Die Leere zwischen zwei Buchdeckeln
Bücher werden zwar noch fleißig gedruckt, doch auf Grund von Überkommerzialisierung und Anpassungsdruck drohen sie ihren Geist auszuhauchen.
Die gute Nachricht ist: Trotz Internet, neuer Medien und der angeblich notorischen Lesefaulheit der Jugend stirbt das Buch so schnell nicht aus. Die schlechte ist: Womöglich gibt es gar nicht mehr so viele Gründe, zu wünschen, dass das Buch überlebt. Das typisch verlegerische Spannungsfeld zwischen ästhetischem oder weltanschaulichem Ideal einerseits und der Notwendigkeit, wirtschaftlich zu überleben, andererseits ist in den meisten Fällen aufgehoben — zugunsten eines Endsiegs des Kommerziellen. Dazu kommt ein gestiegener Anpassungsdruck an Autoren, die sich im Medienzirkus behaupten müssen. Und in diesem wird auch nach politischer Korrektheit selektiert. Zudem verwandeln sich immer mehr vormals harmlose Wörter der deutschen Sprache in Stolperfallen, über die der unbedarft Schreibende stürzen kann. Und: Wenn etwas gedruckt wird, heißt dies noch lange nicht, dass es gelesen, geschweige denn verstanden wird. Eine launige Betrachtung über gegenwärtiges Büchermachen im Gegenwind des Kulturverfalls.
Auch Propheten und Unken schwächeln — länger schon. Nicht erst die Zeit altreligiöser Hochkultur, auch die jüngste neureligiöse Vergangenheit offenbarte den jämmerlichen Zustand der Prophetie wie der Unkerei. Reichlich — dabei nahezu rauschhaft einander sich immer gegenseitig übertreffend — bescherten die „Seher“ in Medien und Politik falsche Voraussagen. „Wir schaffen das“, orakelte die ehemalige Staatsratsvorsitzende — oder war es die Bundeskanzlerin? — völlig sinnfrei vor sich hin. Die parlamentarischen Blockparteien aber nickten ein verzückt-entrücktes Ja dazu. Der mediale Kosmos, rauschhaft und plötzlich geheimnisvoll, zudem durch staatlichen Geldsegen korrumpiert, geschwisterlich vereint, pries die prophetische Kunst und regte zur Nachahmung an.
Berufene fanden sich urplötzlich zuhauf, religiöse Ekstase entflammt(e) ungehemmt. Bald folgte die generelle Haftstrafe für den mittlerweile seit Jahrzehnten schon narkotisierten und entmündigten Bürger. Es war letztlich eine Haftstrafe — von Schönrednern Lockdown genannt — ohne Ankündigung, ohne Bewährung, ohne Angabe der Dauer.
Die Berufenen bezogen sich dabei auf die Wissenschaft: Millionen Tote weissagte man für die unmittelbare Gegenwart. Aber institutionelle Glaskugeln verrieten zugleich: Masken würden helfen, unablässiges Händewaschen auch, Abstände dazu, leere Parkbänke würden helfen, verwaiste Spielplätze unbedingt. Geschlossene Restaurationen und Hotels, Spelunken ohnehin, würden unbedingt helfen.
Natürlich gehörten ferner die Kulturstätten verschlossen. Theater, Museen, Lichtspielhäuser waren schließlich immer schon verdächtig, Brutstätten einer wie auch immer gearteten Bedrohung zu sein. Bildungsstätten, ob die Schule oder Universität, ob die Bibliothek, selbst noch die Kindertagesstätte, sind hermetisch abzuriegeln. Das Virus der gedanklichen Offenheit und Freiheit verbreitet sich solcherorts zu ungeschützt. Kondome schützen! Unisono bellt man dann und kritzelt es an jede Litfaßsäule und Plakatwand: Impfen schützt, hilft und heilt! Zumal, der „Impfstoff“ sei völlig nebenwirkungsfrei. Impfschäden kann es somit keine geben. Impfverweigerung hingegen käme kaltblütigem Mord gleich.
