Die Möchtegern-Proletarier

Versuche, Intellektuelle und Arbeiter zusammenzubringen, gibt es schon lange ― meist scheitern sie, weil sich beide Milieus zutiefst fremd geblieben sind.

Thomas Eblen, ein Arbeiterkind zeit seines Lebens, beleuchtet in einem essayistischen Streifzug Facetten des Verhältnisses zwischen Arbeitern und Gesellschaft. Er zeigt insbesondere, dass das „Proletariat“ überwiegend für akademische Theorien instrumentalisiert wird, selbst aber keine eigene Stimme bekommt. Intellektuelle linker Ausrichtung sprechen mit Vorliebe über, selten aber mit Arbeitern. In der Widerstandsbewegung, die mit Corona aufgekommen ist, droht sich dieses Muster zu wiederholen.

Ich stamme aus dem Milieu der Arbeiter und bin dortgeblieben. Doch wer sind eigentlich die Arbeiter. Sie werden von der Intelligenz, so nenne ich die Deutungsmacht, definiert und instrumentalisiert für ihre Theorien. Mit ihnen wird kaum gesprochen, geschweige denn, dass sie Platz bekämen im Debattenraum. Besonders enttäuschend für mich ist, dass auch die freien Medien nicht in der Lage sind, mit ihnen wirklich in einen Dialog zu treten beziehungsweise ihnen eine Stimme zu geben.

Es scheint mir, kritische Kreise würden die Arbeiter lediglich brauchen für den Fall, dass es eskaliert, da die Arbeiter bei weitem die größte gesellschaftliche Gruppe ausmachen, also den Gesellschaftskörper bilden, während die Intellektuellen meist nur Einflüsterer sind. Aber zu Macht sollen Arbeiter nicht kommen, das soll in der Hand der sogenannten Eliten bleiben. Oder interpretiere ich das falsch? Dazu einige Anmerkungen.

9. November 1918

Friedrich Ebert ist Parteivorsitzender der SPD, von 1913 bis nach dem Zusammenbruch der Monarchie. In der Endphase des Ersten Weltkrieges beschließt die deutsche Marineleitung in der letzten Oktoberwoche 1918, noch einmal eine große Seeschlacht mit der englischen Flotte zu wagen. Doch im Militär formiert sich Widerstand. Ein Teil der deutschen Flotte weigert sich und der Plan muss schließlich aufgegeben werden. Der Kaiser geht ins Exil. Kurze Zeit später, am 4. November, bricht in Kiel eine große Matrosenrevolte aus. Sie hissen die rote Fahne, bilden Matrosenräte und bringen Kiel unter ihre Gewalt. Die Revolution breitet sich in Windeseile über das ganze Deutsche Reich aus.

Zunächst geschieht das ohne jegliches Ziel. Einfach aus sich selbst heraus. Es entstehen in den Heimatarmeen Soldatenräte, in den Fabriken Arbeiterräte. Die Großstädte werden von den Räten verwaltet. Der parlamentarisch legitimierten Oktoberregierung, in der die (M)SPD zwei Staatssekretäre stellte, missfällt das. Der letzte Reichskanzler Prinz Max von Baden, designierter Nachfolger des Kaisers, berichtet von einer Zusammenkunft mit Ebert am frühen Vormittag im Garten:

„Ich sah Ebert am frühen Vormittag allein im Garten. Zunächst unterrichtete ich ihn von meiner geplanten Reise. ‚Sie wissen, was ich vorhabe. Wenn es mir gelingt, den Kaiser zu überzeugen, habe ich Sie dann an meiner Seite gegen die soziale Revolution?‘ Eberts Antwort erfolgte ohne Zögern und unzweideutig: ‚Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich. Ich aber will sie nicht, ich hasse sie wie die Sünde‘“ (1).

Der Vorsitzende der Arbeiterpartei äußerte sich so. Wenig später werden die Soldaten und Arbeiterräte auf Initiative von Ebert, dem ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, und dem Militär durch die Freikorps blutig zerschlagen.

