Die neue deutsche Angst
Solange wir uns nicht mit unseren kollektiven Traumata auseinandersetzen, werden wir immer wieder Feindbilder kreieren.
Der Nationalsozialismus ist in der deutschen Alltagsrhetorik so präsent, als sei seine Zeit erst gestern zu Ende gegangen. „Nazi“-Vorwürfe werden gegen Meinungsgegner bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit erhoben. Gegen den Ansturm des Bösen werden Brandmauern errichtet, deren Undurchlässigkeit Spitzenpolitiker tagaus, tagein beschwören. Was läuft schief in Deutschland? 80 Jahre selbstquälerischer „Aufarbeitung“ scheinen unser Leben nicht glücklicher, unsere Herzen nicht leichter gemacht zu haben. Noch immer hängt eine bleierne Schwere über dem Land. Die Autorin deutet das Phänomen auf der Basis ihrer therapeutischen Erfahrung als das Ergebnis eines kollektiven Traumas. Die transgenerational wirkenden Spätfolgen des Krieges sowie die Verwüstungen, die schwarze Pädagogik in vielen Seelen angerichtet hat, sind noch immer spürbar. Leider wählen die meisten Menschen als Mittel des Umgangs mit diesem schweren Erbe noch immer Verdrängung und Schuldzuweisung nach außen statt tiefergehender Auseinandersetzung, was wirkliche Heilung schwer macht. Die Brandmauer „gegen rechts“ steht insofern geradezu symbolisch für die aggressive Abwehr all dessen, was wir nicht wahrhaben wollen.
Deutschland hat gewählt. Die „Brandmauer“ steht, die AfD und ihre Wähler sind die „Feindbilder“ vieler Deutscher. Feindbilder helfen, den eigenen Feind im Inneren nicht zu erkennen. Wird der Feind ins Außen verlagert, kann er bekämpft werden — doch zu welchem Preis? Tausende gehen aus Angst vor einem neuen „Hitler-Deutschland“ auf die Straße, nicht gegen die NSDAP, sondern gegen die AfD. Björn Höcke wird als Nachfolger Hitlers stilisiert, und der Slogan „Nie wieder ist jetzt“ prangt auf unzähligen Demo-Plakaten. Das Hitler-Bärtchen erlebt eine neue Konjunktur und „verziert“ die Gesichter von Politikern auf Wahlplakaten.
Doch was ist los im „besten Deutschland aller Zeiten“? Der Begriff „Nazi“ wird schnell in den Raum geworfen, um diese Entwicklung zu erklären — aber trifft das wirklich den Kern?
Das Erbe der Angst
Ich bin 1960 geboren. Den Zweiten Weltkrieg habe ich nicht erlebt, aber seine Schatten begleiten mich. Die Erzählungen meiner Eltern und Großeltern, die Bilder aus den Schulbüchern, die Filme über Konzentrationslager — sie haben Spuren hinterlassen. Angst, die diffus bleibt, nicht wirklich greifbar, aber immer präsent.
Warum ist die Zeit des Nationalsozialismus mal wieder so präsent in den Köpfen vieler Menschen, als wäre sie gestern gewesen? Und warum fürchten sich so viele Menschen so sehr davor, dass sich die Geschichte wiederholen könnte?
Was unterscheidet den Nationalsozialismus vom Faschismus?
Der Nationalsozialismus war eine spezifisch deutsche Variante des Faschismus mit einem zentralen Unterschied: Dem Ziel der Vernichtung der Juden. Während Mussolinis Faschismus sich auf Staat und Nation konzentrierte, definierte der Nationalsozialismus Zugehörigkeit über ethnische Reinheit und betrieb systematische Vernichtungspolitik. Der Holocaust war kein universelles Merkmal des Faschismus, sondern spezifisch für den Nationalsozialismus. Andere faschistische Staaten verfolgten zwar politische Gegner, führten aber keine systematische Vernichtungspolitik gegen Juden, Roma und Menschen mit Behinderungen durch, die systematisch in Gaskammern ermordet wurden.
Adolf Hitler wurde zu einem weltweiten Dämon „aufgeblasen“, doch die eigentlichen Strukturen, die den Nationalsozialismus möglich machten, wurden nie wirklich durchdrungen und aufgearbeitet.
Eine echte Entnazifizierung hat nach 1945 nie stattgefunden. Stattdessen wurden viele ehemalige NSDAP-Mitglieder einfach in die Demokratie „integriert“ — und mit ihnen auch die Ideologien, die sie prägten.
