Die Löwin brüllt
Eine Kraft erwacht in uns, die es uns ermöglicht, gemeinsam etwas Neues zu erschaffen.
„Die Frau sei dem Manne untertan.“ So lautet ein Satz im 5. Kapitel des Epheserbriefes, der in der Vergangenheit für viel Entrüstung gesorgt hat. Auch wenn wir nicht an die Geschichte mit der Rippe glauben: Das Frauenbild unserer Zivilisation ist von Eva geprägt, der Frau, die bis heute deutlich weniger verdient als der Mann, die weit schwerer an der Doppelbelastung Arbeit und Familie trägt und die wesentlich häufiger als er Opfer vor allem männlicher Gewalt wird. Wenn manche Frauen es mit Quotenregelung und dem Nachahmen männlichen Konkurrenz- und Dominanzverhaltens auf Führungsposten schaffen, spielt Weiblichkeit im Weltgeschehen eine untergeordnete Rolle. Unsere Zivilisation ist vor allem männlich geprägt. Die Erinnerung an einen Mythos aus uralter Zeit stellt uns vor die Frage, ob wir in einem System aufsteigen, das seit Jahrtausenden sein zerstörerisches Potenzial beweist, oder ob wir aus ihm aussteigen wollen.
Mit etwa 2,5 Milliarden Anhängern weltweit ist das Christentum die am weitesten verbreitete Religion auf der Erde. Auch wenn wir nicht mehr an die Geschichte mit der Rippe glauben: Der Schöpfungsmythos von Adam und Eva ist weitreichend bekannt. Sie sollen die ersten Menschen gewesen sein. Doch kaum jemand weiß, dass Eva nicht die erste Frau Adams war. Vor ihr gab es Lilith: die, die beim Liebesakt oben liegen wollte.
Während Eva in gewisser Weise ein Klon Adams war, entsprang Lilith wie er dem Schoß der Mutter Erde. Sie war dem Mann gleichgestellt und wollte nichts von Untertänigkeit wissen. Demnach hat es vor der Genesis, dem ersten Buch der jüdischen Tora und der christlichen Bibel, eine Zeit gegeben, in der die Frau nicht darauf reduziert war, unter Schmerzen die Nachkommen des Mannes auf die Welt zu bringen und seine schmutzige Wäsche zu waschen. Es muss eine Zeit gegeben haben, in der sie nicht brav am Herd gestanden hat, während er auf die Jagd ging — eine Zeit, in der beide Geschlechter sich auf Augenhöhe begegneten und niemand sich dem anderen unterwarf.
Bevor eine Erzählung zum Mythos wird, vergeht eine lange Zeit. Unzählige Male musste diese Geschichte erzählt worden sein, bevor sie in schriftlicher Form festgehalten wurde. Doch kaum jemand spricht heute von einem frühen gleichberechtigten Miteinander. Während jeder weiß, wer Eva war, ist Lilith oft nur, wenn überhaupt, als Kleidermarke oder als rassige Science-Fiction-Heldin bekannt.
Beiden gemein ist, dass sie in der Geschichte nicht gut wegkommen. Die sündige Eva wurde zu einer Art Gebärmaschine, die dafür zu sorgen hatte, dass der Name des Mannes weitergetragen wurde. Als Heilige tauchte sie nur dann auf, wenn sie gewissermaßen ihre Weiblichkeit abgelegt und den fleischlichen Gelüsten entsagt hatte. Als Hausfrau oder als Hure stand sie abwechselnd am Herd oder auf dem Scheiterhaufen. Bis heute macht sie die Drecksarbeit, die keiner sieht und die dem Mann den Rücken freihält — damit er in einem Konkurrenzkampf bestehen kann, der so alt ist wie die Geschichte mit der Rippe.
