Die Mythen des Systems
Die Realität der Welt und des menschlichen Bewusstseins wie sie tatsächlich ist. Exklusivabdruck aus „Die 33 Mythen des Systems. Ein kurzer Leitfaden zur Unwelt“, Teil 3/8.
Das von uns geschaffene System ist zu einer autonomen, sich selbst aufrechterhaltenden Maschine geworden, die — um sich zu bewahren — Menschen verschlingt. Wenn die Zivilisation beginnt, sich aufzulösen, wenn die Illusionen von links und rechts verschmelzen, wenn jeder entwurzelte Geist unmittelbar bedrückende Dystopien erlebt, dann ist es an der Zeit, das ganze System von A bis Z zu verstehen. Das Buch „Die 33 Mythen des Systems“ ist ein radikaler Leitfaden durch die Unwelt unserer heutigen Zeit. Autor Darren Allen stützt sich auf die Universalgeschichte des radikalen Denkens. Seine Synthese unabhängiger Kritik ist zugleich eine direkte Aufdeckung der Rechtfertigungen. Er bietet eine neue Art der Wahrnehmung, sich nicht nur der Welt da draußen zu stellen, sondern auch den Ängsten und Sehnsüchten tief in uns selbst.
von Darren Allen
Kurzer geschichtlicher Abriss des Systems II
Seit die heutige — und, wie wir sehen werden, letzte — Manifestation der Zivilisation immer mehr an Kontur gewann, begannen Dichter und Denker darüber zu spekulieren, wie das Ergebnis aussehen könnte, welche Art Welt dabei entstehen würde. Von diesen albtraumhaften Visionen unserer Gegenwart gelten vier als Prototypen und als äußerst nützliche Modelle für grundlegende Aspekte des Systems. Das sind die Dystopien basierend auf den Werken von George Orwell, Aldous Huxley, Franz Kafka und Philip K. Dick:
Orwellsche Herrschaft autokratischer, totalitärer Personen, Parteien oder Eliten. Begrenzung der Wahlfreiheit, Einschränkung der Meinungsfreiheit und Unterdrückung von Minderheiten. Glaube an Ordnung, Routine und Vernunftmoral. Erotische Körperlichkeit und sexuelle Freiheit sind durch gewaltsame Kontrolle sexueller Impulse unterdrückt. Permanente Überwachung und ständige Zensur.
Kontrolle der Körper durch Abschottung, Furcht, explizite Gewalt, Unterdrückung abweichender Meinungen und erzwungener Gehorsam gegenüber der „Parteilinie“ (orwellscher Fanatismus: Jeder muss sich fügen). Kontrolle über den Geist, indem subversive Sprache ausdrücklich kontrolliert, begrenzt und bestraft wird (orwellscher Neusprech: staatlich kontrollierte Reduzierung des Vokabulars zur Begrenzung des Denkens). Wahrheit kann nicht erkannt werden (auch bekannt als Hyperrelativismus oder Postmoderne); daher benötigen wir eine externe Autorität, die entscheidet, was die Wahrheit ist (Könige und Priester), und die Gesellschaft vor Chaos und Wahnsinn beschützt (Die orwellschen Anderen: Kommunisten, Anarchisten, Extremisten, Radikale, Untreue, Pöbel, Proleten, Freaks, Kriminelle und so weiter).
Huxleyanische Herrschaft mittels demokratischer, totalitärer, kapitalistischer, technokratischer Systeme. Überangebot an Wahlmöglichkeiten. Begrenzung des Zugangs zu Plattformen der Meinungsäußerung. Assimilierung von Minderheiten (mittels Alibipolitik, vergleiche Mythos 5), fundamentaler Glaube an Gefühlsmoral, „Imagination“ und „Flexibilität“. Kontrolle durch Begehren, Schulden, Drogen, technische Notwendigkeit und implizite Gewaltandrohung. Keine offene Kontrolle abweichender Meinungen (1) — das System belohnt selektiv systemkonforme Stimmen und unbewusste Selbstzensur. Erotische Körperlichkeit und sexuelle Freiheit werden durch die Förderung pornografischer Sinnlichkeit, Promiskuität und Scheidung unterdrückt.