Die Nazi-Pädagogik lebt weiter
Die meisten von uns sind in totalitären Strukturen aufgewachsen, die bereits im Elternhaus ihren Ursprung hatten. Eltern hatten die Macht und waren überzeugt, uns erziehen zu müssen, damit wir ihren Vorstellungen entsprachen. Auch das Schulsystem, das mit einem verpflichtenden Gebäudeanwesenheitszwang einhergeht, folgt diesen autoritären Prinzipien, denen wir uns anpassen mussten. Von klein auf haben wir gelernt, uns unterzuordnen und anzupassen — ein Muster, das bis heute fortbesteht. In diesem Kontext könnte der Begriff „minderjährig“ ebenso gut „minderwertig“ heißen.
Sobald wir erwachsen werden, fällt es uns oft schwer, die Gefühle aus unserer Kindheit bewusst zu erinnern. Wir haben uns daran gewöhnt, sie zu verdrängen oder uns in innere Welten zu flüchten — Welten, die wir dann mit der äußeren Realität verwechseln. Die Folge ist ein verzerrtes Wirklichkeitsbild, das uns daran hindert, autoritäre Strukturen als solche zu erkennen und zu hinterfragen. Besonders junge Menschen spüren diese Strukturen intuitiv und legen mit ihrem Verhalten unbewusst den Finger in unsere Wunden. Ihre Reaktionen konfrontieren uns mit dem, was wir selbst längst verdrängt haben. Deutschland ist ein kinderfeindliches Land — und die Coronakrise hat das auf drastische Weise sichtbar gemacht.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden bis in die 1970er Jahre Millionen Kinder in sogenannte Verschickungsheime (1) gebracht. Angeblich zur „Erholung“, in Wahrheit waren diese Heime durchzogen von Gewalt und Kontrolle. Johanna Haarers „Erziehungsleitfaden“ „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ diente über Jahrzehnte hinweg als Grundlage einer kinderfeindlichen Pädagogik, die auf Härte, Entbehrung und Gehorsam setzte. Ihre Grundsätze lebten in diesen Heimen weiter und wurden dort auf grausame Weise praktiziert. Statt Fürsorge erwarteten die Kinder emotionale Kälte, Isolation und systematische Unterdrückung.
Diese Heime waren ganzjährig belegt, und die massenhafte Verschickung von Kindern war nur durch ein weit verzweigtes System möglich: Krankenkassen, Rentenversicherungen, Wohlfahrtsverbände, kirchliche Organisationen und die Deutsche Bundesbahn arbeiteten dabei eng zusammen. Diese institutionelle Vernetzung zwischen medizinischen Fachkräften, staatlichen Stellen, Wohlfahrtsverbänden und Transportunternehmen bildete das Fundament für das System der Kinderverschickungen in der Nachkriegszeit.
Auch Jahrzehnte später zeigt sich, dass diese Nazi-Pädagogik immer noch in den Köpfen vieler Menschen verankert ist. Ein Beispiel dafür ist der Film „Elternschule“ (2), der 2019 in den Kinos lief. Er zeigt die Behandlungsmethoden einer Gelsenkirchener Kinderklinik, in der Kinder mit Ess- und Schlafstörungen durch extreme Machtausübung „therapiert“ wurden — eine erschreckende Fortführung der alten Erziehungsideologien.
Ein Jahr später wurde er im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gesendet und erreichte ein Millionenpublikum. Erschreckend war für mich, dass dieser Film vom Mainstream über alle Maßen angepriesen und gelobt wurde.
Das zeigt, dass die Medien selbst Teil eines Systems sind, das autoritäre und kinderfeindliche Erziehungsideologien unterstützt und legitimiert. Kritische Stimmen wurden schnell durch Diffamierungen mundtot gemacht, indem sie als überempfindlich und weltfremd dargestellt wurden.
Es wurde suggeriert, dass nur überfürsorgliche Eltern oder Vertreter antiautoritärer Erziehungsstile den Film kritisieren, während die gezeigten Methoden angeblich notwendig seien.
Michael Winterhoff — eine weitere Fortsetzung der Nazi-Pädagogik
Ein weiteres Beispiel für das Fortleben dieser Strukturen ist der Kinderpsychiater Dr. Michael Winterhoff (3), der über Jahrzehnte hinweg tausende Kinder behandelt hat. Sein Ansatz war geprägt von der Überzeugung, dass Kinder „narzisstische Tyrannen“ seien, die durch strikte Kontrolle und medikamentöse Beruhigung „zurechtgebogen“ werden müssten. Seine Bücher wurden Bestseller, er war ein gern gesehener Gast in Talkshows — und niemand hinterfragte sein System.
