Die Nächsten-Lüge

In seinem Buch „Feindliche Übernahme“ forciert Thilo Sarrazin erneut den „Kampf der Kulturen“.

Mit dem Erscheinen von „Deutschland schafft sich ab“ im Jahr 2010 wurde Thilo Sarrazin — nach eigener Aussage — in die erste Reihe der deutschen Islamdebatte katapultiert. In seinem neuen Buch nimmt er die Fragestellungen von damals wieder auf und plädiert für eine grundsätzliche Neuaufstellung der Länder des Westens bezüglich ihrer Einwanderungs- und Integrationspolitik. Dazu gehört für ihn auch die Frage der Nächstenliebe, denn die sei nicht unbegrenzt vorhanden. Stimmt es wirklich, dass schon Jesus mit seinem Aufruf zur Nächstenliebe nicht die gesamte Menschheit, sondern nur das jeweilige persönliche Umfeld der Menschen gemeint haben soll?

Thilo Sarrazin ist ein Mann der „exakten Wissenschaften“. Allem Anschein nach ist er auch ein Mensch, der sehr auf Ordnung und Autorität bedacht ist. Als Finanzexperte liebt er es, mit langen Zahlenreihen, mit Prozentrelationen sowie mit statistischen Daten zu arbeiten und seine Ergebnisse in zum Teil umfangreichen Tabellen darzustellen.

Sarrazin arbeitet selektiv, liefert dabei aber auch interessante Informationen, beispielsweise zur demografischen Entwicklung, zu Bildungsabschlüssen oder zum Stand des Bruttoinlandsprodukts in den verschiedenen Regionen der Welt, und weist auf Zusammenhänge hin, die durchaus eines näheren Nachdenkens wert sind.

Allgemein stößt eine solche Herangehensweise — auf Grund der zu erwartenden Objektivität und der scheinbaren Eindeutigkeit ihrer Ergebnisse — bei vielen Menschen auf großes Vertrauen und eine hohe Akzeptanz.

An ihre Grenzen gerät dieses Vorgehen allerdings dann, wenn bei der Interpretation der gesammelten Daten auch solche Dinge und Verhaltensweisen zur Sprache kommen, die sich nur schwer quantifizieren lassen, und deren exakte Messbarkeit meist von vornherein nicht gegeben ist. Betroffen sind davon vor allem Beiträge und Darstellungen, bei denen es um Aussagen geht, die die Psyche der Menschen, ihre Gefühle und Emotionen betreffen. Zum Beweis der Richtigkeit derartiger Aussagen lassen sich die Methoden der exakten Wissenschaften kaum mehr heranziehen. Sie sind dafür einfach ungeeignet.

Die auf diese Weise verloren gegangene Autorität der Zahlen und Statistiken kann dann aber — mehr oder weniger erfolgreich — durch die Autorität anerkannter Persönlichkeiten ersetzt werden und genauso macht es auch Thilo Sarrazin.

Mitgefühl und Menschenliebe oder Abschottung und Feindbild?

Zum Beweis für die Richtigkeit seiner These, dass das menschliche Mitgefühl wie auch die Nächstenliebe nie allgemein, sondern immer nur begrenzt auf die uns jeweils nahe stehenden Menschen gelebt werden können, bezieht sich Sarrazin ausschließlich auf die Autorität von Jesus — eine der größten moralischen Autoritäten, die es überhaupt gibt — und behauptet:

„Jesu Wort ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘ umfasst ja nicht die ganze Menschheit, sondern zielt auf das jeweilige persönliche Umfeld ab“ (1).

Für die nicht zum persönlichen Umfeld gehörenden Fremden würde demnach die christliche Menschenliebe nur noch eingeschränkt oder aber überhaupt nicht mehr gelten.

In seiner Deutung lässt Sarrazin allerdings unerwähnt, dass sich Jesus bei seiner Aussage ausdrücklich auf das Alte Testament bezieht, wo diese Aussage dann auch nahezu wortwörtlich zu finden ist (2). Und noch im gleichen Zusammenhang heißt es im Alten Testament weiter:

„Unterdrückt nicht die Fremden, die in eurem Land leben, sondern behandelt sie genau wie euresgleichen. Jeder von euch soll seinen fremden Mitbürger lieben wie sich selbst“ (3).

Soweit die Aussagen das Alten Testaments.