Kontrolle der Körper durch Vergnügen und Vergnügungssucht. Kontrolle der Gedanken durch die Förderung von Informationen und die Einhegung der Sprache innerhalb beruflicher Grenzen (Illich'scher Neusprech oder Uniquak, vergleiche Mythos 28). Wahrheit kann intellektuell erkannt werden (die Religion des Szientismus, vergleiche Mythos 23) und ist offensichtlich, wenn man sie verstanden (Huxleyanischer Fanatismus: nur die Böswilligen könne es leugnen) und erlernt hat im Prozess der Errichtung einer inneren Autorität (auch bekannt als Moral oder Gewissen), den man „Erziehung“ nennt.
Kafkaeske Herrschaft mittels Bürokratie. Kontrolle der Bevölkerung — und der Natur — durch Festschreibung: Festlegung von Namen, Vermessung von Land, Standardisierung von Maßen, Verfolgung von Bewegungen, Quantifizierung, Messung und Aufzeichnung von allem, was irgendwo geschieht, um dadurch zu abstrahieren und handhabbar zu machen, was an sich schon lenkbaren Stress und das schizoide, selbstregulierende Selbstbewusstsein (Angst vor schlechten Noten, Ablehnung, offiziellen Beurteilungen und Ähnlichem) des bürokratisch Überwachten induziert. Hinzu kommt, dass bürokratische Funktionen und Praktiken in einem sich ausdehnenden abstrakten System zunehmend so gestaltet sind, dass sie ihren eigenen abstrakten Output verwalten.
Da sie immer weniger mit dem tatsächlichen Leben derer zu tun haben, die sich damit befassen, werden die bürokratischen Aufgaben zwangsläufig frustrierend, endlos, entmenschlichend und sinnlos; ein Zustand, der erlaubt und sogar gefördert wird, da er automatisch diejenigen zermürbt, die die Verwaltung bedrohen: die Ungezwungenen, die Analphabeten, die Spontanen, die Wandelbaren, die Verrückten, die Lokalen, die Privaten, die Inkorporierten und all jene, die eine direkte Beziehung zu ihren Mitmenschen haben möchten; all dies ist unerträglich für kafkaeske Systeme, die hypernormale Beamte an die Macht befördern, die nur eine indirekte Beziehung zu ihren Mitmenschen pflegen und die, aus Angst vor dem Leben versuchen, dieses durch eine Papierflut zu kontrollieren.
Phildickiansche Herrschaft durch Vertauschung der Wirklichkeit gegen ein abstraktes, virtuelles Ersatzbild der Realität (auch bekannt als das Schauspiel, vergleiche Mythos 9). Diese Technik der sozialen Kontrolle begann mit der Schriftsprache — und der Schaffung schriftlicher Symbole, die die weiche, bewusste, sinnliche Inspiration abwerteten, eine private (Leser-Text-)Interaktion mit der Gesellschaft förderten, die Illusion schufen, dass Sprache ein Ding sei, dass Bedeutung gespeichert, besessen und perfekt vervielfältigt werden könne, dass die Sprache der Eliten den Standard darstelle und so weiter (2) — und endete mit der Virtualität , der Umwandlung von Klassenzimmern, Büros, Gefängnissen, Läden und ähnlichen sozialen Räumen in „immersive“ Online-Holodecks, die Teilnehmenden durch permanente, perfekte Überwachung, die Stimulation positiver und negativer Emotionen, das Angebot gottähnlicher Kräfte kontrollieren und belohnen und die Nonkonformisten mit Entzug oder der Verbannung in eine Offline-Realität drohen, die mittlerweile durch die Anforderungen, der Herstellung eines gänzlich künstlichen Universums so heruntergekommen ist, dass dort nur noch höllische Produktionsanlagen, schäbige Unterkünfte und Gefängnisse materiell funktionieren können (3).
Diese vier Visionen der Hölle fußen alle auf dem zivilisierten System. Dieses Fundament oder dieser Hintergrund dienen als Ursprung und Schnittstelle o-rwellscher, h-uxleyanischer, k-afkaesker oder p-hildickianischer Welten, die zwangsläufig an Schlüsselstellen überlappen und miteinander wechselwirken; nämlich der grundlegenden Entfremdung und der Verelendung der Zivilisation, der Kommerzialisierung und Rationalisierung des Kapitalismus und der hyperspezialisierten, hypertechnischen Lebenshaltung des Spätkapitalismus.
