Die Macht der Autonomie

Das Denken in allgemein gelebten Machtkategorien übersieht das Wesentliche.

Beim Lesen der Artikelüberschrift mag Zweifel aufkommen, ob der Macht autonomen Denkens und Handelns. Doch kommt das aus unserer Filterblase, die Denken in Macht nur in einem bestimmten Kontext sieht, den der Macht als Mittel zur Erziehung von anderen Menschen und Gesellschaften. Das kann Autonomie nicht, doch diese vermeintliche Schwäche der Autonomie ist gerade ihre Stärke. An ihr scheitert nämlich von außen wirkende Macht.

Sprechen wir von Macht, im Sinne von Macht über etwas oder über jemanden, dann sprechen wir vor allem von Alternativlosigkeit. Dabei nützt es nichts, Macht solcher Ausprägung als prinzipiell negative Kategorie zu begreifen. Zumal Träger von Macht, aus subjektiver Sicht, grundsätzlich gute Dinge anstreben – und wir alle sind Träger von Macht und handeln in diesem Sinne.

Von der Macht

Mehr noch gilt das konkrete, auf Macht bezogene Denken und Handeln als ein Muss, eine geradezu heilige Pflicht zur Umsetzung. Sie schließt „unpopuläre“ Maßnahmen ausdrücklich ein und geht bis zur Selbstverleugnung. Machtdenken ist ein permanentes Nachaußenschauen, eine Betrachtung der Umwelt als zu verbessernde Größe unter Ausschließung der eigenen Persönlichkeit.

Die gesamte politische Landschaft unserer Gegenwart basiert auf den Prinzipien von Macht. Das gilt für die Verteidiger wie auch für die Gegner der derzeitigen Politik. „Verteidiger“ und „Gegner“ sind ja auch dialektische Sprachkonstrukte im Rahmen der Macht und haben nur dort einen Sinn. Sie bedingen einander und dieser Sachverhalt erscheint mir sehr, sehr wichtig. Denn jede Demokratie, nicht nur die heutige, ist ein Machtkonstrukt und jede Demokratie konterkariert zu gegebener Zeit ihre ethischen Werte.

Weil sich nämlich jede Demokratie – ganz im Sinne von Macht – als alternativlos begreift und entsprechend anders geartete Konzepte als das eigene prinzipiell in Frage stellt und somit deren Schöpfer als Feinde erkennt.

Sich selbst als tolerant zu feiern und, in der eigenen Alternativlosigkeit gefangen, ständig Feinde zu identifizieren, ist ein Widerspruch in sich. Die Demokratie als ethisches Meisterwerk ist schon daher ein Selbstbetrug, einer, der mit Machtdenken zwangsläufig einhergeht – und das war bereits vor vielen Jahrhunderten in der Demokratie der alten Griechen augenfällig.

Macht ist das Ausleben eines pathologischen Verhaltens; affektiv, ereignisgetrieben und hoch emotional. Macht ist also mitnichten rational. So, wie auch Krieg, einschließlich der Propaganda – als Krieg zur Unterwerfung der Hirne – nicht rational ist. Machtdenken und mit ihm die kleinen und großen Kriege erwachsen ja auch aus einer Emotion. Macht resultiert aus Verlustängsten sowie aufgezwungenen und nicht verarbeiteten Schuldgefühlen. Warum?

Schuld ist eine unglaublich starke emotionale Kategorie. Sie stellt die eigene Persönlichkeit in Frage und legt uns Pflichten auf. Schuld unterwirft sich. Schuld ist der Steigbügelhalter der Macht. Die Schuldgefühle, die wir fast alle mit uns herumtragen, wurden uns im Zuge unserer Sozialisierung von anderen Menschen, meist sogar sehr nahen Menschen, aufgebürdet. Schuld ist seit längerem ein gesellschaftliches Phänomen. Schuldgefühle sind permanent und tief eingegraben, es sind Traumata, mit denen wir ein Leben lang zu tun haben.

