Die Neigung zum Guten
Die Gesellschaft in ihrer jetzigen Verfassung macht die Menschen krank, dagegen lässt gegenseitige Hilfe uns gesunden — doch genau daran mangelt es derzeit.
Fürst Peter Kropotkin (1842 bis 1921), russischer Politikwissenschaftler, Humangeograf und Philosoph, beobachtete sowohl die Natur als auch die Naturwesen und bezog seine Erkenntnisse auf den Menschen. In seinem wissenschaftlichen Werk „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ schreibt er, dass im Tierreich nicht nur der „Kampf ums Überleben“, sondern auch das Prinzip der „gegenseitigen Hilfe“ wirksam ist und dass diejenigen Lebewesen, die dieses Prinzip umsetzen, länger überleben (1). Die naturwissenschaftliche Tiefenpsychologie basiert auf diesen Erkenntnissen. Demnach ist der Mensch ein naturgegeben soziales Wesen, das auf die Gemeinschaft seiner Mitmenschen ausgerichtet ist und eine Neigung zum Guten besitzt. Vor diesem Menschen muss man keine Angst haben.
In den letzten Tagen machte ich Erfahrungen, die ein Umdenken zur Folge hatten. Im persönlichen Kontakt mit alten Freunden wurde mir stärker vor Augen geführt als bisher, dass die Politiker im Namen der Gesellschaft mit ihren „dringend notwendigen“ politischen Entscheidungen und ihren medial-politischen Manipulationen sowie der permanenten Dauerberieselung der Bevölkerung mit Mahnungen und Warnungen die Bürger nicht nur stark verunsichern und irritieren, sondern sie krank machen.
Eine liebe Nachbarin, die meine Frau und ich längere Zeit nicht gesehen hatten, ist so stark abgemagert, dass wir erschrocken waren. Erst nach einer Weile erzählte sie beschämt, dass bereits Mitte des Monats von der kleinen Altersrente kein Geld mehr übrig sei für ein nahrhaftes Essen.
Ein alter Freund, der eine ordentliche Professur im entfernten Ausland angeboten bekam, antwortete auf die Frage, ob er seine alten Freunde in der Heimat vergessen hätte, dem sei nicht so, dass er aber nicht mehr wisse, „wo ihm der Kopf stünde“, weil seine Ehefrau, die er zusammen mit den Kindern in der Heimat zurücklassen musste, schwer erkrankt sei.
Des Weiteren fand eine gute Freundin, die nach einigen Jahrzehnten plötzlich ihr Modegeschäft räumen musste, in ihrem Auto ganz verwirrt den Rückwärtsgang nicht mehr.
Zu guter Letzt stieß ich auf die Veröffentlichung einer wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN). Unter der Überschrift „Basisdaten zu psychischen Erkrankungen in Deutschland“ heißt es aufgrund einer Momentaufnahme vom Januar 2023:
„In Deutschland sind jedes Jahr etwa 27,9 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das entspricht rund 17,8 Millionen betroffene Personen (…). Zu den häufigsten Erkrankungen zählen Angststörungen (15,4 Prozent), gefolgt von affektiven Störungen (9,8 Prozent, unipolare Depression allein 8,2 Prozent) und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum (5,7 Prozent)“ (2).
Wir Bürger sollten den Humanismus erproben: Die Menschen sind sozial, gut und fähig, ohne Waffen und Kriege zusammenzuleben.
Überall kommt es auf den Gemeinsinn an, auf das Gefühl der Zusammengehörigkeit, des Miteinanderseins. Das Geschenk der Evolution besteht im sittlichen Bewusstsein des Einzelnen, in der Einsicht in die Verantwortung aller gegenüber allen.
Leider versuchen viele Kollegen, verunsicherte Ratsuchende mit der jeweils bestehenden Gesellschaft auszusöhnen, anstatt auch das soziale und kulturelle Problem in den therapeutischen Prozess mit einzubeziehen. Diese würden dann erfahren, dass ihre individuellen Probleme nicht nur in der persönlichen Geschichte wurzeln, sondern vielmehr in einer inhumanen Gesellschaft und Kultur.
Doch die „gegenseitige Hilfe“ erweist sich als „Einladung“ und „Angebot“, als ein Weg, den Mitmenschen „unter die Arme zu greifen“ — und durch die Hilfeleistung auch selbst zu gesunden. Die Menschen, denen die Unterstützung angeboten wird, erfahren in dieser Situation, dass auch die Helfenden Probleme haben, die von den eigenen nicht gänzlich verschieden sind.
Zur Bedeutung der Aufklärung
Die Zukunft unserer Kultur hängt nach wie vor davon ab, ob es genügend Aufklärer geben wird, die imstande sind, den breiten Volksmassen jene Voruteile zu nehmen, die den ideologischen Hintergrund der Menschheitskatastrophen bilden. Mehr denn je sind wir darauf angewiesen, dass „freie Geister“ uns lehren, was Wahrheit und was Lüge ist.