Aus dieser gemeinsamen Wurzel wuchsen jene Zweige der Moderne und Postmoderne, die Orwell, Huxley, Kafka und Dick erforschten und beschrieben und die wir der genaueren Untersuchung unsere Welt im Hinterkopf behalten sollten. Alle modernen Gesellschaften beispielsweise sind sowohl kafkaesk als auch phildickianisch (tatsächlich kann man das virtuelle Phildickia als moderne Verfeinerung des hyperschriftlichen Kafkastan auffassen), entweder mit einem übergreifenden huxleyanischen oder orwellschen Rahmen. Die modernen westlichen kapitalistischen Gesellschaften sind tendenziell grundlegend huxleyanisch (hkp) und auf der anderen Seite des hauchdünnen offiziell akzeptablen „politischen Spektrums“ (auch bekannt als das Overton-Fenster tendieren prämoderne, östliche, „kommunistische“ Länder dazu, im Wesentlichen orwellsch (okp) zu sein, obwohl innerhalb dieser Disparität ein großer Formenreichtum vorherrscht.
Während wir arbeiten, befinden wir uns zum Beispiel weitgehend in einem orwellschen Modus, in dem die Freiheit zu entscheiden, wie und wann wir arbeiten, strikt begrenzt ist (entweder explizit oder im Falle moderner Berufstätiger und prekärer Freiberufler implizit), in dem Spontaneität und Sexualität streng bestraft werden und in dem wir im Wesentlichen wie eine Sache behandelt werden. Wenn wir jedoch die Arbeit verlassen, treten wir augenblicklich in eine Huxleyanische Welt transzendenter Freiheit, grenzenloser Wahlmöglichkeiten, der Demokratie und des Vergnügens ein; wir können kommentieren, abstimmen, reisen, bis zur Sättigung konsumieren, eine Fülle sexueller und kreativer Gelegenheiten eröffnet sich uns und jeder behandelt uns überall wie die kapitalistischen Götter (oder sollte uns zumindest so behandeln), die wir sind (offizieller Terminus: Kunde); wenigstens gilt dies für die unter uns, die zahlen können. Die Elenden verbleiben in Airstrip One (5).
Die Verwalter der Ideologie (Akademiker, Regisseure, Journalisten und so weiter) bevorzugen zwei (oder mehr) dystopische Systeme, weil die uns als die Guten und sie als die Bösen erscheinen lassen. Die Kommunisten sind schuld an ihren Tafeln und Warteschlangen vor den Essensausgaben, aber der Kapitalismus hat mit unseren nichts zu tun (oder umgekehrt). Gewiss, unsere Massen führen dasselbe elende Leben wie ihre, sie werden von demselben bürokratischen Irrsinn geplagt, stolpern durch dieselben verkommenen irrealen Welten und erleben dieselbe katastrophale Zerstörung der Natur und der Schönheit, wie es ihre tun. Aber wenigstens haben wir die Demokratie! / Aber wenigstens halten unsere Familien zusammen! / Aber wenigstens kommen unsere Züge pünktlich! / Aber wenigstens kommt demnächst GTA 9 raus! / Aber wenigstens euphorisieren uns die Olympischen Spiele! (gegebenenfalls Unpassendes streichen).
Ich nenne diese extrem verbreitete geistig-emotionale Aktivität Biastifikation (von: bias - Voreingenommenheit): Die Entschuldigung des Exzesses des eigenen Selbst oder der eignen Gesellschaft durch den Vergleich mit ihrem Gegenstück/ dem falschen Antonym (vergleiche Mythos 22).
Unser im Kern huxleyanischer Albtraum ist entschuldigt, indem man mit dem Finger auf seinen im Kern orwellschen Albtraum zeigt. Der Kult des Optimismus ist entschuldigt, indem man ihn mit dem des Pessimismus vergleicht, kalte Rationalität ist entschuldigt, wenn man sie mit heißer Emotionalität vergleicht, „ein verantwortungsbewusster Erwachsener“ zu sein, wird entschuldigt durch den Vergleich „ein verantwortungsloses Kind“ zu sein, Hedonismus ist durch den Vergleich mit Langeweile entschuldigt, Korporatismus ist durch den Vergleich mit Etatismus entschuldigt und die implizite Gewalttätigkeit moderner Unzivilisiertheit ist durch den Vergleich mit der expliziten Gewalttätigkeit vormoderner Kulte entschuldigt, die sie hervorgebracht und erhalten haben.
