Die Kulturwüste

Als Kunstschaffender steht man dieser Tage allein auf weiter Flur — doch es gibt Werke, die der Hoffnung Raum geben.

Der Verstand ist wertvoll, aber er versteht nicht alles. Dies gilt für die aktuelle Coronakrise nicht minder. Auch wer sich für einen rationalen Menschen hält, wiegt sich bisweilen in der Hoffnung, die Kunst könne — in welcher Form auch immer — auf den Plan treten und diese gegenwärtige Wüste fruchtbar machen. Sie könne zumindest Trost spenden oder die Situation möglicherweise metaphorisch aufladen. Wer diese Sehnsucht in sich trägt, muss sich derzeit auf eine lange Wüstenwanderung gefasst machen. Doch ab und zu stößt man auf eine Oase. Ein großartiges Beispiel dafür stellt die 1985 mit dem bedeutenden „Ingeborg-Bachmann-Preis“ ausgezeichnete Erzählung „Die Wasserfallfinsternis von Badgastein“ des Schweizer Schriftstellers Hermann Burger dar. Darin wird im Moment der Katastrophe eine verschollene Symphonie Franz Schuberts entdeckt.

Das Schweigen der Künstler oder auch ihr Eintreten für den Komplex, der als „Narrativ“ bezeichnet wird, hatte ich bereits eingehend und detailliert Ende September 2020 in einem Rubikon-Artikel erläutert. Doch trotz allen rationalen Verstehens bleibt immer noch die eigentlich vernunftwidrige, romantische Imagination, dass die „Kunst“ — in einer nicht näher konkretisierten Form — einem Deus ex Machina oder zumindest einer Art Kompensation gleich erscheint und etwas gewährt, dass, wenn schon nicht als Rettung, so doch zumindest als Trost interpretiert werden kann, als kleines Glück im großen Unglück, als Aufwandsentschädigung für den strapaziösen Trip ins Schattenreich.

Der Schweizer Schriftsteller Hermann Burger — der sich im Februar 1989 im Alter von 46 Jahren durch eine Überdosis Medikamente suizidierte — hat dies meisterhaft in einer der beeindruckendsten Erzählungen deutschsprachiger Literatur beschrieben, einem „Hydrotestament in fünf Sätzen“ mit dem Titel „Die Wasserfallfinsternis von Badgastein“ (1). Erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt bei Burgers denkwürdigem Auftritt und Gewinn des Ingeborg-Bachmann-Preises im Rahmen der Klagenfurter Tage der deutschsprachigen Literatur im Sommer 1985, bei dem er und sein Text wirkten, als hätte sich Muhammad Ali zum Kirmesboxen verirrt. Dieser Preis — gestiftet von der Stadt Klagenfurt im Gedenken an die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann — gilt als eine der wichtigsten Auszeichnungen im deutschen Sprachraum. Bei der Veranstaltung werden unveröffentlichte Texte von den Autoren vor Publikum und TV-Kameras im ORF-Theater der Kärntner Landeshauptstadt gelesen und von einer Jury analysiert und bewertet.

Ein denkwürdiger Tag in Klagenfurt

Die Zeit erlebte Burgers Auftritt seinerzeit so:

„Es war am dritten Tag des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt, als es geschah. Zwanzig Autoren hatten schon gelesen, schlechte und weniger schlechte, manchmal ganz gute Texte, aber immer noch war kein Preisträger in Sicht (…). Nurmehr vier Schriftsteller hatten zu lesen, und die literarische Landschaft war immer noch wüst und leer. Draußen strahlte die Sonne überm Wörthersee, drinnen strahlten die Scheinwerfer im Sendesaal des Österreichischen Fernsehens, und Hermann Burger aus Brunegg in der Schweiz las ‚Die Wasserfallfinsternis von Badgastein‘, ein ‚Hydrotestament in fünf Sätzen‘, wie er es nannte, und endlich brach sich der mühsam gezügelte Begeisterungswille Bahn, konnte und durfte sich der Jubelschrei lösen, der allen elf Juroren schon längst auf den Lippen lag. Peter Härtling bekannte, er sei den Tränen nahe, und als Marcel Reich-Ranicki, der unumstrittene Chef des umstrittenen Wettbewerbs, erklärte, Burgers Erzählung offenbare einen Sprachreichtum, eine Virtuosität, die in der gegenwärtigen Literatur ohne Beispiel sei, da wussten alle: habemus papam.“

