Die Mutprobe
Sogenannte Feinde sind unser Schatten und unser Spiegel — lernen wir von ihnen!
Wir alle neigen dazu, auf andere zu projizieren, was wir in uns selbst nicht sehen wollen. Feindbilder entstehen dadurch, dass wir nicht annehmen können, was wir selbst auch sind. Wir bekämpfen den anderen in der Illusion, von unseren eigenen Schwächen ablenken zu können. Frieden kann entstehen, wenn wir genau hinsehen, was wir da so entschieden von uns weisen. Ein Spiel lädt dazu ein, alle Karten aufzunehmen und das Beste daraus zu machen.
Für dieses Spiel braucht man Mut. Denn hier begegnen wir borstigen Trollen und feuerspeienden Drachen, gemeinen Kobolden und hochnäsigen Prinzessinnen. Es wimmelt von Dickköpfen, Kratzbürsten, beleidigten Leberwürsten und schwarzen Petern. Es ist ein Spiel, in dem wir uns selbst begegnen.
Das schaffen wir nicht allein. Dafür brauchen wir die Hilfe der anderen. Denn nur sie können uns darauf aufmerksam machen, wo der Schuh drückt, wo also ein Drache oder eine Prinzessin befreit werden wollen. Durch das Verhalten der anderen spüren wir, wo es bei uns reibt und ziept, klappert und knirscht. Sie zeigen uns, wo etwas bei uns nicht harmonisch klingt.
Es sind nicht die anderen, die die Misstöne in uns hineintun. Sie schlagen nur die Saiten unseres Instruments an. So wissen wir, wo wir etwas neu zu stimmen haben. Diese Arbeit kann uns niemand abnehmen. Und auch wir können sie für niemand anderen übernehmen. Jeder ist für sein eigenes Instrument verantwortlich.
Karten auf den Tisch
Hinaus also in die Welt — sie ist voller Stolpersteine! Da ist der Nachbar, der uns nervt, der Chef, der uns nicht respektiert, der Partner, der uns so behandelt, wie wir es uns nicht wünschen. Oft verzweifeln wir daran: Wir bekommen es einfach nicht hin, die anderen so zu verändern, wie wir sie gerne hätten. Sie merken es einfach nicht. Sie verstehen nicht. Wir können noch so viel an ihnen herumbiegen, es will einfach nicht funktionieren.
Zeit, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und die Mutprobe anzugehen. Wahrscheinlich meint es der andere sowieso gar nicht so, weil er wie wir vor allem mit sich selbst beschäftigt ist. Nehmen wir also ein Blatt Papier, eine Schere und schneiden ein paar Karten. Legen wir sie auf den Tisch. Sie sind leer. Das wird sich gleich ändern.
Denken wir an eine Situation oder einen Konflikt, die uns in diesem Moment zu schaffen machen. Was stört uns besonders daran? Was werfen wir den anderen vor? Nun geht es nicht darum, die ganze Geschichte zu erzählen, die damit zusammenhängt. Das haben wir meistens bereits hinter uns. Kollegen, Sportsfreunde und beste Freundinnen kennen sie wahrscheinlich schon auswendig. Hier wird der Leierkasten abgestellt.
Welche Worte kommen uns jetzt in den Sinn? Welche Gefühle sind mit im Spiel? Auf jede Karte kommt nur ein Wort, etwa respektlos, ungerecht, hartherzig, stur. Nehmen wir kein Blatt vor den Mund! Es sieht uns ja niemand über die Schulter. Also: Raus damit! Was will der andere einfach nicht einsehen? Wo hakt die Platte? Was bringt uns auf die Palme?
Den schwarzen Peter annehmen
Das tut gut. Doch das ist nur der erste Schritt. Die Mutprobe ist der zweite. Denn hier geht es darum zu erkennen, dass alles, was wir einem anderen vorwerfen, in erster Linie etwas über uns selbst aussagt. So sehr wir es auch versuchen zu drehen und zu wenden: Der Kompass pendelt sich immer wieder in unsere Richtung ein. Wir sind es eben, die die Saiten unseres Instruments in der Hand halten.