Dutschke und die 68er

Rudi Dutschke führt sie oft im Mund, die Arbeiter, vergisst aber dabei, sie miteinzubeziehen, ja gar zu fragen, was sie von den ganzen Theorien halten, die er und seine Mitstreiter so entwickelten. Es gibt eine vierteilige, sehr gute Dokumentation mit dem Titel „Was war links“ von Andreas Christoph Schmidt (2). Die zweite Folge „Dutschke und Konsorten“ nimmt Bezug auf das Verhältnis der Studenten zur Arbeiterschaft: „Die Studenten glaubten, indem sie ihren Protest aus den Universitäten in die Öffentlichkeit trugen, der Sache der Arbeiter zu dienen. Die Arbeiter nicht.“ Einer der befragten Arbeiter sagte:

„ ... Die Studenten und die Arbeiter haben da nichts zusammen zu tun. Meine Meinung ist, das ist einzig und allein Studentensache und keine Arbeitersache“ (3).

Bei der Visitation der Dokumentation fragte ich mich, ob der Autor vielleicht auch andere Stimmen hätte finden können, die sagen: „Ja, das ist interessant, was die da machen, wenn ich auch vieles nicht verstehe. Ich würde gerne mit drin sitzen und ein lautes Halt rufen, damit die es mir deutlicher erklären.“

Und ob es auch Studenten mit einer Sprache gab, welche die Arbeiter mitgenommen hätte. Solche Bemühungen aber konnte ich nicht erkennen. Ich sehe darin eine Art vorauseilendes Urteil. Und das hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack bei dieser ansonsten ausgezeichneten Dokumentation. Dabei sehe ich keineswegs einen bösen Willen des Autors, vielmehr scheint die Unmöglichkeit eines gemeinsamen Ansatzes von Studenten und Arbeitern allem vorgelagert, auch dieser Dokumentation selbst, die das ja eigentlich untersuchen will.

Es gibt ja Stimmen, die behaupten, dass die Studentenbewegung nur das Ziel gehabt hätte, Jobs zu generieren. Und wenn man sieht, was aus den vielen Revoluzzern geworden ist, ist dem wohl zustimmen.

Sie haben nicht die Gesellschaft verändert, sondern nur Lehrstühle und Leerstühle geschaffen, um ihre Pfründe zu sichern, und jene, die sich in die Politik begeben haben, starteten als Löwen und landeten als Bettvorleger. Ja, sie wurden gar schlimmer als diejenigen, die sie einst bekämpft hatten. Kann man solchen Menschen trauen?

Aber auch die Arbeiter verbleiben in ihren Mustern und denken nur allzu oft an Schrebergarten, Auto und Urlaub. Oder sind das alles nur medial aufgeladene Klischees?

Mathias Belz, Rechtsanwalt und Kabarettist, war einer der wenigen, der sich mit den Arbeitern auseinandersetzte. Er arbeitete sechs Jahre im Opel-Werk in Rüsselsheim und traf sich abends in der Kneipe mit den dort Beschäftigten. Er unterstreicht den hehren Anspruch der Studenten, oft blind und dümmlich, ja egozentrisch agierend, wie auch die Unmöglichkeit, den tiefen Graben zwischen diesen „Klassen“ zu überwinden. Der Abstand bleibt.

Die 68er-Revolte war von den Studenten gemäß Belz grundsätzlich mehr als eine Feldstudie angelegt. Belz selber hegte große Sympathie für die Arbeiter. Diese kamen auch, um ihn auf der Bühne zu sehen, obgleich seine Kunst alles andere als leicht zu verstehen war. Bei ihm aber funktionierte ― eine seltene Ausnahme ― die gemeinsame Sprache. Grundlage war der persönliche echte Austausch. Man kennt sich. Beziehungen überwindet jede Klassenschranke.

Agenda 2010

Es folgt Agenda 2010 umgesetzt durch die Schröder/Fischer-Regierung. Auch da werden die Arbeiter über den Tisch gezogen. Geringere soziale Absicherung, der Zwang unzumutbare Arbeit anzunehmen, Kürzung des Arbeitslosengeldes. Nach Ablauf desselben sind sie auf Sozialhilfe angewiesen. Lockerung des Kündigungsschutzes, Aushöhlung der Meisterausbildung. Dies nur einige Maßnahmen, die damals eingeleitet wurden.

