Die neue Kunst

Der Journalist Eugen Zentner hat in einem Buch zusammengetragen, was seit 2020 auf den Bühnen und darüber hinaus gewachsen ist.

Corona war ein Einschnitt — nicht zuletzt bei dem, was wir hören, sehen und lesen, um den Alltag zu vergessen, Gleichgesinnte zu treffen, neu zu denken. Der Staat hat Kunst und Künstler in die Pflicht genommen und damit vielen ihre Götter geraubt. Hölderlin hat aber recht: Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Die Menschen, die sich seit Anfang 2020 fanden, haben eine neue Szene produziert — Spaß- und Liedermacher, Rocker und Poeten, Fotografen und schreibende Maler. Ein kleiner Verlag aus München setzt ihnen allen nun ein Denkmal und bietet damit zugleich Orientierung für all die, die noch nicht wissen, wem sie nun Augen, Ohren, Köpfe schenken sollen.

„The Great We Set“ läuft — zumindest im Netz und auf dem Buchmarkt. Walter van Rossum hat den Namen seines Manova-Talks in den Massel-Verlag geholt, dort 2023 unter dem Titel „Alternativen in Medien und Recht“ selbst den Aufschlag geliefert und gleich einen Utopie-Detektor von „Ulrich Gausmann folgen lassen, den ich vorab lesen und dann auf dem Cover feiern durfte. Gausmann zieht damit immer noch durchs Land, im Spätsommer gerade mit etlichen Stationen in Sachsen und Thüringen.

Titel Nummer drei ist etwas anders angelegt. Weniger Theorie, mehr Dokumentation. Eugen Zentner hat zusammentragen, was es so gibt an „Kunst und Kultur gegen den Strom“. Das passt, die Leser werden das ahnen, tatsächlich in ein Buch, obwohl Zentner weit ausholt und vom Kabarett über Musik, bildende Kunst und Literatur bis zu Festivals und Wettbewerben wie dem NuoVision Songcontest alles abdeckt, was man sich denken kann. Im Kapitel „Kabarett“ zum Beispiel gibt es Abschnitte über Uwe Steimle und Lisa Fitz, über Ludger K., Uli Masuth und Martin Großmann, über Franz Esser und Nikolai Binner.

Natürlich: Kein Autor sieht „alles“. Ich saß im Februar bei FairTalk neben Kay Ray. Selten so gelacht. Kay Ray hat mir erzählt, wie schwer es heute für jemanden ist, der gegen den Strom schwimmt und trotzdem jeden Abend auf einer Bühne stehen will und stehen muss, weil es im Wortsinn auch ums Überleben geht. Cancel-Attacken, Probleme bei der Abrechnung und überhaupt die Infrastruktur in einem Land, das es seinen Bürgern inzwischen schwer macht, einfach so von A nach B zu kommen. Damit meine ich gar nicht nur die Bahn, mit der Kay Ray schon lange abgeschlossen hat. Probieren Sie einfach die Hotels aus, die jenseits von Großstädten und Tourismus-Hotspots überlebt haben, in Helmstedt etwa oder in Kaltenkirchen. Reden Sie mit dem Personal und streichen Sie solche Orte schon jetzt aus Ihren Reiseplänen für die 2030er.

Zurück zum Buch von Eugen Zentner, das auch ohne Kay Ray in jede gut sortierte Bibliothek gehört. Wenn wir hier in ein paar Jahren nachschlagen, werden wir uns erinnern. An Jens Fischer Rodrian natürlich. An Yann Song King und Raymond Unger, die ich beide für Apolut interviewen durfte. An Tino Eisbrenner, Rudolph Bauer und Ralph Valenteano. Ich merke schon: Eigentlich müsste ich jeden Namen nennen, den Eugen Zentner würdigt, und dazu die wenigen, die mir darüber hinaus noch eingefallen sind.

Jeder war wichtig. Jeder der öffentlich Nein gesagt hat zu dem Wahnsinn — vor allem dann, wenn dahinter ein Name stand und damit zugleich eine gewisse Fallhöhe. Ohne solche Gegenstimmen ist es nicht weit bis zum Selbstzweifel. Vielleicht bin ich ja selbst der Geisterfahrer.

Politik und Medien, Wissenschaft und Justiz: okay. Ich muss hier nicht wiederholen, was alles schon geschrieben worden ist über Abhängigkeiten, Drehtüren, Filz. Aber die Kultur? War das nicht ein Ort der Freiheit und damit zugleich der Sehnsuchtsort all der Unangepassten, die keine Lust haben auf Büro, Chefs, Überstunden? Den Film habe ich früh abgeschrieben. Kostet einfach zu viel. Was in Hollywood Großinvestoren wie BlackRock und Vanguard sind (1), ist in Deutschland die Filmförderung. Jedes Jahr eine halbe Milliarde Euro. Für so viel Geld wollen Kapital und Politik eine Gegenleistung (2). Dass das auch im Theater gilt, war spätestens in den 2010er Jahren überall im deutschen Sprachraum zu spüren.

Ich war damals eine Art Junkie und bin manchen Regisseuren und meinen Lieblingsschauspielern hinterhergereist, nach Stuttgart, Berlin, Wien. Am besten in die Premiere, Reihe eins, und mit der Rezension vor den Kulturjournalisten im Netz. Das hat sich totgelaufen, als Leitartikel die Spielpläne eroberten und die Biologie in den Besetzungslisten wichtiger wurde als Talent, Ausbildung, Können. Im Februar 2020 war ich noch einmal in den Münchner Kammerspielen. „Dionysos Stadt“ von Christopher Rüping. Zehn Stunden, von 12 Uhr mittags bis weit in den Abend. Großartig. Ich dachte: ein guter Schlusspunkt.

Dann kam Corona und damit lange nichts. Wer diesen Text liest, wird das auch erlebt haben: Meine alten Helden sind gestorben, einer nach dem anderen. Manche waren in der Tagesschau zu sehen und andere auf Plakaten. Manche sind in Deckung geblieben oder nebulös, was auch nicht viel besser war.

Die Aktion #allesdichtmachen habe ich in einem Buch dokumentiert, zusammen mit Carsten Gansel, Daria Gordeeva und etlichen Mitautoren (3). Wir wollten Namen, Texte und Ideen genauso für die Nachwelt festhalten wie die Zäsur, die auf immer mit der Schauspielertruppe um Dietrich Brüggemann verbunden sein wird. Spätestens im April 2021 wusste jeder, was öffentlicher Widerspruch kostet.

Was rund um dieses Buch passiert ist, würde einen eigenen Text verdienen. Vielleicht machen wir uns bald an eine Neuausgabe, angeregt auch durch Eugen Zentner, der die neuen Helden porträtiert — Künstler, die das in Formen bringen, was das Milieu umtreibt, das in den letzten vier Jahren gewachsen ist. Um zusammenzubleiben, braucht es Personen und Stücke, in denen man sich finden und an denen man sich zugleich reiben kann. Es braucht Anlässe. Bei Eugen Zentner findet man das alles, von den Ausstellungen der Künstleragentur IAFF bis zur Literaturstunde im Kontrafunk, wo Zentner als Nachrichtenredakteur arbeitet. Sein Buch ist zugleich eine Werbung für den neuen Journalismus. Zentner, ein promovierter Literaturwissenschaftler, hat einst für die dpa geschrieben, dann die Seiten gewechselt, sich dabei aber nicht festlegen wollen auf „links“ oder „rechts“. Dieser Rundumblick tut dem Buch gut. Wie gesagt: „The Great We Set“ läuft.


Hier können Sie das Buch bestellen: Massel und Buchkomplizen