Solide honorierte Promis aller Sparten betätigen sich dann selbst als Vorhersagende, freu(t)en sich über ihre neue Rolle als Sinn- und Heilsmittler. Doch die meisten Propheten blieben, was sie häufig im historischen Rückblick waren: Scharlatane. Längst aber sind — erneut völlig ungeniert, Reputation hin oder her — die nächsten, häufig dieselben Propheten und Unken ins Rampenlicht getreten und künden von Klimarettung, Klimawandel, Klimagerechtigkeit. Apokalyptik verwirbelt sich mit einer Portion Zuversicht à la „Wir schaffen das“ — anhaltend „geistferne Zeiten“, so Hans Wollschläger,. Zudem begegnet dem Beobachter unerbittlich eindrucksvoll das kurze Gedächtnis des Menschen, wie die Altvorderen jedoch schon immer wussten: „Eine Generation geht, eine andere kommt“ (Koh. 1,4).
„Des vielen Büchermachens ist kein Ende“
Gelegentlich aber gab es — wenigstens punktuell — erstaunliche Weitsicht. Vom weitsichtigen Autor indes weiß man nichts, seine Prophezeiung schlitterte dennoch in den Kanon religiöser Texte und fand Eingang im Buch Kohelet: „des vielen Büchermachens ist kein Ende“, heißt es dort (12,12).
Selbst der Siegeszug des Fernsehens rund um den Planeten und der damit einhergehende Unkenruf vom Tod des Buches — wiederholt bei Einführung der CD-ROM und des E-Books — konnte diesem nichts anhaben. Die Schreib- und Veröffentlichungslust jedenfalls scheint ungebremst und so ließe sich vermuten, es gäbe demnächst mehr Autoren denn Leser. Tatsächlich erweisen sich seit Jahrzehnten die Zahlen der Buchproduktion allein für Deutschland als beeindruckend.
Schon für 1951 gibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels die Gesamtmenge der erschienenen Bücher mit 14.094 an, davon erschienen in Erstauflage 10.149 Bücher und 3.945 Titel erlebten eine Neuauflage. Nahezu gigantisch wuchs die Zahl der erschienenen Bücher im Jahre 2007: 96.479 wurden insgesamt gezählt, in der Erstauflage erblickten das Licht der Laden- und Versandtische 86.084, für 10.395 Werke gab es eine Neuauflage. Kein Ende des Büchermachens jedenfalls auch in den Jahren 2020 und 2021, der Zeit „pestilenzielle(r) Wirklichkeit“, wie Heinrich Heine diese Jahre wohl einmal mehr benennen würde. 77.272 beziehungsweise 71.640 Bücher erschienen insgesamt. 69.180 Novitäten waren im Jahre 2020 darunter und im Jahr darauf waren es noch immer stattliche 63.992 Bücher in der Erstauflage.
Der Rückgang der Buchproduktion wird allerdings nicht mit mangelnder Qualität der Inhalte in Verbindung gebracht, denn schlechte Bücher gab es wohl immer schon mehr als gute. Es ist also durchaus nichts Neues beobachtbar und ebensowenig Außergewöhnliches, man druckt fleißig weiter viel, gleichgültig, ob die Bücher zur allerorten gepriesenen Nachhaltigkeit taugen und die Gegenwart nennenswert überleben.
Längst scheint das Büchermachen keine Liebhaberei mehr zu sein, die einen ernstem Hintergrund besaß, als vielmehr ernster Hintergrund nur noch, allerdings gänzlich ohne Liebhaberei.
Für den Börsenverein jedenfalls begründet sich die Abschwächung der Buchproduktion rein ökonomisch: „Die lange, akute Pandemiephase mit Kurzarbeit und vielen wirtschaftlichen Unwägbarkeiten dürfte dabei eine Rolle spielen — aber auch der digitale Wandel, vor allem im Fachbuchsegment.“ Die Sorge um die alte Prophezeiung scheint somit unbegründet, das aktuelle Zahlenwerk spricht für sich.