Dass all diese offensichtlichen Unterschiede im Grunde Aspekte derselben Realität oder Pseudorealität sind, wird in Krisenzeiten deutlich. Wenn die Huxleyanische Welt angegriffen wird oder auf ihrem Höhepunkt zu zerfallen beginnt, verwandelt sie sich augenblicklich in einen orwellschen Albtraum. Wenn sich „Recht und Ordnung“ des Kapitalismus auflösen, sind diejenigen, die ihn aufrechterhalten, gerne bereit, ihren Platz an der Spitze von feudalen Banden und krimineller Syndikate einzunehmen.
Wenn der überdrehte Optimist seinen Status einbüßt, verwandelt er sich augenblicklich in einen suizidalen Pessimisten. Wenn die Vergnügungssüchtige ihre Dosis Erregung nicht bekommen kann, empfindet sie augenblicklich intensive, unerträgliche Langeweile. Wenn die Wahrheit den Rationalisten ins Mark trifft, bricht kindische, irrationale Wut hervor. Wenn eine raffinierte, virtuelle Sucht unerreichbar wird, schaltet der Süchtige sofort auf eine derbere Vorform um. Wenn eine sozialistische Revolution den Staat übernimmt, geraten professionelle Kapitalisten beim Übergang zu Einparteienrhythmen kaum aus dem Tritt. Wenn der Kommunismus zusammenbricht, verwandeln sich Kommissare im Handumdrehen in fanatische Kapitalisten.
An keinem Zeitpunkt wird eine echte Alternative, geschweige denn die Quelle oder die Lösung für dessen, was uns schmerzt, wahrgenommen oder anerkannt.
Diejenigen, die das System errichten und erhalten, haben kein Gespür, um die Quelle wahrzunehmen, die sich jenseits oder vor den verzerrt-voreingenommen betrachteten Gegenspielern der emotional-rationalen Welt befindet. Ungewissheit, Mysterium, Weiblichkeit, Unschuld, Natur und der Kontext (auch bekannt als die unspezifische Realität) sind alles Quellen der Angst vor Systemlosigkeit; die reagieren auf ihre Gegenwart mit Ärger, Feindseligkeit und einem unwiderstehlichen Drang, sie aus dem Bewusstsein zu streichen oder sie unter eine verständliche Kontrolle zu bringen.
Dem Rätselhaften und Unmittelbaren wird mit Gewalt und — dem modernen Gefährten der Gewalt — mit Rationalisierung begegnet; der weiteren Reduktion von Erfahrungen auf quantifizierbare Dinge, Objekte, Ideen, Fakten, Zahlen, Waren, Preise, Gehälter und so weiter.
Dann, wenn die Wirklichkeit ausgelöscht ist und sich ein rationaler, virtueller Albtraum über der Einöde ausbreitet, wo einst die Erde war, fährt das System fort, für sich Außerordentliches dahingehend zu beanspruchen, dass die Menschen, weil sich quantitativ verbessert hat — weil mehr Land und Arbeit zur Ware gemacht wurde, weil mehr Ertrag generiert wurde, weil die virtuelle Welt schneller ist oder präziser Sinneseindrücke nachahmt, weil die Menschen finanziell reicher sind oder im Besitz von mehr Annehmlichkeiten, Qualifikationen, Kenntnissen, Sicherheiten oder Wahlmöglichkeiten —, dass sie also deshalb eine erhöhte „Qualität“ des Lebens genießen.
Radikale Systemkritiken, so wie die hier, konzentrieren sich notwendigerweise auf diese sogenannte „Qualität“ und bemühen sich zu zeigen, dass es sich eigentlich nur um eine höhere Quantität der Stimulation, der Bewegung, der Sicherheit oder der Macht handelt (relativ zu Langeweile, Trägheit, Unsicherheit oder Armut, vergleiche Mythos 24).
Wir haben mehr Jobs, ja, und mehr Geld, mehr Spaß, mehr Komfort, mehr Macht, mehr Dinge — aber unsere Leben werden nicht besser. Wir werden einsamer, kränker, wahnsinniger, gelangweilter und entfremdeter von einer natürlichen Welt, die kurz vor dem Aussterben steht. Ein paar technologische Innovationen mögen uns echten Nutzen bringen, aber das System als Ganzes versklavt und ruiniert uns. Die Erde wird kein lebenswerterer Ort. Genaugenommen wird alles, was wir zutiefst schätzen, durch Annehmlichkeiten, Wahlmöglichkeiten, Wohlstand, Jobs und Fortschritt zerstört.