Ja, so ist es gewesen, und auch beim Wiederlesen hat Burgers Erzählung nichts von ihrer Magie verloren. Worum geht es in diesem knapp 18 Buchseiten umfassenden Prosastück? Carlo Schusterfleck, ausgebildet an der „Nachtportierschule von Zürich“, tritt eine Stelle am „feudal verwitterten Gasteiner Hof“ im „vom Wildbad zum Weltbad avancierten Thermal-Monte Carlo“ Badgastein an, wobei er bei der Bewerbung sein Leiden Morbus Bechterew als Argument für die Einstellung nutzt. Diese entzündlich-rheumatische Erkrankung geht mit heftigen Schmerzen — vor allem, aber nicht ausschließlich im Rückenbereich — einher; Entzündungen der Wirbelgelenke können dazu führen, dass sich die Gelenke versteifen und der Rücken unbeweglich wird.

Manchmal verkrümmt sich die Wirbelsäule, was zu einer stark vornübergebeugten Körperhaltung führt — „ich schien die Skandinavische Sonderform zu verkörpern, sogar als Patient noch ein Bastard“. Schusterfleck argumentiert bei seiner Bewerbung, dass seine krankheitsbedingte gekrümmte Körperhaltung die Kurgäste „an die balneologischen Bodenschätze“ Badgasteins erinnere und überdies bringe er die „Berufsbuckelhaltung, die seine Konkurrenten „erst mühsam erwerben müssten, (…) von Haus aus mit“.

Kaskaden, Wortbilder und die „Verschollene“

Und so berichtet der Nachtportier in dieser an den „Herrn Kurdirektor“ gerichteten Rede, die mit spektakulären, kaskadenartigen Formulierungen und farbenprächtigen Wortbildern durch ein mit vielen Kommata, einigen Semikola, wenigen Punkten versehenes Lebensbildnis rast samt glänzenden Beschreibungen wie beispielsweise die des Badgasteiner Publikums:

„ … denn es gibt keinen schlimmeren Konkurrenzkampf als die Naturheilrangelei von (…) Patienten, die, in Wirklichkeit kerngesund, vom Wahn angesteckt sind, einer möglichen Spondylarthritis vorbeugen zu müssen (…), jeder versuchte, dem andern das Radonwasser abzugraben, dabei wäre genug da gewesen, selbst für die Leibeigenen der Hotellerie, hundert Sekundenliter, man höre und staune, doch die Angst, von Gastuna stiefmütterlich behandelt zu werden, verwandelte die Touristen in eine beschwipste Thermalmeute rücksichtsloser Genesungsgewinnler.“

Carlo Schusterfleck erzählt von seinem Dasein in Badgastein, von seinem Irrglauben, am Tag „Carte blanche“ zu haben im Kurort, „ein bisschen dösen, ein bisschen schwadern“ und auch in den Heilstollen fahren zu dürfen, doch „leider gab es, und Sie werden mein Präteritum noch fürchten lernen, einen widerhäkischen Paragrafen in der Kurverordnung, wonach es allen Bediensteten während der Hochsaison untersagt war, sich am thermischen Glücksspiel (…) zu beteiligen, der Bechterew-Zug im Heilstollen war für Wochen ausgebucht (…), alles in allem 4,6 Millionen Liter 43 Grad warmes Radonwasser pro Tag, aber nicht für den Nachtportier Carlo, und dies, dass ich wie ein Schiffbrüchiger auf offener See verdursten sollte, raubte mir vollends den Schlaf, den man jeder Ratte am Tag gönnt, ich strolchte als Wahrzeichen der schlimmsten Rückenkrankheit durch Badgastein, von keinem bemitleidet, denn wer mich einherhinken sah als Diable boiteaux, wähnte mich in Therapie“.

Fünf Stellen im Text enden mit musikalischen Tempobezeichnungen wie „andante un poco non troppo“ oder „allegro assai tumultuoso“ — dies hat seinen Bezug zu Franz Schuberts „verschollener Symphonie“, die er in Gmunden und Gastein komponiert haben soll und die in Burgers Erzählung eine tragende Rolle spielt. Schusterfleck ist nämlich zu seiner „Orchesterdienerverweserzeit an der Zürcher Tonhalle zu einem Schubertianer (…) geworden“, der sich „besonders für das Schicksal der verschollenen Gasteiner Symphonie interessierte, die bekanntlich in jeder Biographie erwähnt wird, als Missing link zwischen der Unvollendeten in h-moll (…) und der Großen in C-Dur“. Im felsigen Gelände und nachts im leeren Speisesaal des Hotels spürt er ihr am Flügel nach, „mit dem Dämpfpedal natürlich“.

