neues und offenes lebendiges Leben, ein Leben in lebendiger Offenheit. Wenn wir in diesem Zwischen verweilen, können wir uns selbst und die Welt aus anderen Augen sehen.

Wir können all das Schicksalhafte unseres eigenen Lebens und das der anderen, all die Einbrüche, Schmerzen und Freuden sehen, demütig und dankbar, mit Mitgefühl, vielleicht sogar Humor. Und dass alles in diesem offenen Lebensstrom aufgehoben ist. Wir können uns beistehen, begleiten, verzeihen, mitfreuen.

Wir können aber auch neue Wege gehen voller Kreativität und Ästhetik, in neuer Verantwortlichkeit für unser Leben und bereit, dem Leben in seiner Größe und Tiefe unmittelbar zu begegnen, frei, vorurteilslos, ohne Konzepte und Ideologien. Im Grunde ist dies keine Konstruktion mehr, sondern ein Fügen, ein Weben, ein neues eher kunstvolles oder künstlerisches Gestalten.

Natürlich muss es auch nicht so sein. Worte sind in der Phase der Neukonstruktion oder des sich öffnenden Lebens eher Metaphern, Hinweise. Sprechen kann etwas in uns und im anderen berühren, wie Lyrik oder Tanz. Vielleicht ist es die Poesie des Lebens.

Leben in Offenheit

Wie kann es geschehen, in Offenheit zu leben? Zunächst ist es schwierig, sich nicht in alten Identifizierungen oder Konstruktionen zu verlieren. Es erfordert dann leider immer wieder Desidentifizierung, Dekonstruktion oder Aperspektivität. Und es ist herausfordernd, eine Weise und ein Sprechen zu finden, dass diesem offen-Sein entspricht.

In den letzten Jahren wurden selbst Worte von Dichtern konkretistisch politisiert. Sie wurden teilweise nicht als künstlerische Ausdrucksformen, sondern als politische Meinungen betrachtet und angegriffen. Denken wir nur an „Indianer, Neger, Zigeuner“ oder wie Rassismus-Vorwürfe gegenüber Karl May, Astrid Lindgren oder Michael Ende ausgeübt wurden. Hier bewegen wir uns in massiven gesellschaftlichen Konstruktionen und Ideologien, die viele Worte oder Darstellungsweisen zerstören wollen, also fundamentalistischen Charakter tragen.

Ein offenes Sprechen nutzt Metaphern, eine natürliche lebendige poetische Kraft des Dialogs, verankert in der Tiefe, bereit im Sprechen zu berühren, zu begegnen, auch zu konfrontieren, um etwas spürbar oder sichtbar zu machen, und sich auch berühren zu lassen, und sich verändern zu lassen.

Uta und ich haben versucht, in den letzten Jahren mit unseren Poesiemobil-Touren zu „Corona-Burnout und Corona-Resilienz“ und zum „Leben lieben“ und mit unserem wöchentlichen bis monatlichen „poetischen Blog Zwischenleben“ in einen künstlerischen Austausch zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandel zu treten. Dabei ist uns aufgefallen, wie schwierig, aber eben auch wichtig es ist, Haltungs-Journalismus, Erziehungs-Journalismus, Propaganda von links und von rechts, vom Mainstream und von Gegnern zu dekonstruieren. Die Wucht der wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit ist enorm und hat durch die modernen Medien massiv zugenommen. Ein offenes Herz, einen offenen Geist, aber auch die klare Konfrontationsfähigkeit eines Zen-Meisters zu entwickeln und zu bewahren, sind für mich notwendige Herausforderungen eines Lebens in Offenheit.

Wir können leider nicht immer poetisch durchs Leben tanzen, könnten dies aber immer mehr versuchen. Denn wie wir beim Perspektivwechsel immer mehr lernen, in die Aperspektivität zu gehen, so lernen wir immer mehr, in der Offenheit zu leben, indem wir die Konstruktionen betrachten, uns vielleicht sogar in ihnen verlieren, aber dann wieder auftauchen und die Lebendigkeit der inneren Freiheit genießen.

Einige Autoren, wie etwa Mike Kauschke, sprechen von einer poetischen Lebenskunst, die aus der liebenden und bejahenden Verbundenheit mit dem Leben schöpft und zu einem schön empfundenen Leben führt. Insofern ermöglicht die Offenheit, ein Künstler seines eigenen Lebens zu werden und vielleicht darin Erfüllung zu finden.

Indigene betrachten uns als Kinder der Erde, als Teil einer mehr-als-menschlichen Natur, nicht getrennt vom Netz des Lebens. Wir können ihr Denken, Sprechen und Spüren nur verstehen, wenn wir nicht in unserem üblichen Subjekt-Objekt-Denken gefangen sind, sondern in eine partizipative Denk- und Fühlweise eintreten und so ihre Weisheit besser vergegenwärtigen. Ehrfurcht vor dem Leben und die Würde des Lebens sind dann keine moralischen Imperative, sondern natürliche Gegebenheiten. Und vielleicht geht es am Ende darum, das Leben in Würde zu leben.

Wir gleiten intuitiv im Strom unseres Bewusstseins, im Fluss unseres Lebens. Es ist eine sich bewegende Offenheit, die nichts ausschließt, die berührt und berührt wird, die vergegenwärtigt, was auch immer geschieht, Schönheit und Schrecken. Und wir sind mitten drin in offenem Gewahrsein.

Und wir sind nicht allein. Wir sind verbunden miteinander und mit allem Leben, auch wenn uns der eine oder andere nicht gefällt und wir kein Ungeziefer mögen. Verbunden bleiben wir trotzdem, Leben inmitten von Leben.

Offenheit zu vergegenwärtigen bedeutet für mich, gemeinsam aufzubrechen für unsere Seele und unser Leben.

Gedicht: Inmitten

Inmitten von Steinen, Lehm und Sand.
Innehalten
Inmitten von Weltsein, Miteinander und Füreinander.
Innehalten
Inmitten von Leben, Liebe und Sterntalern.
Innehalten
Inmitten von Zauber, Wundern und Träumen.
Innehalten
Inmitten von Wirklichkeit, Teilhabe und Offenheit
halten wir inne.
Unendliches Jetzt
unseres gemeinsamen Lebens.
Inmitten
ist alles fließend eins.