Verdrängt
Lilith ereilte ein anderes Schicksal. Nachdem sie sich geweigert hatte, sich zu unterwerfen, war sie vor einem Mann in die Wüste geflohen, der, anstatt seine Beziehungsprobleme selber zu lösen, den großen Vater anrief. Jahwe, vom ursprünglichen Berggott zum göttlichen Übervater avanciert, schickte der Aufmüpfigen drei Engel hinterher, die sie im Roten Meer ertränken sollten. Lilith überlebte. Doch sie bezahlte einen hohen Preis. Sie wurde zur Aussätzigen, zu einer Dämonin, die die Männer im Schlaf verführt und Frauen und Neugeborene im Kindbett tötet.
Nachdem Lilith als Nachtgestalt im kollektiven Unbewussten verschwand, hat es auch Eva nicht weit gebracht. Zwar darf sie hierzulande ohne Erlaubnis ihres Mannes arbeiten gehen, wählen und ein Bankkonto eröffnen. Zwar nimmt sie die Pille, sodass sich die Männer überhaupt keine Gedanken mehr über Verhütung zu machen brauchen. Zwar sitzen manche Frauen in Chefetagen. Doch zu wirklicher Gleichberechtigung hat die Frauenbewegung nicht geführt, seit sie vom Gender Mainstream verdrängt wird.
Wer heute davon spricht, dass es „nur“ zwei Geschlechter gibt, kann Ärger mit der Justiz bekommen. Alle sind irgendwie alles zusammen und können ihr Geschlecht wechseln wie ihr Hemd.
Alles ist gesellschaftlich anerzogen. Während die Biologie durch die Soziologie ersetzt wird, werden Männer und Frauen immer unfruchtbarer (1). Kaum noch jemand spricht von „Eltern“ oder „Familie“. Das Wort „Mutter“ wird durch „gebärende Person“ ersetzt. Jeder soll jetzt Kinder bekommen können. Ist es nicht ein Zeichen der Gleichberechtigung, dass alle die gleichen Möglichkeiten haben? Warum sollten gleichgeschlechtliche Paare auf Kinderglück verzichten?
Immer stärker wird die Frau als Gebärende verdrängt. Immer mehr schwindet ihre ursprüngliche Schöpferkraft. Über künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft wird das Leben eines Menschen ein Geschäft wie jedes andere. Der künstliche Uterus ist kaum noch Zukunftsmusik. Schon arbeiten clevere Unternehmer daran, in Geburtsfabriken Tausende Menschen künstlich heranzuzüchten (2). Nachhaltig, und ganz im Sinne des Green Deal.
Stein um Stein
So weit haben sich Mann und Frau voneinander entfernt, seit Lilith in die Wüste gegangen ist, dass beide ihre natürliche Schöpferkraft verlieren und letztlich von der Maschine verdrängt werden. Die Weigerung des Mannes, die Frau als ebenbürtige und gleichberechtigte Partnerin anzuerkennen, ist der Grundstein einer Gesellschaftsform, in der das Ursprüngliche keine Chance hat. Gnadenlos wird nicht nur die Frau, sondern die ganze Natur unterjocht. Alles — Menschen, Tiere, Pflanzen, Landschaften, Elemente — wird durch den männlichen Herrscherdrang kontrolliert.
Nicht nur die Frau soll unten liegen. Macht euch die Erde untertan. An die Stelle einer alles umfassenden, lebensspendenden Muttergöttin war ein alleinherrschender Vatergott getreten, ein strenger Richter, eine Art Weltraumpolizist, dem sich alle zu unterwerfen hatten.
Aus Fürsorge wurde Dominanz, aus sich selbst organisierenden Lebensgemeinschaften Staaten, und aus Kooperation Krieg (3). Was ursprünglich zusammengehörte, wurde auseinandergenommen und in seine Einzelteile zerlegt, Natürliches durch Künstliches ersetzt und schließlich Menschliches zu Unmenschlichem gemacht.