Hier hat der Intellektuelle eine große Verantwortung, denn seine Pflicht ist es, für die anderen Menschen vorzudenken. Einige unter ihnen befürchten jedoch, dass sie als Intellektuelle unter sich bleiben würden, nur zueinander sprächen und die Masse der Bevölkerung gar nicht erreichten. Deshalb wäre es für alle „Aufklärer“ wichtig, sich zusätzlich zur Aufklärung mit den Mitmenschen zusammenzusetzen, sie in aller Ruhe anzuhören und zu versuchen, sich in ihre Probleme einzufühlen. Oder wie es Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, ausdrückte:
„Mit den Augen eines anderen sehen, mit den Ohren eines anderen hören, mit dem Herzen eines anderen fühlen“ (3).
Gemeinsam findet man in der Regel einen menschlichen, psychologischen Weg heraus aus dem Labyrinth der Zukunftsängste. Und das vor allem dann, wenn das Hilfsangebot eine freundliche Einladung und ein zwangloses Angebot ist, wie man die gegenwärtige Situation zufriedenstellend bewältigen kann und dadurch besser lebt.
Bereits vor meinem „Umdenken“ hatte ich mit einem Zitat von Bertolt Brecht — „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“ — den Aufruf verfasst „Aus Gewissensgründen dem Staat den Gehorsam verweigern. Politiker sind nur die sichtbaren Schachfiguren der wirklichen Herrscher der Welt.“ Begonnen hatte ich den Artikel mit den Worten:
„Die Zeit ist aus den Fugen (Shakespeare). Doch diejenigen, die sich der Gefahr des Neofaschismus, der Gefahr des ‚pharmazeutischen Verbrechens des Jahrhunderts‘ und des drohenden Weltkriegs bewusst sind, werden der Aufforderung Bertolt Brechts und derjenigen des deutschen Regimekritikers Wolfgang Borchert in seinem 1947 verfassten Manifest ‚Dann gibt es nur eines: Sag NEIN!‘ bereitwillig zustimmen.“
Aber die Bewunderung großer Vorbilder, die dem Staat aus Gewissensgründen den Gehorsam verweigerten und mit ihrem selbstlosen Handeln nicht nur das Recht und die Freiheit in den eigenen Ländern schützten, reicht nicht aus, um die sehr beunruhigende Situation in der Welt zu verändern: Jeder von uns muss selbst aktiv werden.
Da es sich bei diesem Artikel, den ich noch nicht veröffentlicht hatte, wieder um eine Aufforderung an die bereits problembeladenen Mitmenschen handelte, nahm ich nach meinem „Umdenken“ Abstand von dieser Idee.
Peter Kropotkin
Abschließend eine psychologische Stellungnahme des humanistisch gesinnten russischen Anarchisten und Revolutionärs Fürst Peter Kropotkin:
„Ein Mensch, dem die Fähigkeit, sich mit seiner Umgebung zu identifizieren, anerzogen ist, ein Mensch, der sich selbst seines Herzens, seines Willens bewusst ist, stellt seine Fähigkeiten frei in den Dienst der anderen, ohne in dieser oder einer anderen Welt dafür eine Belohnung zu erwarten. Vor allem besitzt er die Fähigkeit, die Gefühle anderer zu begreifen, sie mitzuerleben. Dies genügt.
Er teilt mit den anderen Freud und Leid. Er hilft ihnen, die schweren Zeiten ihres Lebens zu ertragen. Er fühlt seine Kräfte und verbraucht großmütig seine Fähigkeiten, andere zu lieben, andere zu begeistern, in ihnen den Glauben an eine bessere Zukunft zu wecken und sie zum Kampf für diese Zukunft hinzureißen. Welches Schicksal ihn auch erreicht, er nimmt es nicht als Leid, sondern als Erfüllung seines Lebens, das er nicht gegen ein pflichtloses Vegetieren eintauschen möchte, er zieht eventuell Gefahren einem kampf- und inhaltslosen Leben vor“ (4).
Quellen und Anmerkungen:
(1) Kropotkin, Peter: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. Leipzig 1908
(2) https://de.rt.com/meinung/164099-studie-rund-ein-drittel-der-erwachsenen-deutschen-psychisch-erkrankt/
(3) Adler, Alfred: „Kurze Bemerkungen über Vernunft, Intelligenz und Schwachsinn“. In: Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie Nr. 6, 1928, Seiten 267 bis 273, Seite 267
(4) Zitiert nach Grasenack, Moritz (Herausgeber): Die libertäre Psychotherapie von Friedrich Liebling. Eine Einführung in seine Großgruppentherapie anhand wortgetreuer Abschriften von Therapiesitzungen. Lich/Hessen, 2005, Seite 45