Schuld tut etwas, was uns funktionieren lässt; in der Art einer programmierten humanoiden Maschine. Sie konditioniert uns auf mehr oder weniger schmale, uns zugestandene Freiheitsgrade, in denen wir tun und lassen können, was wir wollen. Die Freiheitsgrade sind fremdbestimmt und die subjektiv als total erlebte Freiheit, ist vielmehr die relative, aus der Konditionierung „erlernte“ Freiheit. Da spielen unbewusste Prozesse eine Rolle, die uns erst einmal bewusst werden müssen.

Diese aus Konditionierung nun erlebte Freiheit ist uns gewährt. Es ist keine, die wir in einem aktiven Prozess selbst errangen. Diese Freiheit hat mit Autonomie nichts zu tun. Doch in unserer Filterblase gehen wir von der Absolutheit dieser Freiheit aus. Was wir aber unterschwellig tun, ist das permanente Limitieren der Freiheit unseres Ichs, unseres eigenen Denkens. Wir praktizieren dabei die berühmte „Schere im Kopf“ und portieren aber den Freiheitsbegriff sozusagen nach draußen, aus unserem Ich heraus. So glauben wir auch, andere Menschen von irgendetwas befreien zu können. Die eigene Freiheit und die damit natürlich auch selbst erkannten wie selbst verantworteten Grenzen zu begreifen, zu nutzen, ja auszukosten; davor scheuen wir zurück.

Die – stets von außen – aufgebürdete Schuld und unser Egoismus lassen uns aus kreativem, autonomen Denken leicht in Machtdenken hinübergleiten. Das ist ein uns nicht besonders auffallender Prozess. Wir streben das auch nicht bewusst an. Allerdings sind wir in einem solchen Prozess emotional vereinnahmt. Macht ist ein Potenzial, das genetisch in uns verankert ist. Doch gibt es eine Form von Macht, welche sich von der beschriebenen abhebt und die als Potenzial ebenso in uns schlummert – und das ist eben die Autonomie. Wir sind der Macht im Allgemeinen und der Autonomie im Besonderen fähig; und manchmal praktizieren wir beides quasi gleichzeitig.

Da Macht mit Schuld und unserem Ego zu tun hat, geht es bei ihr immer ums Eingemachte, um unsere eigene Persönlichkeit. So duldet Macht auch nicht wirklich die Niederlage, sieht sie doch dort die pure Existenz der eigenen Persönlichkeit gefährdet. Dabei ist sie das gar nicht. Stattdessen ist es eine ihrerseits mit Macht aufgezwungene Prägung, eine Lähmung des Ichs, die uns Dinge tun lassen muss.

Weil es eine Fremdprägung ist, sind wir im Sinne von Macht auch nicht kreativ. Mit dem Herrschaftsanspruch haben wir alle Hände voll zu tun. Konzepte im Rahmen von Macht sind daher starr und nach außen gerichtet. Auch gute Konzepte, die dann durch Macht vereinnahmt werden, erleiden dieses Schicksal.

Macht lebt von Freund-Feind-Kennung und wertet entsprechend das Denken und Handeln anderer. Macht wertet vor allem ab und delegiert Schuld. Macht sucht geradezu die Macht, um sich mit ihr zu verbünden oder sie zu bekämpfen. Die Alternativlosigkeit von auf Macht beruhenden Konzepten führt fast unweigerlich in den Kampf.

Machtkonzepte sind daher in Bezug auf Friedensbewahrung allenfalls taktische Konzepte. Kurzfristig ausgelegt und nicht die eigenen Konflikte lösend, stabilisieren sie eher die Konflikte auf der gesellschaftlichen Ebene. Wenn die Individuen nicht bereit sind, ihre eigenen Konflikte zu lösen, bleiben doch ganz logischerweise auch die resultierenden gesellschaftlichen Konflikte existent.