Stein um Stein wurde die Mauer errichtet, die alles voneinander trennt. So können wir nicht mehr sehen, was wirklich ist. Wir haben keinen Überblick mehr und können die Wahrheit nicht mehr von der Lüge unterscheiden. Die meisten von uns scheinen tatsächlich zu glauben, dass wir auf dem Weg zu mehr Toleranz, mehr Gleichberechtigung und mehr Frieden sind. Sie verschlucken sich nicht an den Genderformen und lassen ihre Muttersprache derart zerhacken, dass auch in ihr nichts Fließendes mehr bleibt, nichts Weiches, nichts Harmonisches. Nichts Weibliches.
Auf der digitalen Treppe steigen sie hinab in ein Nichts, in das ein Jahrtausende währendes Patriarchat die Menschheit führt (4). Ihre erste Stufe waren ein Mann, der nicht den Mut hatte, der Frau auf Augenhöhe zu begegnen, und eine Frau, die sich in die Wüste zurückzog und nur im Verborgenen noch in Erscheinung trat.
Die Zeit vor der Zeit
Doch Lilith, die ewig Junge und Verführerische, hat überlebt. Ihr Name erinnert daran, dass die Geschichte noch nicht zu Ende ist. An ihrem Höhepunkt, in einer Zeit, in der die Menschheit vor der Gefahr ihrer eigenen Auslöschung steht, stellt sie beide, Männer und Frauen, noch einmal vor die Frage: Bist du bereit, mich jetzt anzuschauen? Hast du den Mut, mir auf Augenhöhe zu begegnen? Erkennst du an, dass wir aus demselben Stoff gemacht sind, von derselben Mutter geboren? Verstehst du endlich, dass wir alle zur Menschheitsfamilie gehören und keiner geringer ist als der andere?
Von der Antwort, die wir auf diese Fragen geben, hängt unsere Zukunft ab. Nur wenn es uns gelingt, in echte Partnerschaften zu finden, können wir den Teufelskreis durchbrechen, in den wir geraten sind, seit wir eine Welt ohne Mangel und ohne Angst hinter uns gelassen haben. Lilith kennt noch diese Zeit. Sie kann uns noch davon erzählen, wenn wir bereit sind, ihr zuzuhören. Sie weiß noch um eine Zivilisation, in der das Nährende, Schützende, Fürsorgliche im Zentrum des Lebens stand und Frauen und Männer einander vertrauten.
Wer sich mit Matriarchatsforschung befasst, weiß, dass es nicht schon immer Kriege gegeben hat (5). Der Mann hat nicht schon immer die Frau dominiert. Die Menschen haben sich nicht schon immer die Natur untertan gemacht. Über sehr lange Zeit haben Frauen und Männer in dem Rhythmus gelebt, den die Natur vorgab. Auch wenn uns heute das Gegenteil erzählt wird: Frieden ist möglich. Und er wird nicht durch Krieg herbeigeführt.
Total verdreht
Seit Mann und Frau nicht mehr zusammen gehen, haben sich auch die anderen Pole verschoben. Nicht mehr das Ergänzende steht sich gegenüber, sondern das, was sich gegenseitig ausschließt. So versuchen wir heute vergeblich, Freiheit durch Sicherheit zu erreichen, Gleichheit durch Kontrolle, und Frieden durch Krieg. Es funktioniert nicht. Es kann nicht funktionieren. Denn darauf ist es nicht ausgerichtet. Jedes Herrscherstreben dient immer nur einer Seite. Damit kippt das Ganze. Es kann sich nicht im Gleichgewicht halten.
Der Apfel vom Baum der Erkenntnis, den Eva Adam reichte, ist verfault. Diese Art Mann und diese Art Frau waren nicht reif für ihn. Ein Mann, der nach dem Vater ruft, damit der seine Probleme regelt, und eine Frau, die ihre wahrhaftige Schöpferkraft vergessen hat, können zusammen keine friedliche Welt aufbauen. Beide haben sich darin verausgabt, im Außen nach den Antworten auf ihre Fragen zu suchen. Beide haben nach oben geschaut — anstatt nach innen.