Die Reaktion des Systems auf die Bedrohung durch eine solche Kritik ist vorhersehbar. Das System und diejenigen, die ihm dienen, antworten auf qualitative Verschlechterung mit quantitativen Forderungen und Gegenargumenten: Zeig mir deine Beweise, beweise mir deine Fakten, erkläre mir die Details, mein Leben ist gar nicht so schlecht, sieh, was die Zeitungen sagen, was bedeutet das überhaupt? Nicht, dass die Fakten, die professionelle Systemkritiker fordern, nicht ihre Berechtigung hätten — natürlich haben sie die —, aber das Problem mit und die Lösung für das unglückliche Superhirn sind letztlich in dieser Weise, technisch, rational, objektiv oder wissenschaftlich nicht lösbar (vergleiche Mythos 23). Die Kunst ist es, der wir uns zuwenden müssen, um unsere Welt zu entwirren; deshalb wenden die Herrschenden der Welt ein hohes Maß an Energie darauf, große Kunst herabzuwürdigen (6), ihr den Sinn zu nehmen oder sie ausschließlich an ihre qualitätsimmunen Kumpels den „Kreativen“ zu überlassen.
Was nun folgt, ist eine Polemik, oder in der Augen der Systemverteidiger, eine Tirade (7); ein direkter Angriff auf die Wurzeln des Systems. Sie ist daher nicht so radikal oder gar so wahrheitsgetreu wie die indirekten („nicht-faktischen“) Künste Musik, Malerei oder Mythologie es sein können. Aber obgleich sie nicht fähig ist, die „existenzielle Tiefe“ dieser Ausdrucksformen zu erreichen, appelliert sie doch an dieselbe Erfahrung; einen gemeinsamen Sinn für Qualität, Wahrheit, Poesie oder Liebe; an Worte, wie Sie feststellen werden, die für das systemische (kapitalistische, kommunistische, wissenschaftliche, religiöse, institutionelle, postmoderne) Denken bedeutungslos sind, ganz zu schweigen von einem etwas kitschigen, abstrusen, vielleicht sogar ziemlich unangenehme Gefühl.
Ich erwähne Gefühle, weil meine Argumentation letztlich auf der Empfindung basiert. Wenn Sie nicht das Empfinden haben, dass das, was ich zu sagen habe, in Ihrer eigenen Erfahrung eine Art Realität ausdrückt, dann werden Sie — gleichgültig wie wahrheitsgemäß meine Darstellung auch sein mag — bereits beginnen zu spüren, dass sie dumm („unrealistisch“, „amateurhaft“, „unprofessionell“), anmaßend („übersensibel“, „überscharfsichtig“, „zu tiefsinnig für mich!“) oder im besten Fall strittig ist („Wer bist du, das zu sagen?“ oder „Oh gut, ich denke, das ist Ihre Meinung, und wir sehen das alle anders.“); und Sie werden diesen unangenehmen Gefühlen vorbeugen, indem Sie sich auf die Details dessen konzentrieren, was ich sage, sie aus dem Kontext des gesamten Arguments zu reißen („Was ist mit all den guten Dingen, die das System leistet“, „Was ist mit all den netten Journalisten und Lehrern und Ärzten, die es gibt — du musst so zornig sein!“) und alle Fehler oder Ungereimtheiten, die Sie finden können, beanstanden. Sie werden kurz gesagt alles für Un-sinn halten („Ich bin nicht über das erste Kapitel hinausgekommen!“).
Eine wirklich andere Lebensqualität klingt für das quantifizierende Selbst einfach falsch. Sie weckt eine Emotion des „Das mag ich nicht!“, die der Geist dann damit rechtfertigt, dass er etwas anderes in seinen Erinnerungen ausmacht, das er ebenfalls nicht mag. Nehmen Sie beispielsweise die Aussage: „Liebe ist bedingungslos; es bedarf keiner Bedingungen, um sie zu erfahren“. Für diejenigen, deren Liebe von Bedingungen abhängt — von lustigen Erlebnissen, vertrauten Menschen, netten Besitztümern und so weiter —, klingt eine solche Aussage abstrakt, unwirklich, intellektuell, religiös, wahnsinnig, langweilig, dumm, verwirrt oder in der Sache lächerlich („Oh, Sie können also Liebe empfinden, wenn jeder, den Sie kennen, stirbt, wirklich?“).
