Die Lust am Guten

Ethik kann eine auseinander driftende Gesellschaft zusammenhalten. Interview mit Birgit Stratmann, der Mitbegründerin des „Netzwerkes Ethik heute“.

Birgit Stratmann gehört zu den Menschen, die dem Trennenden und Zerstörerischen entgegenwirken und sich für eine friedlichere und gerechtere Welt engagieren. Sie ist Mitbegründerin des Webmagazins „Netzwerk Ethik Heute“, das im Sinne einer besseren Völkerverständigung, Gewaltlosigkeit, Achtsamkeit und Verbundenheit fördert. Für dieses Projekt ließ sie Sicherheiten und Gewohntes hinter sich. Das erfordert Mut. So wie auch die Konfrontation mit der Frage, wie es möglich sein kann, in Zeiten des grundsätzlichen Wandels Hoffnung und Zuversicht zu bewahren. Zwei gute Gründe für die Redaktion Aufwind, sich mit ihr zu unterhalten.

Kerstin Chavent: Liebe Birgit, wie kamst du auf die Idee, ein Online-Magazin zu gründen, in dem es um ethische und existenzielle Fragen geht?

Birgit Stratmann: In einer Gesellschaft, die stark polarisiert ist — rechts gegen links, Wissenschaft gegen Spiritualität, Religion gegen Säkularismus — suchten wir Initiatorinnen nach etwas Verbindendem zwischen Menschen und Kulturen. Ethik kann Menschen verbinden, auch wenn es unterschiedliche Wertvorstellungen gibt. Bei Ethik geht es um Gemeinsamkeiten. Gleichzeitig war es uns ein Anliegen, westliche und östliche Perspektiven zu integrieren, die innere Arbeit und gesellschaftliches Engagement.

Auch waren wir inspiriert von der Idee der „säkularen Ethik“, die der Dalai Lama promotet. Er spricht viel davon, dass Ethik wichtiger sei als Religion und bezeichnet die Ethik sogar als Schlüssel, um viele Probleme in der Welt zu lösen. Ein zentraler Gedanke dabei: Wir brauchen mehr Bewusstheit für innere Prozesse. Denn unethisches Verhalten entsteht oft aus Emotionen, Gedanken und Projektionen, die unbewusst unser Handeln bestimmen.

Was ist mit dem Begriff Ethik gemeint?

Ethik muss von innen kommen, daher unser Slogan: „Ethik ist Herzenssache“. Regeln sind auch hilfreich, ja unerlässlich, wenn Menschen zusammen leben wollen, aber äußerer Druck trägt nicht wirklich. Und auch die Intelligenz reicht nicht immer aus. Wir sind schlau und wissen viel, aber dann hapert es an der Umsetzung oder es fehlt an Mitgefühl.

Nehmen wir zum Beispiel die Klimakrise: Wir kennen die Fakten, wir wissen um unsere eigenen Anteile daran — aber trotzdem schaffen wir es nicht, unsere Lebensgrundlagen zu schützen. Wir fliegen, wir konsumieren und leben über unsere Verhältnisse. Genau das spiegelt sich auch auf politischer Ebene, wo es nicht gelingt, wirksame Maßnahmen zu beschließen, weil immer alles andere wichtiger ist. Und auch, weil es uns an Mitgefühl für nachfolgende Generationen mangelt. Wir kreisen immer um unsere eigenen kurzfristigen Bedürfnisse — das kenne ich nur zu gut aus eigener Erfahrung (lacht).

Daher die Idee, auf innere Quellen, wie Achtsamkeit, Weisheit, ein Gefühl der Verbundenheit zu setzen, um Lösungen auch für gesellschaftliche Probleme zu finden — natürlich in Kombination mit politischen Veränderungen. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die glauben, man könne den Klimawandel wegmeditieren. Die Frage ist aber: Wie motivieren wir uns zu einem Handeln, das dem Gemeinwohl dient? Ethik kann die Gesellschaft zusammenhalten, über alle Differenzen hinweg.

Achtsamkeit und Meditation sind heute auch in der westlichen Industriegesellschaft bekannte Praktiken. Inwiefern hilft östliche Praxis, die tiefgreifenden Veränderungen, mit dem wir heute konfrontiert sind, zu leben?

In dieser stressigen, schnelllebigen Gesellschaft ist es nicht leicht, zu sich zu kommen und sich mit dem zu verbinden, was uns als Menschen auf einer tieferen Ebene ausmacht. Unsere „inneren Quellen“ sind wie verschüttet.

Im „Netzwerk Ethik heute“ haben wir ein interdisziplinäres „Weisheitstraining“ entwickelt, um Zugang zu diesen Quellen zu ermöglichen. Achtsamkeit und Meditation sind Teil davon, aber eben nur ein Teil. Denn wir brauchen auch die Philosophie, das tiefere Nachdenken und den Dialog mit anderen über existenzielle Fragen: Was ist für mich ein gutes Leben? Wie kann ich meine tieferen menschlichen Bedürfnisse sehen und mit den Interessen anderer in Einklang bringen? Wie kann ich mich mit anderen verbinden und mehr zum Wohl des Ganzen wirken?