Literarische Beglückungen
Welcher Verlag wollte auch verzichten auf seine „Bestsellerautoren“ und so bedeutungsschwere Werke wie etwa: „Von hier an anders: Eine politische Skizze“ von Robert Habeck, der Leser wird in der neuen Auflage, nun im Taschenbuch, sogar „mit [einem] aktuellem Nachwort“ belohnt oder das Schwergewicht „Wer wir sein könnten: Warum unsere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache braucht“, auch diese Neuausgabe erscheint, ebenfalls im Taschenbuch, „mit aktuellem Nachwort“. Entsetzlich wäre der Verlust solcher Bücher wie der von Annalena Baerbock: „Jetzt: Wie wir unser Land erneuern“ oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann: „Streitbar: Was Deutschland jetzt lernen muss“.
Unentbehrlich auch die Titel „Wir werden einander viel verzeihen müssen“ von Jens Spahn oder „Hoffnungsland: Eine neue deutsche Wirklichkeit“ von Olaf Scholz. Frappierend wäre es geradezu, hätten die richtungsweisenden Titel „Aufstehen statt wegducken: Eine Strategie gegen Rechts“ von Heiko Maas und die „Erschütterungen“ des Joachim Gauck, dem besten Kenner des von ihm so benannten „Dunkeldeutschland“, nicht erscheinen dürfen. Nach all dieser intellektuellen Herausforderung und Aufwühlung bedarf es des Trostes, nicht etwa eine „billige Beschwichtigung“. „(D)ie Seele (muss) hinterherkommen“.
Was eignet sich also besser als ein gutes Glas weißen oder roten Weines dazu, um dann einzutauchen in den Genuss der seelsorgerischen Meisterwerke „Vergebung — Die befreiende Kraft des Neuanfangs“, „Nur Mut! — Die Kraft der Besonnenheit in Zeiten der Krise“ oder „Sorge dich nicht Seele“ von Margot Käßmann?
Wer also wollte sich vorstellen, es könnte gar die Phantasie — „Bücher sind ein fürchterlicher Humbug. Deshalb verbrennen wir sie“ — aus dem Roman Fahrenheit 451 von Ray Bradbury zum Politikum werden? Freilich, der Romancier Bradbury hatte Titel vor Augen, die tatsächlich irgendwie bedeutsam für eine Gesellschaft sein könnten, die gar Konzepte und die Denkweisen der Gesellschaft beeinflussen. Sein Augenmerk lag auf Werken, die Ansporn zum selbständigen Denken waren und damit aus der von Immanuel Kant konstatierten „Unmündigkeit“ führten.
Im selbständigen Denken liegt für die herrschende Staatsdoktrin die natürliche Quelle allen Übels. Geringer dürfte freilich die Gefahr der Buchproduktion ausfallen, wenn die Autoren ohnehin nicht für eine — gar ihre — Leserschaft schreiben, sondern lediglich den eigenen Lebenslauf schmücken wollen.
Auch die Produktion von Büchern, die nicht gelesen werden (müssen), brauchte dann keine staatliche Regulierung, denn Kunstbände, Atlanten, Wörterbücher, Anthologien, Lexika, Ratgeber, Kochbücher, Bibliographien sind unverdächtig — als massenhafte Gebrauchsgegenstände — sich der herrschenden Politik entgegenzustemmen. Autodafés erübrigten sich somit — dieser Verzicht schonte zudem enorm die Umwelt.
Der Erwachsene, das späte Kind
Scheitern könnte die Prophetie aus dem Buch Kohelet dennoch und dem Büchermachen — dem Buch als Kulturgut — das Ende bereitet werden, denn die Freiheit der Literatur wird bedroht, eine Freiheit, die mit dem Wort wie auch dem Thema beginnt. Eine hysterische, angeblich besonders sensible Minderheit eröffnete vor Jahrzehnten bereits den (Kultur-)Kampf um das Wort. Ihr Kreischen indes wurde nicht zuletzt durch sogenannte „soziale Medien“ hörbarer.
Das selbstverständliche Vokabular der Muttersprache ist urplötzlich hochinfektiös, überall wabern in ihm Rassismus, Antifeminismus, Nazismus.
Nicht unerheblich ist es mittlerweile, wer welchen Stoff bearbeiten darf, die Kriterien sind ausgemacht: Geschlecht, sexuelle Orientierung, Herkunft, Hautfarbe. Identitätspolitik wird zum Leitgedanken in den Verlagen, Diversität wird zur neuen „ästhetischen“ Kategorie erhoben. „Betreutes Lesen fängt beim kuratierten Schreiben an“, weiß der Schriftsteller Matthias Politycki.