Oder nehmen Sie die Aussage: „Die Zivilisation bricht zusammen“. Das klingt radikal, extrem, übertrieben, zornig, simplifizierend, gefährlich, irreführend, heuchlerisch, sozialistisch oder in der Sache zweifelhaft („Sieh doch, wie mächtig die Regierung ist! Sieh doch all die Experten, die widersprechen!“). Oder nehmen Sie isolierte Behauptungen wie: „Mord ist schlimmer als Vergewaltigung“, oder: „Die Nazis haben den Zionismus unterstützt“, oder: „Prinz Harry hat geholfen, Afghanen zu ermorden“, die voreingenommen, beleidigend, unsensibel oder taktisch unklug klingen. Oder nehmen Sie jemand, der solche Aussagen tätigt. Er oder sie klingt wie ein Spinner, ein Verwirrter, ein Narr, ein Terrorist, ein Sexist, ein Rassist, ein Kommunist, ein Verlierer, ein Verrückter, ein „Mystizist“, ein Schizophrener (vergleiche Mythos 26), ein Dilettant (vergleiche Mythos 28), ein Pessimist, ein Sektenmitglied, ein Verschwörungstheoretiker oder ein Unhold oder Betrüger durch und durch.
Der Grund, dass all diese Dinge falsch klingen, liegt darin, dass der mit dem System kollabierende Geist es nicht ertragen kann, kritisiert zu werden und deshalb ignoriert er die Kritik entweder vollständig oder, falls dies nicht möglich ist, konzentriert sich auf sekundäre Aspekte; wie sie sich anfühlt („Seltsam!“), der Stil, in dem sie geäußert wird („Laaangweilig!“), zu was sie Ähnlichkeit aufweist („Das ist im Grunde eine Neuauflage von Buddhismus und Marxismus, nicht wahr?“), was sie aus dem Kontext genommen bedeutet („Rassist!, Sexist!, Verrückter!“), auf jeglichen isolierten Fehler, den sie enthalten könnte („Ha, ha, ha! Ein falsch zugeordnetes Zitat!“), wer die Kritik äußert (wie er klingt, wie er gekleidet ist, mit wem er schläft) und so weiter und so fort.
Diesen plumpen Reaktionen lässt sich effektiv nichts entgegensetzen. Man könnte genauso gut mit einem Kind diskutieren, das immer wieder schreit: „Nein, bin ich nicht, du bist es“. Aber diejenigen, den das System gehört und die es verwalten, wissen sehr gut, dass sie nur begrenzt wirksam sind und verraten selbst einen katastrophalen Mangel an Integrität.
Deshalb existiert eine Ideologieindustrie, die Mythen produziert und verbreitet, durch die sich das System gegen radikale Angriffe feit, durch die Eigentümer und Manager ohne Gewissen leben und Arbeiter und Ausgestoßene ohne Klage sterben können, durch die eine gefälschte Un-welt die Erde, auf der wir einst lebten, zu Recht wieder an ihren Platz rücken kann; Mythen vom Wohlwollen des Systems, von seiner ewigen Unvermeidlichkeit, von seiner unbestrittenen Wahrheit, von seinem Ruhm, seiner Schönheit, seinem Nutzen und seiner Gerechtigkeit.
Diese Mythen sind …
Darren Allen, Jahrgang 1974, ist ein Autor, Künstler, Aktivist, Philosoph und Medienschaffender aus Südengland. Er ist weit gereist, hat in Japan, Spanien, Russland, dem Nahen Osten und England gelebt und arbeitet als Fachautor, Englischlehrer, Lehrbuchdesigner, Pferdepfleger, illegaler Priester und Verkäufer von Schrumpfköpfen; obwohl er sich lieber auf exquisites Wohlergehen als auf bezahlte Arbeit verlässt. Zudem veröffentlicht er regelmäßig Beiträge auf seiner Website.