Für Jesus gilt das Gebot der Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe — gemeinsam mit der Liebe zu Gott — sogar als „das größte und wichtigste Gebot“ überhaupt, denn darin sei schließlich „alles zusammengefasst, was das Gesetz und die Propheten fordern“ (4). Wie anders kann es denn auch gleichberechtigte Beziehungen und einen dauerhaften Frieden unter den Menschen dieser Welt geben?

Um dies noch zu bekräftigen und damit auch deutlich zu machen, wie wichtig es ihm mit diesem Gebot ist, geht Jesus aber noch weit über die Forderung des Alten Testaments hinaus und bezieht nicht nur die Fremden, sondern selbst noch die Feinde in das Gebot der Nächstenliebe mit ein:

„Ihr wißt auch, daß es heißt: ‚Liebe alle, die dir nahestehen, und hasse alle, die dir als Feinde gegenüberstehen.‘ Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“ (5).

Deutlicher als mit diesen Worten konnte Jesus sein Anliegen nicht ausdrücken.

Von einer Begrenzung der Nächstenliebe und des Mitgefühls auf das jeweilige persönliche Umfeld oder lediglich auf Menschen, die einem besonders nahe stehen, kann bei Jesus absolut nicht gesprochen werden. Sich dabei gerade auf ihn zu berufen, ist nicht haltbar und beinahe schon grotesk.

Auch ein solidarisches Verhalten, das sich nur auf die eigene Gruppe bezieht, ist Jesus ebenso fremd wie die Pflege von Feindbildern, die Anwendung von Gewalt oder der Einsatz von kriegerischen Mitteln zur Lösung der existierenden Probleme.

Die von Thilo Sarrazin vorgenommene Umdeutung der christlichen Nächstenliebe hat vor allem praktische Gründe und ist unverkennbar auf den weiteren Umgang mit Flüchtlingen und anderen Einwanderern gerichtet.

Auf die Autorität von Jesus kann sich Sarrazin dabei aber nicht beziehen, denn seine Umdeutung widerspricht nicht nur vollkommen den Anschauungen und der gesamten Lehre von Jesus, sondern auch seiner Lebensweise, seinem immer wieder praktizierten Umgang mit den Menschen.

Fluchtursachen, Hauptherkunfts- und Hauptaufnahmeländer von Flüchtlingen

Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, UNHCR, ist die Zahl der Flüchtlinge mit weltweit 25,4 Millionen bis Ende 2017 gegenwärtig höher als jemals zuvor (6). Als Hauptgründe für die Flucht werden vor allem Krieg, Konflikte und Verfolgung genannt.

Die meisten Flüchtlinge kommen aus Syrien und Afghanistan. In diesen Ländern ist die Mehrzahl der Menschen muslimischen Glaubens, und sie erleben bereits über Jahre hinweg kriegerische Auseinandersetzungen.

Bereits von Beginn an haben sich Deutschland und andere westliche Länder — auf Grund ihrer ökonomischen und machtpolitischen Interessen — an diesen Kriegen aktiv beteiligt. Damit tragen sie natürlich auch an den Fluchtursachen sowie an der daraus resultierenden Flüchtlingssituation einen Teil der Schuld. Zur Wahrung ihrer Interessen sind sie zudem nach wie vor gewillt, viel Geld in die Fortsetzung dieser Kriege zu investieren.

Grundlegend anders aber ist ihr Verhalten bezüglich der Folgekosten ihres militärischen Engagements in den Kriegsgebieten, vor allem wenn es um die Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen aus diesen Ländern geht.

Diese Kosten möchten sie am besten überhaupt nicht oder nur in einem möglichst geringen Umfang übernehmen. Dazu sollen — ihren Vorstellungen entsprechend — vor allem die jeweiligen Nachbarländer die Flüchtlinge aufnehmen und versorgen.

Dies ist der erklärte Wille der westlichen Länder. Mit den in Frage kommenden Aufnahmeländern streben sie deshalb vertragliche Regelung an und stellen ihnen mitunter Hilfsgelder in Aussich, deren tatsächliche Auszahlung sie dann wieder als ein wirkungsvolles Druckmittel gegen diese Länder einsetzen können.

Die wichtigsten Aufnahmeländer von Flüchtlingen sind gegenwärtig die Türkei und — mit einigem Abstand — Pakistan. Auch das sind wieder Länder mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit, wie das schon bei den wichtigsten Herkunftsländern der Flüchtlinge der Fall war. Als erstes europäisches Land taucht in der UNHCR-Statistik der größten Aufnahmeländer von Flüchtlingen dann auch Deutschland folgerichtig auf Rang 6 auf (7).