Letztlich haben sich beide unterworfen: die Frau dem Mann und der Mann einem alleinherrschenden Übervater. Ob Gott oder Gott in Weiß: Der Mann beugt sich vor einer Macht, von der er sich erhofft, dass sie ihn unsterblich macht.
Mit aller Gewalt versucht er, die ursprünglichen weiblichen Zyklen zu überwinden, die auch sein eigenes Ende miteinschließen. Dem Leben hat er den Tod gegenübergestellt und vergessen, dass Geburt und Sterben zusammen das Leben sind.
Mit Zähnen und Klauen
Er hat sich verstiegen in die verführerischsten Phantasien, mit allen Mitteln seinen irdischen Leib zu bewahren. Er hat ja nur ihn, so glaubt er. In seiner Welt gibt es nur die Materie. Seine Seele hat er einem Teufel verkauft, der ihm eingeredet hat, er könne alles beherrschen, auch den Tod. Seit Jahrtausenden rennt er der Vorstellung hinterher, diesen größten aller Affronts gegen seine Existenz besiegen zu können.
Immer wieder muss er den Leib derjenigen quälen und schänden, in deren Armen er gleichzeitig Trost und in deren Schoss er das verlorene Paradies sucht. Ihre Kraft zu gebären, versucht er ihr abzuluchsen, um sich der Illusion hinzugeben, er könne den Kräften der Natur doch noch irgendwie entkommen. Altäre und Paläste hat er einer Technologie errichtet, die ihn vor dem Vergehen retten soll. Anstatt die Frau zu schützen, die das Leben in sich trägt, vergöttert er die Maschine, die es so viel besser können soll als der Mensch.
So wird er schließlich alles verlieren, und die Frau mit ihm, die sich dieser Bewegung nicht widersetzt. Eine Frau, die wie der Mann danach strebt, der Boss zu sein, hat dieser Entwicklung nichts entgegenzusetzen. Es braucht eine Frau wie Lilith, die hier Einhalt gebieten kann, wild und schöpferisch — eine Frau, die weder Tod noch Teufel fürchtet. Sie tut es nicht aus Überlegenheit, sondern deshalb, weil sie sich ihrer eigenen Kraft bewusst ist und sich nicht im Außen abarbeiten muss.
Hingabe
Diese Frau beugt sich vor keinem Mann und vor keinem männlichen Gott. Denn sie weiß, dass sie göttlich ist. Sie kennt die Namen des Höchsten und sie spricht sie aus. Jeder Art von Kontrolle entzieht sie sich. In voller Größe steht sie da in ihrer ursprünglichen Schöpferkraft und tritt auf Eva zu. Nicht, um sie und ihre Kinder zu töten, sondern um mit ihr zusammen Adam abholen zu gehen. Als Schwestern treten sie dem Mann entgegen und bieten ihm an, ihnen zu folgen.
Nicht in die Verdamnis werden sie ihn führen, sondern in ein neues Paradies, das entstehen kann, wenn Mann und Frau erneut zusammenwirken: sie als Trägerin des neuen Lebens, er als ihr Beschützer.
Anstatt Maschinen zu programmieren und zu bedienen, lernt er, Liebe zu machen. Er fürchtet nicht mehr, auch unten zu liegen, und lässt sich von ihr zu dem anleiten, was seinem allerhöchsten Wohle förderlich sein wird: Hingabe.
Mit ihr zusammen entdeckt er, dass auch der Tod keine Bedrohung ist, die es zu besiegen gilt. Der Tod gehört zum Leben wie das Weibliche zum Männlichen. Gemeinsam erleben sie das Mysterium, dessen Teil sie sind. Und sie fürchten das Unbekannte nicht, das sie so lange zerlegt haben, um es zu ergründen. Sie haben es nicht gefunden. Im Kleinen wie im Großen: Das Rätsel des Lebens ist nicht gelöst. Bis heute haben wir nicht geklärt, was Leben eigentlich ist. So können wir endlich damit aufhören, es weiter zu zerstören, um stattdessen gemeinsam die Freude am Leben neu zu erkunden.