Seit Jahren bemühen sich Verleger, Verlage wie Autorenschaft inzwischen darum, dem einstmals aufgeschlossenen Leser dessen Neugierde auszutreiben und seinen Erwartungshorizont drastisch zu verengen. Das Buch „KompaktWISSEN Sexualpädagogik für sozialpädagogische Fachkräfte“ aus dem Verlag Handwerk und Technik eröffnet mit dem Satz: „Wie lese ich dieses Buch?“ So tritt ein Fachverlag seinen Lesern — „Fachkräfte“, wohlgemerkt — im Jahre 2022 gegenüber. Auch einen Reiseführer konnte man vor ein paar Jahren noch völlig ungezwungen aufschlagen und seiner Neugier auf das Entdecken ferner und fremder Länder und Kulturen freien Lauf lassen.
Heute eröffnet beispielsweise der traditionsreiche Baedeker Verlag auf der zweiten Seite seines Irland-Reiseführers in der Reihe Baedeker smart mit der pädagogischen Farce (Frage): „Wie funktioniert der Reiseführer?“ Das existierende Inhaltsverzeichnis gibt präzisen Überblick. Gleichwohl mag der Verlag sich die Belehrung nicht verkneifen: „Wir präsentieren Ihnen Irlands Sehenswürdigkeiten in fünf Kapiteln.“
Noch einen Schritt weiter geht in seinem betreuenden Impetus der Klartext Verlag aus Essen. Unter der Überschrift „Praktische Hinweise“ erscheint in dem Buch Ritter, Ruinen & Romantik der für einen Reiseführer denkwürdige Satz: „… Und übrigens gilt generell: Wandern geschieht immer auf eigene Gefahr.“ Damit bleibt man nah beim noch immer amtierenden Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, der laut Handelsblatt den ebenfalls bemerkenswerten Satz sprach: „Statt das Klima zu belasten, sollten die Deutschen in der Heimat bleiben, in seinem Wohnort nahe Flensburg sei es im Übrigen auch ganz schön“ — und geht zugleich einen Schritt weiter, um zu erklären, dass das Leben immer und überall gefährlich ist.
Vor gut 70 Jahren formulierte Ernst Jünger bereits: „Die Furcht gehört zu den Symptomen unserer Zeit. Sie wirkt um so bestürzender, als sie sich an eine Epoche großer individueller Freiheit anschließt …“ (Der Waldgang). Die ungeheure Pädagogisierung des Alltags wird dem, der der Infantilisierung und Entmündigung nicht das Wort reden möchte, zunehmend unerträglich.
Wie aber soll sich der einst wenigstens in Ansätzen noch mündige Leser und Bürger wehren gegen all die aufgebotene Betreuung? Wohin er blickt, begegnen ihm Therapeuten, Berater, Coaches, Mentoren, Guides. Wo immer eine Frage sich stellt, darf man Gewissheit haben: Der Berater und die Ratgeberliteratur sind schon da.
Ob Unternehmens- oder Personalberatung, ob Berufs- oder Studienberatung, ob Karriereberatung oder schlichte Wohn- und Lebensberatung, ebensowenig ermangelt es an Gesundheits- und Fitnessberatung. Wer sich als therapieresistent erweist und das Beratungsangebot verschmäht, dem wird freilich noch immer weitergeholfen: Schockierende Werbung samt Todesdrohungen auf Zigarettenpackungen, hohe Steuerlast auf Alkohol, Zucker, Fett, Gesinnungsprüfungen, staatliche Trojaner für den Rechner oder das Smartphone, Dauerüberwachung.