Eine Beendigung der Kriege in den Krisengebieten, zu der auch ein baldiger Rückzug aller ausländischen Militärs sowie eine Beendigung der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der betreffenden Länder gehört, wäre sicherlich die wirkungsvollste Methode zur Eindämmung der Flüchtlingsströme. Gewiss würden dadurch auch die besten Voraussetzungen für eine rasche Rückkehr der bereits eingewanderten Flüchtlinge in ihre Heimatländer geschaffen.

Auch Thilo Sarrazin bezeichnet „die fortgesetzte Einmischung des Westens in die Geschicke der arabischen Staaten“ als „äußerst verderblich“ und macht dafür vor allem dessen „Ölinteressen“ verantwortlich (8). Auch hält er „die Vermutung für begründet, dass es ohne die Interventionen des Westens weniger Blutvergießen gegeben hätte und die staatliche Ordnung der Krisengebiete stabiler wäre“ (9).

Mit dieser Einschätzung geht Sarrazin weiter als manch anderer der zahlreich vorhandenen Einwanderungskritiker. Einen direkten Zusammenhang zwischen der Massenflucht von Menschen und den in ihren Herkunftsländern stattfindenden Kriegen sieht er jedoch nicht.

Auch eine moralische Verpflichtung Deutschlands gegenüber den Flüchtlingen weist er ausdrücklich zurück (10). Dafür empfiehlt er aber den vor Krieg und Zerstörung aus ihren Ländern fliehenden Syrern und Afghanen, sich an den Chinesen ein Beispiel zu nehmen, und ihre Probleme „durch Bildung, Disziplin, Fleiß und eigene Anstrengung“ zu lösen (11).

Es ist grundsätzlich inakzeptibel, zu uns kommende Menschen, die sich in Not befinden, die vor kriegerischen Auseinandersetzungen fliehen mussten oder direkter politischer Verfolgung ausgesetzt waren, pauschal oder auf Grund ihres Glaubens als Feinde zu bezeichnen und dementsprechend zu behandeln.

Diese Menschen als Feinde oder als Schmarotzer zu betrachten und ihnen zu unterstellen, sich hier nur ungehemmt vermehren zu wollen, um unser schönes Land an sich zu reißen und schließlich übernehmen zu können, schafft nur neue Feindbilder und ist ein Zeichen der immer mehr um sich greifende Tendenz zur Abschottung.

Nicht zuletzt offenbart sich in dieser Entwicklung aber auch ein erschreckender und zugleich beschämender Verlust an Menschlichkeit und Solidarität, der sich innerhalb der westlichen Gesellschaften zunehmend auszubreiten scheint.

Das alles gefährdet den Zusammenhalt der Menschen sowie ihr friedliches Zusammenleben und diese Entwicklung sollte eine breite Öffentlichkeit — in ihrem eigenen Interesse — entsprechend ernst nehmen.

Die Vorwürfe, Thilo Sarrazins neues Buch enthalte fehlerhafte Angaben zu Jahreszahlen und auch zur Anzahl der Suren im Koran, mögen — in Hinsicht auf die Gesamtaussage des Buches — als belanglos erscheinen und als solches auch hinnehmbar sein. Die offenkundige und nachweisbar falsche Umdeutung biblischer Texte zur Begründung eigener politischer Interessen und Zielstellungen ist es allerdings nicht. Dabei ist es auch unerheblich, ob dies bewusst oder — wie man vermuten kann — aus bloßer Unkenntnis geschieht.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Sarrazin, Thilo: Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht. München 2018, S. 185.
(2) 3 Mose 19,18: „Räche dich nicht an deinem Mitmenschen und trage niemand etwas nach. Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst. Ich bin der Herr!“
(3) 3 Mose 19, 33-34. Siehe auch: 5 Mose 10,18-19; 2 Mose 22,20; 2 Mose 23,9.
(4) Mt 22,36-40.
(5) Mt 5,43-44.
(6) https://www.uno-fluechtlingshilfe.de//fluechtlinge/zahlen-fakten/
(7) Ebd.
(8) Sarrazin, a.a.O., S. 103.
(9) Sarrazin, a.a.O., S. 401.
(10) Sarrazin, a.a.O., S. 391.
Dort heißt es: „Haben wir eine moralische Pflicht, Einwanderung aus armen Ländern zuzulassen? Die Antwort ist Nein. Weder sind wir an den schlechten Zuständen in den Auswanderungsländern schuld, noch verdanken wir unseren Wohlstand ihrer Ausbeutung.“
(11) Sarrazin, a.a.O., S. 390.