Die Mär vom menschenleeren Land

Die Besiedelung rohstoffreicher Gebiete wurde in der Geschichte oft damit gerechtfertigt, dass diese Regionen angeblich unbewohnt seien. Da dem nie so war, wurde mit Vernichtungskriegen „nachgeholfen“.

Menschenleere Territorien hatten schon immer ihre Reize. Eroberer wussten dies zu schätzen. Jeder Eindringling kann dann einen Besitzanspruch stellen. Abgesehen von einer unwirtlichen Natur, gibt es keine Widerstände. Im Bedarfsfall stellte man die gewünschte „Leere“ einfach selbst her. Josef Stalin machte keinen Hehl daraus: „Ein Mensch — ein Problem; kein Mensch — kein Problem.“ Wenn aktuell in der Ostukraine und dem Gazastreifen ganze Territorien verwüstet und entvölkert werden, könnte dies kein kriegsbedingter Kollateralschaden, sondern das eigentliche Ziel sein. Der Pulverdampf soll nicht nur das Morden und die Vertreibung verschleiern: Wo nichts mehr steht, lassen sich Territorien kompromisslos erschließen und die Bodenschätze ungehindert ausbeuten.

Die wenigsten „Entdeckungen“, die europäische Eroberer für ihre Heimatländer beanspruchten, waren so „leer“ wie gewünscht. Es musste also nachgeholfen werden. Das massenhafte Sterben Einheimischer und deren Deportation sind in den Übersee-Kolonien belegt. Im ersten Jahrhundert europäischer Landnahmen „verschwanden“ überall mindestens 95 Prozent der einheimischen Bewohner. Bis heute wird diese dramatische Demografie auch durch unwissentlich eingeschleppte europäische Krankheitserreger erklärt und durch unplausibel niedrige Bevölkerungsdichten vernebelt.

In Analogie zum „leeren“ Land sprach man gerne davon, dass die einheimischen Bewohner ein „jungfräuliches“ Terrain („virgin soil“) für neue aus Europa eingeschleppte Krankheitserreger dargestellt hätten. Es entsprach sowohl katholischen, als auch puritanischen Vorsehungstheorien, dass „jungfräuliche“ Ureinwohner dem Eindringen europäischer Erreger hilflos ausgeliefert gewesen wären. Wenn eine erste Siedlungskolonie auf der Insel Roanoke vor der Küste des heutigen North Carolina „Virginia“ getauft wurde, stellte dies nicht einfach eine Referenz an die jungfräuliche Königin Elisabeth I. dar. Kapitän John Smith (1580 bis 1631), der einige Jahre den ersten Vorposten Jamestown führte, war überzeugt, dass „Gott dieses Land für unsere Nation vorgesehen hat, wenn er die Indigenen an der Pest sterben ließ“.

Ein halbes Jahrhundert nach der Aussage von John Smith gab es allerdings auch bei der großen Pest in London etwa 70.000 Tote. Von einer genetischen Überlegenheit der Bewohner aus der Alten Welt konnte keine Rede sein.

Dennoch werden ungebrochen europäische Krankheiten für das Beinahe-Aussterben indigener Bewohner mitverantwortlich gemacht.

Geändert hat sich in neuester Zeit nur, dass statt der jahrhundertelang angeführten Kinderkrankheiten jetzt auch Salmonellen, Grippe und Tuberkulose aufgelistet werden.

Aber wie hätten die dafür verantwortlich gemachten Erreger bei Indianern, Afrikanern, Aborigines und Maori tödlicher sein können als für die Europäer, die bis heute gegen keine dieser Krankheiten resistent sind? Genetisch bedingte immunologische Nachteile wurden seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder behauptet, bestätigten sich aber bei seither neu entdeckten Volksstämmen nicht. Eine Beinahe-Ausrottung der Einwohner ist schon deswegen unglaubhaft, da Seuchenereignisse in europäischen Städten, die bis ins 17. Jahrhundert unabhängig von den Symptomen als „Pest“ bezeichnet wurden, nirgendwo Städte und Länder entvölkert haben. Und wieso hätten überhaupt die Kolonisten verschont geblieben sein sollen?

Die Widersprüche der Theorie von einem genetisch „jungfräulichen Boden“ sind so eklatant, dass es verwunderlich ist, wie so ein pseudowissenschaftliches Konstrukt unter westlichen Akademikern zu einer Fixposition werden konnte.

Die den Epidemien zugeschriebenen Übersterblichkeiten erklären sich hinreichend durch Mangelernährung, Versklavung, Vertreibung, Mord und Totschlag. Angeblich unvorhersehbare Krankheiten dienten lediglich als Schutzbehauptung für die Eroberer, die nie für ihre Spur der Auslöschung verantwortlich zeichnen wollten.

Vor dem Hintergrund der ungeheuerlichen Kolonialverbrechen christlicher Europäer wird das gleiche Vorgehen auf dem eigenen Kontinent ein Jahrtausend früher gerne vergessen. Schon damals führte man die gleiche Schutzbehauptung vom „leeren“ Land in Mittel- und Osteuropa ins Feld. Erst durch Kolonisten und Mönche hätte das Land urbar gemacht werden müssen. Auch dort bestanden damals weder flächendeckend undurchdringliche Wälder, noch unpassierbare Sümpfe, die hätten gerodet oder trockengelegt werden müssen. Europa war nachweislich überall seit Tausenden von Jahren besiedelt. In den eroberten Gebieten lebten vor allem slawische Völkerschaften, deren Ansiedlungen niedergebrannt und deren Bewohner ermordet, versklavt oder verkauft wurden. Nur Krankheiten hatte man damals noch nicht als Ursache für das Aussterben der Menschen geltend gemacht.

Bis in unsere Zeit werden bevölkerte Gebiete als „leer“ und aufnahmefähig deklariert. In der sogenannten Balfour-Deklaration stellte 1917 das Vereinigte Königreich für Juden aus aller Welt als neues Territorium einen Landstreifen an der Levante in Aussicht, obwohl dort Menschen siedelten. Die seither immer wieder eskalierenden Konflikte waren damit vorprogrammiert wie die unablässige Folge von Revolten der indigenen Bewohner in den vermeintlich „leeren“ Weiten des nordamerikanischen Kontinents vom 17. bis zum 19. Jahrhundert oder im Osteuropa des ausgehenden Mittelalters.

Wenn am Ende eines mörderischen Vernichtungskrieges die Ostukraine und Gaza total verwüstet und frei von Bewohnern — für wen auch immer — zur Verfügung stehen werden, kann der Abbau von Lithium und anderen Bodenschätzen beziehungsweise die Förderung von Gas beginnen.

Menschen und Grundbesitz einzelner Personen werden einer rigorosen Ausbeutung nicht mehr im Wege stehen. Auch Kriege können „leere“ Länder schaffen. 1882 stellte der Historiker Robert Höniger bitter fest, dass „in dieser Welt nichts leichter verschmerzt und rascher ersetzt wird, als der auch noch so bedeutende Verlust an Menschenmaterial“.


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