Wir müssen erst mal zu uns kommen. Aussteigen und wie Thoreau in den Wäldern leben, ist für die meisten keine Option, denn wir wollen ja gerade in die Gesellschaft hineinwirken. Aber das Leben verlangsamen, mehr Raum für Muße haben, das ist ein guter Anfang.

In unserer Zeit braucht es Mut, um die Hoffnung nicht zu verlieren. Es macht Angst, die globale Zerstörung zu beobachten. Auf welche Weise nährt das Netzwerk Ethik heute den Mut, hinzusehen und jenseits des Augenscheinlichen Lichtvolles zu erkennen?

Zuversicht zu haben ist eine Entscheidung — und zwar eine, die ich jeden Morgen wieder neu treffe. Denn es ist sinnlos, sich in Pessimismus und Katastrophisieren zu ergehen. Das macht keinen Spaß und schwächt nur.

Jehuda Bacon sagte einmal: „Zum Guten gibt es keine Alternative“. Daher lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf das Gute, auf die Menschlichkeit — und seien es kleine Gesten und Initiativen.

Der Arbeit unseres Online-Magazins liegt diese Haltung zugrunde. Und so veröffentlichen wir Beiträge, die Mut machen, die Zuversicht stärken und Hoffnung in die Welt bringen.

Das heißt nicht, dass wir die Augen vor Missständen verschließen. Klimakrise, Rassismus, Demokratiefeindlichkeit, Ungerechtigkeit — all das besorgt uns zutiefst. Aber wenn wir es thematisieren, dann in dem Glauben, dass es Möglichkeiten zur Transformation gibt. Oft hilft es, Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. So veröffentlichen wir Artikel, die aus einer jeweils anderen Perspektive geschrieben sind. Jedenfalls ist das unser Anspruch.

Vor allem geben wir viele Beispiele von Menschen, die das von Menschen gemachte Unglück nicht hinnehmen und dem etwas entgegensetzen: in der Wirtschaft, mit kleinen Projekten oder gesellschaftlichem Engagement. Aus diesen Beispielen entsteht die Kraft, etwas zu tun, statt tatenlos zuzuschauen. Denn wir müssen ins Handeln kommen, gemeinsam mit anderen politisch handeln, wenn wir den zerstörerischen Systemen etwas entgegensetzen wollen.

Das Bewusstsein ist die Voraussetzung dafür, dass sich auch in unserer äußeren Welt etwas verändert. Mit welchen Initiativen wirkt das Netzwerk Ethik heute darauf hin, dass die Menschen auch im Außen friedlicher zusammenleben?

Wir verbinden die innere Arbeit mit gesellschaftlichem Engagement. Das ist unser besonderer Ansatz. Denn meistens sind in unserer Gesellschaft beide Welten getrennt: Die einen meditieren, schotten sich ab und wollen am liebsten vor dem Chaos davonlaufen. Die anderen engagieren sich politisch oder gesellschaftlich, brennen aus und verlieren sich manchmal in den vielen Aktivitäten.

Mit unseren Artikeln zeigen wir, wie beides Hand in Hand gehen kann und sich gegenseitig stärkt. Auf unseren Veranstaltungen vernetzen wir Menschen, die an Wandel interessiert sind. Wir sammeln Menschen um uns, die etwas verändern wollen und die das in ihrem Leben auch wirklich tun — zum Beispiel einen Karrieresprung auslassen, um sich anderweitig zu engagieren, oder mit einer anderen Haltung arbeiten, zum Beispiel als Lehrer oder Unternehmerin.

Entweder wir gehen alleine als Narren unter oder wir schaffen es zusammen. Welche Möglichkeiten der Vernetzung gibt es, damit es gelingen kann, gemeinsam den Schritt in eine neue Gesellschaftsform zu schaffen, der uns bevorsteht?

Ich glaube nicht an einen großen Schritt in eine neue Gesellschaftsform. Es wäre so, als würden „die Guten“ irgendwann die ultimative Gesellschaftsform beschließen und alle anderen zu ihrem Modell des Guten „bekehren“. Das wäre gefährlich.

Veränderungen geschehen organisch. Jeder Mensch beginnt da, wo er gerade steht. Und möglicherweise gibt es eine kritische Masse, die vorangeht. In jedem Fall ist die Kombination aus Selbstreflexion, die Arbeit am eigenen Bewusstsein und Handeln entscheidend. Besonders politisches Handeln ist wichtig, um zerstörerische Strukturen zu transformieren.

Die Ethik kann ein Schritt in diese Richtung sein, denn sie zwingt mich, weiter zu denken und nicht nur um mich selbst zu kreisen. Wenn ich ethisch leben und am Ende meines Lebens zufrieden sein will, muss ich mich zu fragen, wie ich die Interessen anderer mehr berücksichtigen kann, aber auch, wie ich durch mein Verhalten zum Beispiel an Umweltzerstörung und Ausbeutung beteiligt bin und was ich dagegen tun kann.


Das Netzwerk Ethik heute ist eine Plattform für den Dialog über ethische Fragen, unabhängig von Religion. Es betreibt ein kostenloses Online-Magazin, fördert den interdisziplinären Austausch über ethische Fragen und vernetzt Menschen, die an einem Bewusstseinswandel interessiert sind. Gerade erschien dazu im Scorpio Verlag das Buch von Birgit Stratmann: Die Lust am Guten.


Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.