Da Macht mit dem Anspruch lebt, zu unterwerfen und ihre Partner die Unterworfenen sind, die auf dieser Basis bereit sind, gegen ureigene ethische Regeln zu verstoßen, ist die Macht prinzipiell nicht nachhaltig friedensfähig.

Zur Autonomie

Macht ist machtlos gegenüber sich selbst, denn dort genau beginnt die Autonomie. Autonomie ist daher die Macht über – und zwar ausschließlich über – die eigene Persönlichkeit, als gelebter authentischer Wille dieser Persönlichkeit. Sie erlaubt tatsächlich selbstbestimmtes Handeln.

Autonomie bedingt Offenheit. So, wie die mit ihr entwickelten Konzepte offen, flexibel und keine Handlungsanweisungen sind. Nein, es sind kommunizierte eigene, tatsächlich gelebte Prinzipien, Erkenntnisse, Theorien. Autonomie lebt vor, statt zu fordern (1). Autonomie ist die ständig vollzogene Veränderung an sich. Sie ist nicht als – Schuld abbauende – Arbeit und aus einer (Selbst-)Verpflichtung hervorgehend zu begreifen, sondern aus Selbstverwirklichung geboren. Autonomie delegiert – im Gegensatz zur Macht – nicht das aktive Handeln. Sie ist transparent und tut die selbstverantworteten Dinge unabhängig und trotz Versuchen der Macht, ihr dieses Handeln zu verbieten. Daher ist Autonomie auch authentisch und vor allem ist sie auch mutig!

Autonomie lebt ohne Institutionen, kann spontan oder auch reflektierend sein. Sie sucht die Kooperation und meißelt trotzdem nichts in Stein. Sie tritt in der Gegenwart auf, ja sie lebt die Gegenwart. Macht dagegen schaut ständig in die Zukunft und trivialisiert die Gegenwart des Alltags. Macht möchte große Massen in Bewegung bringen. Massen, welche die im Selbstverständnis guten und damit alternativlosen Konzepte der Machtbewussten umsetzen sollen. Machtbewusste sind elitär und beseelt, zu manipulieren. Woran man sieht, dass Macht auch den Hang zur Allmacht, zum Größenwahnsinn hat.

Immer wenn es um das Kleine geht, versagt Macht und deshalb verhöhnt sie geradezu missionarisch das wertvolle Kleine, Individuelle, Einzigartige. Denn sie hat Angst vor der unglaublichen Kraft, die hinter der Autonomie steckt. Und so spiegelt Denken in Macht auch die Angst vor dem eigenen Ich und damit die Angst, den Schritt zum autonomen Handeln zu wagen.

Macht fokussiert fast immer auf eine bessere Zukunft. Diese bessere Zukunft ist in der Regel ein groß aufgestelltes systemisches Konstrukt, ein neuerlich aufgestelltes starres Rahmenwerk. Dabei geht es in Wirklichkeit um Besitzstandswahrung in der Gegenwart – und zwar im Denken!

Autonomie dagegen löst Verkrampfungen, schüttet die Gräben zwischen den Menschen zu. Autonomes Denken und Handeln ist von Optimismus geprägt.

Macht meint, Verantwortung für Andere übernehmen zu können, ja zu müssen. Doch wenn es um die eigene Verantwortung geht, scheut diese Macht zurück. Denn sie hat Angst, in den Spiegel zu schauen. Weil sie doch dort Kratzer und blinde Flecken sehen könnte. Weil ihr reines Selbstbildnis zerstört werden könnte, weil man ihr beibrachte, ein Bild mit Kratzern und blinden Flecken, also sich selbst, der man nun einmal so ist, zu hassen.

Daher ist Macht sogar verantwortungslos. Genau dort aber beginnt die Autonomie, sie hasst das Ich nicht, sondern liebt es. Was oder wen man tatsächlich liebt, beschuldigt man nicht, allenfalls verzeiht man ihm. Daher wagt Autonomie das liebevolle „Arbeiten“ an sich selbst.