Erst 2021 begann der Fall Winterhoff öffentlich zu kippen: Eltern klagten an, dass ihre Kinder mit starken Psychopharmaka ruhiggestellt wurden, ohne medizinische Indikation. Seit Januar 2025 sitzt Winterhoff nun auf der Anklagebank. Doch bemerkenswert ist: Es wird nicht seine Erziehungsideologie hinterfragt, sondern ausschließlich sein Medikamentenmissbrauch! Die Diskussion dreht sich um pharmazeutische Fehlbehandlungen, nicht um die Ideologie, die dahintersteht.
Warum ist das so? Warum hinterfragt niemand das System, das solche Figuren immer wieder hervorbringt?
Winterhoffs Erfolg war nur möglich, weil er in ein Netzwerk eingebunden war: Jugendämter, Wohlfahrtsverbände, Krankenkassen, Kinderkliniken und sozialmedizinische Einrichtungen arbeiteten mit ihm zusammen. Diese Strukturen sind dieselben, die auch das System der Verschickungskinder und die Methoden in der Gelsenkirchener Kinderklinik ermöglicht haben.
Es ist ein System, das jungen Menschen körperliche und psychische Gewalt antut — und das bis heute nicht aufgearbeitet wurde.
Fazit: Die eigentliche Gefahr erkennen
Als Traumatherapeutin weiß ich, dass kollektive sowie individuelle Traumata über Generationen hinweg weitergegeben werden. Sie „leben“ in den nicht erzählten Geschichten unserer Familien, in den abgespaltenen und verdrängten Gefühlen und in der Art, wie wir familiär geprägt wurden.
Könnte es sein, dass die Angst vor der AfD weniger mit einer realen politischen Bedrohung zu tun hat, sondern vielmehr mit alten, nie verarbeiteten Traumamustern? Ist die Brandmauer nicht vielmehr ein Symbol der Verdrängung — kein Schutzschild gegen einen neu aufkeimenden Nationalsozialismus, sondern Ausdruck der deutschen Unfähigkeit, sich dem eigenen Trauma zu stellen?
Anstatt eine tiefgehende gesellschaftliche Debatte über die Ursachen zu führen, wird die AfD als „Feind“ markiert. Menschen, die diese Partei wählen, werden nicht mehr gehört, sondern pauschal als „Nazis“ diffamiert. Dadurch entstehen Parallelgesellschaften — und genau das ist die eigentliche Gefahr für eine funktionierende Demokratie. Eine künstlich aufgebaute Brandmauer verstärkt die gesellschaftliche Spaltung und verhindert, dass echte Lösungen gefunden werden.
Individuell erfahrene, menschengemachte Traumata spalten die Psyche — und kollektive, menschengemachte Traumata spalten eine Gesellschaft. Damit eine echte Aufarbeitung möglich wird, ist es meines Erachtens entscheidend, die Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Faschismus klar zu benennen.
Die antifaschistische Bewegung (Antifa) in Deutschland zeigt durch ihre totalitären Strukturen, ihren ausgeprägten Deutschlandhass und ihr starres Feindbild gegenüber „Rechten“ selbst erschreckende Ähnlichkeiten mit faschistoiden Denkmustern. Faschismus ist nicht ausschließlich „rechts“ — er ist ein Machtsystem, das Kontrolle und Unterwerfung zum Ziel hat und auch heute noch existiert.
Die eigentliche Gefahr ist nicht eine Partei, sondern ein System, das Menschen in Ohnmacht hält. Wenn wir wirklich aus der Vergangenheit lernen wollen, müssten wir uns mit unserem individuellen Trauma auseinandersetzen, um weitere kollektive Traumata zu vermeiden. Doch stattdessen suchen wir immer wieder neue Sündenböcke — und bleiben dadurch in alten Mustern gefangen.
Die Angst vor der AfD mag für viele ihrer innere Realität sein. Doch die eigentliche Gefahr ist eine andere: Die strukturellen Muster der Vergangenheit sind immer noch lebendig — und sie existieren jenseits von „rechts“ oder „links“. Solange wir uns nicht mit unserem kollektiven Trauma auseinandersetzen, werden wir immer neue Feindbilder erschaffen, um uns nicht mit den eigentlichen Ursachen zu beschäftigen.
Die Brandmauer gegen die AfD ist eine Ablenkung. Sie dient nicht dem Schutz der Demokratie, sondern der Verdrängung unserer eigenen Vergangenheit. Die wahre Frage lautet also nicht: „Wie verhindern wir die Rückkehr der Nazis?“ sondern: „Wie überwinden wir das kollektive Trauma, das uns bis heute spaltet und blind macht?“