Quellen und Anmerkungen:
Die Mythen des Systems, Teil 1
Die Mythen des Systems, Teil 2
Die digitale Version dieses Buches ist kostenlos und steht unter einer Creative-Commons-Lizenz; insbesondere unter einer Lizenz mit Namensnennung ― nicht kommerziell ― ShareAlike 4.0 International. Das bedeutet, dass es Ihnen freisteht, alles, was hierin enthalten ist, zu teilen und zu verwenden, zu modifizieren und zu propagieren, vorausgesetzt, dass Sie unter derselben Lizenz auch „gleichartig“ teilen.
Wenn Ihnen dieses Buch gefällt oder Sie davon profitieren, ziehen Sie bitte eine Spende über den Widget auf der Homepage-Titelseite des Autors in Betracht.
(1) „Ein wirklich effizienter totalitärer Staat wäre einer, in dem die allmächtige Exekutive der politischen Bosse und ihre Armee der Manager eine Bevölkerung von Sklaven kontrollieren, die nicht gezwungen werden müssen, weil sie ihr Sklavendasein lieben.“; Aldous Huxley, Vorwort zu „Schöne neue Welt“.
(2) Es ist offensichtlich, dass ich nicht nahelege, dass Schriftlichkeit inhärent und vollkommen dystopisch sei, aber sie stellt den Beginn eines existenziellen Abbauprozesses dar, der damit beginnt, dass Gesellschaften, die von Mitgliedern die Beherrschung der Schrift verlangen — und Mündlichkeit und improvisierte Formen des Ausdrucks entwerten —, und mit der völligen Auslöschung der Realität endet. Diese Verminderung der Existenz nimmt mit jedem Schritt in Richtung Virtualität zu (Druck, Perspektive, Fotografie, Fernsehen, Internet), bis, sobald wir VR (Virtual Reality) realisieren, keine Möglichkeit zur Träumerei, Transzendenz, Menschlichkeit, Bedeutung oder echter Kreativität verbleibt, die allesamt verdächtig werden.
(3) Es gibt andere machtvolle — also wahrhaftige — Visionen Dystopias, aber die vier Dystopien bildeten — ich bitte Jewgeni Samjatin, Jules Verne, Walter Besant und andere um Verzeihung — die ursprünglichen Stämme, aus denen spätere Äste wuchsen. Player Piano von Kurt Vonnegut beispielsweise (eine Kombination huxleyanischer mit kafkaesken Elementen) oder The Handmaid‘s Tale (orwellsch mit einer stark patriarchalisch-religiösen Betonung) oder Anthem (allgemein orwellsch mit einer primitivistisch-vorindustriellen Ludditenversion von phildickianisch) oder Fahrenheit 451 (orwellsch und huxleyanisch) oder Brazil (kafkaesk mit orwellschen Elementen).
(4) Die komplementäre Orwell-Huxley-Polarität kann in mancherlei Hinsicht zumindest bis zur griechisch-judäischgriechisch-judäischen Spaltung zurückverfolgt werden. Das antike Griechenland war in groben Zügen huxleyanisch und Judäa orwellsch.
(5) Anmerkung des Übersetzers: Bezeichnung der Provinz Ozeaniens in Orwells Roman „1984“ für das mittlerweile wirtschaftlich und sozial völlig heruntergekommene Groß Britannien.
(6) Und große Künstler. Wenn Sie danach streben, veröffentlicht zu werden, dann ist eine Biografie, die zeigt, dass Vincent van Gogh wirklich manisch-depressiv war oder dass Bach wirklich ein schäbiger Raufbold war oder dass Buddha wirklich ein Frauenfeind war, ein Ticket erster Klasse zur Auszeichnung „Buch des Jahres“ im Guardian.
(7) Polemiken bringen negative Qualitäten zum Ausdruck. Im Allgemeinen ist es das Beste, „die Tatsachen für sich sprechen zu lassen“, aber es gibt einige Aspekte der Wirklichkeit, für die Tatsachen nicht sprechen können. An verschiedenen Stellen in diesem Buch beziehe ich mich beispielsweise auf den „Albtraum“ des Systems. Für die, die das systemkonforme Leben nicht als Albtraum erleben (gewöhnlich Leute in netten Positionen), wird es aussehen, als würde ich „wettern“ — ein Vorwurf, den ich angesichts des Ursprungs dieses Worts als Kompliment aufzufassen neige.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „33 Myths of the System. A brief guide on the unworld“. Er wurde von Thorsten Schewe vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzerteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam lektoriert.