Wenn also die Saite „stur“ angeschlagen ist, dann gilt in diesem Spiel die Regel, dass ich mich fragen muss, inwiefern ich selbst mich denn stur verhalte. Wo bin ich unnachgiebig? Was kann ich nicht hören, sehen, annehmen? Wo bin ich ungerecht zu mir selbst und anderen? Wo respektiere ich meine eigenen Grenzen nicht? Wo bin ich selbst übergriffig? ...
Wer jetzt noch liest, der hat die allergrößte Mutprobe schon bestanden. Er öffnet sich dafür, dass nicht die anderen die Ursache seines Übels sind, sondern sein eigenes Verhalten. Was jetzt folgt, ist ein Kinderspiel. Vor uns liegen also Karten mit Worten darauf, die uns das Leben schwer machen. Tatsache ist: Auch wenn wir sie zerknüllen, zerreißen, verbrennen oder wegwerfen, werden wir sie nicht wirklich los. Sie heften sich immer wieder an uns. Also müssen wir es anders machen.
Alle Karten ausspielen
Wenn etwas nicht verschwinden will, dann bleibt nur eins: Wir müssen es annehmen und etwas damit machen, anstatt dagegen. Zähneknirschend nehme ich meine Karten in die Hand. Gar nicht so einfach. Ich will nicht so sein wie das, was da steht: dickköpfig, nachtragend, respektlos. Und doch: Ich bin es. Wäre ich es nicht, würde es mich am Verhalten des anderen nicht stören. Soll er doch Recht haben. Ich habe meinen Frieden.
Wir sehen am anderen vor allem das, was wir von uns selbst kennen. Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen und auch wenn wir uns auf den Kopf stellen: Das, was wir am anderen so vehement kritisieren, machen wir selbst. Je mehr ich dagegen ankämpfe, desto mehr verstärke ich genau diese Eigenschaften. Und so bleibt mir jetzt wirklich nichts anderes übrig, als diese Karten aufzunehmen.
Ja, es ist so. Ja, ich kann das auch sein. Wie die Person, der ich am liebsten gerade die Augen auskratzen würde, kann ich blind sein, ignorant, einseitig, egoistisch, verbohrt, penetrant, gemein, geizig, eifersüchtig. Ich bin das auch. Doch ich habe nicht nur schwarze Peter auf der Hand, sondern auch einen Joker: Wenn ich das Kleine in mir angenommen habe, kann sich meine Größe entfalten. Wenn ich akzeptiere, was ich nicht sein will, werde ich endlich auch das, was ich sein will. Das ist die erstaunlichste Seite dieses Spiels.
Selbstannahme, Voraussetzung für den Weltfrieden
Das Annehmen seiner dunklen Seiten hat nichts von Selbstanklage oder Selbsterniedrigung. Es zeugt von Größe, seine eigenen Schwächen anzuerkennen und sich innerlich in seiner Ganzheit zu umarmen. Wir können das mit spielerischer Fröhlichkeit und einer Prise Selbstironie tun. Ist nicht schlimm. Das passiert uns allen. Beim nächsten Mal passen wir besser auf.
Was uns jetzt noch zu tun bleibt ist, wachsam zu bleiben. Ich habe mir dafür ein kleines Kästchen zugelegt, in dem immer ein paar Blanko-Karten darauf warten, beschrieben zu werden. So weiß ich, was sozusagen gerade auf dem Spiel steht, was also danach strebt, angenommen und aufgelöst zu werden.
Ich wünsche mir, dass möglichst viele Menschen dieses Spiel spielen. Denn wenn wir es schaffen, uns selbst anzunehmen, anstatt unsere eigenen Schwächen in anderen Menschen zu bekämpfen, dann leisten wir einen großartigen Beitrag für den Frieden in der Welt. Dafür brauchen wir nichts weiter als ein Blatt Papier, eine Schere und ein bisschen Mut.