Irgendwie scheint sich die Gesellschaft in einem Teufelskreis zu verfangen, der sich als veritable Paradoxie beschreiben lässt: Je mehr Verunsicherte existieren, desto mehr existieren auch Berater. Freilich, ob in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Literatur oder Kunst: „Zur Eigenart unserer Zeit gehört die Verknüpfung bedeutender Auftritte mit unbedeutenden Darstellern“, schrieb bereits Ernst Jünger und verdeutlicht nahezu tagesaktuell:
„Das Ärgerliche an diesem Schauspiel ist die Verbindung von so geringer Höhe mit ungeheurer funktionaler Macht. Das sind die Männer, vor denen Millionen zittern, von deren Entschlüssen Millionen abhängen. Und doch sind es dieselben, von denen man zugeben muß, daß der Zeitgeist sie mit unfehlbarem Griff auswählte, wenn man ihn unter einem seiner möglichen Aspekte, nämlich dem eines gewaltigen Abbruchunternehmers, betrachten will. All diese Enteignungen, Abwertungen, Gleichschaltungen, Liquidationen, Rationalisierungen, Sozialisierungen, Elektrifizierungen, Flurbereinigungen, Aufteilungen und Pulverisierungen setzen weder Bildung noch Charakter voraus.“
Der Philosoph Immanuel Kant würde hier wohl einen Rückfall in eine neue und eben selbstverschuldete Unmündigkeit sehen. Denn schon in seiner Schrift Was ist Aufklärung von 1784 wies er darauf hin:
„Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, et cetera, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“
„Seine Majestät das Volk ist (…) nicht sehr intelligent
Wer wird Bücher zukünftig noch kaufen, wenn er nicht mehr lesen kann und ihm Textzusammenhänge unbegreiflich bleiben? Aktuell verlautbart der Vorlesemonitor 2022 der Stiftung Lesen: „In 39 Prozent der Familien mit Kindern zwischen einem und acht Jahren erhalten Kinder nur wenige oder gar keine Impulse durch Vorlesen.“
Ebenso wird der „Einbruch der Vorleseaktivitäten mit Schulbeginn“ herausgestellt: „2022 lesen Eltern den 7- und 8-jährigen Kindern gar nicht (mehr) vor.“ Erschreckendes ergab auch die für 2021 im Auftrag der Kultusminister durchgeführte IQB-Studie über die Leistungen der Schüler im vierten Schuljahr. Bundesweit bewältigt in Mathematik nur noch jedes zweite Kind die Anforderungen, die dem Regelstandard entsprechen. Beinahe jedes fünfte Kind scheitert selbst an den Mindeststandards. Das sind doppelt so viele wie 10 Jahre zuvor.
Auch die Spitzenleistungen befinden sich im Sinkflug: 2011 erreichte jedes sechste Kind den Optimalstandard, im Jahre 2020 war es nur noch jedes zehnte Kind. Inzwischen gibt es einen Befund, der noch schmerzlicher ausfällt, denn hier handelt es sich um einen internationalen Vergleich. Tatsächlich erreichen nur 8 Prozent der Schüler in Deutschland die höchste Kompetenzstufe V der Lesekompetenz.
Es geht um die Ergebnisse der IGLU-/PIRLS-Studie. IGLU heißt „Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung“, PIRLS heißt „Progress in International Reading Literacy Study“. Diese Studie wird alle fünf Jahre erarbeitet und wurde erstmalig im Jahre 2001 erstellt. Verantwortlich für die IGLU-Studie in Deutschland zeichnet das Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund. Das ernüchternde und erschreckende Fazit:
„Die aktuelle Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) zeigt, dass die mittlere Lesekompetenz im Vergleich zu 2001 in Deutschland deutlich gesunken ist. Rund ein Viertel der Grundschüler*innen erreicht nach internationalem Standard keine ausreichende Lesekompetenz und muss dementsprechend mit großen Schwierigkeiten im weiteren Verlauf der Schul- und Berufszeit rechnen. In den zwanzig Jahren der Studie hat sich die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland nicht verbessert.“
Nur noch nebenbei stellt sich die Frage, ob die Gender-Verrenkung bei Grundschülern der Klasse 4 tatsächlich irgendeine Bedeutung haben kann? Wer Sprache zerstört, sollte über die Inkompetenz beim Spracherwerb nicht verwundert sein. Wurde seit Jahren nicht schon der Grundwort-„Schatz“ gestutzt und verknappt? Wurden die Deutschstunden nicht zugunsten eines sinnfreien Englischunterrichts in der Grundschule reduziert? Verzichtete man nicht im Unterricht auf die Verwendung sogenannter Ganzschriften, also in sich geschlossener literarischer Werke? Deutschtests bestehen seit Jahren aus Antwort-Wahl-Verfahren (Multiple-Choice-Tests), bevorzugt wird zudem das Eintragen in Lückentexte.