An Autonomie scheitert Macht. Autonomie stellt sich der Macht nicht als Gegenspieler auf, um in den (gewünschten) Kampf zu gehen. Die Macht perlt ab an der Autonomie. Autonomie erlaubt den wirklichen Blick von außen auf die Filterblase der Macht, das universelle Prinzip der Matrix, die unsere Gesellschaften dominiert.

Für Autonomie kann das gefährlich sein, denn Macht gibt sich nicht damit zufrieden, wenn andere ihr Spiel nicht spielen.

Weil: Macht ist pathologisch.

Macht versucht, ihre (Macht-)Gegner zu unterwerfen. Autonomie dagegen hat für Macht keinen Wert, nicht einmal als Gegner. Weil ja Autonomie diese Rolle nicht annimmt, sondern stattdessen mit Liebe „kontert“. Autonomie bezieht sich auf sich selbst und wirkt damit aber – und eben ohne die Machtausübung – erst recht auf andere Menschen. Verantwortung, die nur diejenige für sich selbst sein kann, ist hoch ansteckend, einfach attraktiv! Das kann Macht (über andere) und die damit verbundenen Systeme in vielen Bereichen unseres Lebens bedeutungslos machen.

So strebt Macht, wie wir sie heute tagtäglich erleben, danach, Autonomie zu vernichten. Autonomie ist für Macht ein störender Fremdkörper im auf Konkurrenz basierten Spiel. Autonomie lässt sich im Kontext dieses Spieles schlicht nicht aufstellen und so bekommt sie von allen (!) in Macht denkenden Seiten Feuer. Die in Macht Gefangenen sind sich nicht bewusst, wie sie auf diese Weise auch und vor allem ihr eigenes Ich, ihren freien Willen bekämpfen.

Sagen wir es noch klarer:

Macht sucht die Autonomie des Menschen zu brechen, um ihn danach in den Kampf zwingen zu können. Dessen Ergebnis ist dann „nur“ die Hackordnung, die Zuordnung von Herrschenden und Unterworfenem innerhalb einer sozialen Gruppe.

Der gelebte Frieden der Autonomie ist unaufgeregt, kleinteilig und vernetzt. Die Konzepte wandeln sich, weil sie eben autonom sind. Damit sind sie jedoch auch achtsam. Zum autonomen Denken gehört daher natürlich auch die Fähigkeit, aus nachhaltig empathischen und reflektierten Gründen Dinge nicht zu tun.

Damit kommen wir aber auch zu den Grenzen der Autonomie und die stellen wir selbst dar. Autonomie kann nicht über die eigene Persönlichkeit hinaus wirken. In dem Augenblick, in dem wir emotionale Trigger, vor allem Schuldgefühle, einsetzen, um andere Menschen „zu überzeugen“, sind wir aus dem autonomen Handeln in das machtbasierte gewechselt. Dann sind wir vom Wollen ins Müssen, von der Freiheit in die Pflicht, von der selbstbestimmten moralischen Verantwortung für das eigene Tun zur moralischen Verurteilung des Tuns anderer übergegangen.

An dieser Stelle sehe ich eine der grundsätzlichen Herausforderungen innerhalb unserer Gesellschaften. Annehmen und Lösen aber kann sie nur jeder Einzelne für sich. Versuchen Sie sich im konstruktiven, Vorbild gebenden autonomen Handeln, statt im aufreibenden, destruktiven Kampf um eine Position im Machtgefüge. Die Veränderung hin zu einer lebenswerten, friedlichen Welt, sie beginnt bei uns selbst und kann jederzeit begonnen und weitergeführt werden.

Bleiben Sie in dem Sinne schön aufmerksam


Quellen und Anmerkungen:

(1) „Fordern“ meint hier auch die subtilen Techniken, bei denen über die Erzeugung oder das Wecken von Schuldgefühlen in anderen Menschen, diese zum Handeln im Sinne der Überzeugung des Manipulierenden gezwungen werden.