Gerhard Schröder wird der Genosse der Bosse genannt, trägt Brioni-Anzüge und raucht teure Zigarren. Die mediale Berichterstattung zeigt einmal mehr den Abstand zwischen der intellektuellen Klasse und den Arbeitern.

Zwar gibt es Protest, aber der verpufft. Die Arbeiter sind seltsam gelähmt, resignieren wegen der Übermacht, die ihnen entgegenschlägt, glauben auch, ohnmächtig zu sein. Obwohl sie eigentlich die Mächtigen wären, allein schon wegen ihrer Zahl.

Ja, sie haben die Hände für die Macht, nur wissen sie es nicht. Die Deutungseliten dagegen versuchen durch Manipulation ihre im Grunde kärgliche Macht, nämlich die der bloßen Deutung, aufrechtzuerhalten.

Jetzt

Jetzt erkennt man, wie diese Deutungsmacht bröckelt, wenn auch langsam und unübersichtlich. Wichtig wäre es deshalb, dass die Intelligenz, die im Widerstand sich gerade formiert hat, den Schulterschluss mit den Arbeitern sucht. Bisher ist es nicht gelungen, ja, nicht einmal probiert worden. Müssten doch die Intellektuellen einige ihrer Pfründe aufgeben, hauptsächlich die der Deutungsmacht. Bücher schreiben alleine genügt nicht.

Soll es zu Veränderungen kommen, müssen neue Formate gefunden, muss eine andere Formensprache kreiert werden. In sämtlichen Bereichen, die für eine Gesellschaft bedeutsam sind. Auch für Dinge, die produziert werden, muss eine andere Sprache erfunden werden. Die Energie der Veränderung muss in alles einströmen. Vergleichbar mit dem, was in der Moderne geschehen ist, im Jugendstil, im Barock, in der Gotik und so weiter. Eine Veränderung muss weit über das Intellektuelle hinausgehen. Und es muss aus sich selbst heraus geschehen. Das geht nur, wenn man Reibungsfläche bietet, indem man Bestehendes verändert. Manchmal genügt ein Funke, der sich weiterträgt und irgendwann Flächenbrand wird.

Andere Formate

Andere Formaten ergeben sich dann, ich habe es andernorts schon einmal formuliert, wenn Arbeiter wirklich als aktive Teilnehmer der Debatte anerkannt und selbstverständlich sind. Sie fragen, sie antworten, die formulieren Ideen in ihrer Sprache. Das bedeutet: Das hierarchische System löst sich auf und ein promovierter Fachmann spricht auf Augenhöhe mit einem Meister der Mechanik. Auch ein Lkw-Fahrer lernt zu reden, weil seine Sprache gilt. Ein Gleichgewicht entsteht, sodass die Arbeiter merken: Wir sind gemeint. Das wäre eine Revolution.

Eine neue Sprache entstünde aus sich selbst heraus, weil sich beide Parteien bemühen, einander zu respektieren und zu verstehen. Dann hörte auch diese unsägliche Selbstverliebtheit der intellektuellen Kreise auf, die sich in esoterischen Zukunftsfantasien ergehen, die jeder Wirklichkeit entbehren.

Oder die Ignoranz der Arbeiter, die glauben, sie wären zu dumm oder es interessierte eh niemanden, was sie denken und die sich deshalb in Games und Realityshows verlieren.

Es braucht Mut zur Veränderung. So wie es jetzt ist, kann es nicht weitergehen, wird es auch nicht weitergehen. Radikale Kräfte werden sich wieder formieren. Deshalb ist es so wichtig, etwas dagegenzustellen. Keine Fantasiewelt, sondern eine lebbare, in der sich Menschen begegnen und finden können ― mit all den Schwierigkeiten, die es zu bewältigen gibt.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Aus dem Buch Sebastian Haffner: Von Bismarck zu Hitler 1987, Kindler Verlag München, Seite 158 bis 160.
(2) Andreas Christoph Schmidt: Was war links, Folge 2 — Dutschke und Konsorten; SWR 2003 ab Minute 42.40.
(3) http://waswarlinks.de/folge2/kommentar2c.htm