Wenigstens nachdenkenswert scheint: Während im internationalen Durchschnitt rund 200 Minuten pro Woche für Leseaktivitäten in der Unterrichtszeit aufgebracht werden, sind es in Deutschland gerade einmal 141 Minuten. Beinahe fünf Stunden sind es, die Zehnjährige mittlerweile in Deutschland vor Tablet, Handy oder Computer „lernend“ verbringen. Spielendes Verlernen scheint angesichts solches Treibens die treffendere Bezeichnung. Für die Restbestände der Sprachbeherrschung bleibt dann die drastische Vereinfachung, „Leichte Sprache“ genannt.
Bald könnten deren Regeln, die Burkhard Straßmann in seinem Artikel Leichte Sprache: Deutsch light in der ZEIT vom 30. Januar 2014 anführt —: „kurze Wörter benutzen, sie gegebenenfalls teilen und mit Bindestrichen verbinden. Gerade das Deutsche liebt ja zusammengesetzte Hauptwörter wie Ochsenschwanzsuppe (wird zu Ochsen-Schwanz-Suppe). Verboten sind lange Sätze, Passivkonstruktionen, Negationen, der Konjunktiv. Die Satzstruktur soll einfach sein, Nebensätze dürfen nur ausnahmsweise vorkommen, aber nie eingeschoben sein“ — zum allgemeinen Sprachstandard werden. Sprache taugt in diesen Konzepten zum Übertragen simpelster Informationen. Schönheit, Stil, Rhythmus, Komplexität als Sinn- und Bedeutungsträger erledigten sich dann von selbst, die Feststellung vom „Sprachnotstand an der Uni“ und einer „systematische(n) Niveaunivellierung“, so Hannah Bethke in der FAZ, wären überholte Befürchtungen.
Freilich, die mittlerweile gängige Praxis, Literatur in Leichte Sprache zu „übersetzen“, bedeutet den Todesstoß der Literatur. Literatur lebt von Bedeutungsebenen und Nuancen, hier jedoch wird nur hemmungslos vereinfacht und reduziert. Der Literat, der Dichter wird entmündigt und abgeschafft. Stark vereinfachte Sprache ginge dann freilich bald mit einem stark vereinfachten Denken einher. Doch schon in seinen Geständnissen attestierte Heinrich Heine: „Seine Majestät das Volk ist (…) nicht sehr intelligent (…), es ist (…) bestialisch dumm.“ Romantisch seine Hoffnung: „Und wenn jeder im Volke in den Stand gesetzt ist, sich alle beliebigen Kenntnisse zu erwerben, werdet ihr bald auch ein intelligentes Volk sehen.“
Kants Einsicht jedenfalls besteht weiterhin fort:
„Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur von fremder Leitung frei gesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen.“
Es nimmt dann auch keinesfalls wunder, „daß eine große Mehrzahl die Freiheit nicht will, ja daß sie Furcht vor ihr hat“, wie Ernst Jünger festhielt und hinzufügte: „Frei muß man sein, um es zu werden.“ Noch also bleibt die alte Prophetie trotz aller Widrigkeiten in Geltung: „(D)es vielen Büchermachens ist kein Ende.“ Und sind dann „auch einige Themen (…) sehr sensibel (…) Entscheiden Sie selbst, ob Sie diese Seiten lesen möchten“. — Wie aber wäre es, erinnerten sich Verleger und Autoren der Freiheit der Literatur?
Doch längst wird, wie es der Autor und Verleger André Schiffrin ausdrückt, das gewaltige Geschäft des Büchermachens beherrscht von „Verlagen ohne Verleger“. Schwächelt gar der Prophet aus dem Buche Kohelet doch nicht, wenn er ausruft: „Vollkommen sinnlos (…) vollkommen sinnlos! Alles ist sinnlos!“ und es in der Übersetzung Martin Luthers heißt: „Es ist alles ganz eitel (…) es ist alles ganz eitel“?