Der Untergang von Badgastein

Schusterfleck unternimmt regelmäßig Wanderungen im Badgasteiner Territorium, und besonders der „Echofelsen“ hat es ihm dabei angetan, denn „wenn man sich (…) in den Brennpunkt des akustischen Spiegels stellte, hörte man das Tosen im Stein drin“, und so ist Schusterfleck besessen von der Idee, „wenn es gelänge, Herr Kurdirektor, das verkorkste Kreuzrippengewölbe meines Bechterewbuckels in dieses Echo der Natur zu schmiegen, quasi in ihr Urgeräusch, müsste der Versteifungsprozess zu stoppen sein; wirksamer als oben im Heilstollen, sollte das Thema der Verschollenen mitklingen.“

Am Ende kommt es zum Untergang des „Weltkurortes“. Der erneut zum Echofelsen hinaufgestiegene Schusterfleck bemerkt, das Versiegen des Wasserfalls, „nassglänzend (…) starrte mir die Maske der zerschundenen Natur entgegen, ein Georiss mitten durch Gastein, als hätte sich die Erde aufgetan, (…) kein Zweifel, der Wasserfall hatte sich umgebracht.“ Und das vier Teile umfassende „Nottestament“ dieses „Suizids als Staatsstreich der Natur“ diktiert ihm der Fluss Ache.

Sie habe sich „aus Protest gegen die hirnwütige Ausbeutung der Gasteiner Therme, eines unter vielen Beispielen für den Raubbau der Menschheit an ihren Ressourcen, (…) vergiftet und, wörtlich, aus dem Staub gemacht, und ich verfüge letztwillig, dass alle achtundvierzig Heilquellen mir nachfolgen und versiegen werden“. Des Weiteren wird die „Radium-Emanation, das eigentliche Wunder des Wildbads“ rückgängig gemacht, „die Tochtersubstanz, das Edelgas Radon, baut sich in den übriggebliebenen Tümpeln und Tankvorräten zur vollen Radioaktivität und unverminderten Strahlenschädlichkeit auf, womit der Weltkurort ab sofort zu einem Verseuchungszentrum erster Güte verkommt und ein für alle Mal erledigt ist“. Drittens soll in langandauernder Finsternis der „Bechterew-Zug im erkalteten Tunnel“ steckenbleiben, infolgedessen Panik ausbricht, die zu einem „kollektiven Klaustrophobie-Infarkt“ führt, so dass in der „Hochgebirgsangströhre“ alle auf einen Notausgang zustürzen, der jedoch vermauert ist.

Die Kunst in der Katastrophe

Doch im vierten und fünften Teil des Testaments erfüllt die Ache Carlo Schusterfleck, „der du mit untergehen wirst“, den letzten Wunsch, indem sie das Geheimnis von Schuberts „Verschollener“ lüftet. Sie berichtet, dass Schubert die Symphonie in einem Gasteiner Hotel „binnen drei Wochen“ vollendet, aber „bei seiner wie immer überstürzten Abreise die Partitur im Zimmer vergessen“ habe. Der Hotelier und Gemeindepräsident, des Notenlesens kundig, fand die Notenblätter, erkannte, „dass Schubert das Finale mit einer für die Romantik noch unvorstellbaren Dissonanz, einem Riss durch das Gebäude abbrechen ließ und damit den Zusammenbruch (…) des Kurorts prophezeite“.

Er zerriss die Blätter und streute sie in einen Wasserfall. Die Ache verrät Schusterfleck, dass „dort unten auf dem Gneisgrund (…) die komplette Gasteiner Symphonie in Neumen-Schrift (…) in den Fels geschliffen ist. Und nachdem der Nachtportier in der Tiefe und der Finsternis beim Schein einer Taschenlampe das Nottestament ins Reine geschrieben hat, „begann das Gedicht an der Wand menetekelhaft aufzuflammen“.

In der letzten Szene hämmert Schusterfleck am frühen Morgen ohne Unterlass die Melodie am Bösendorfer-Flügel in die Finsternis des Hotel-Nebensaals, hoffend, dass ein Schlafwagenpassagier des vorbeischnaubenden Hellas-Istanbul-Expresses sie nach Salzburg oder womöglich Wien tragen würde. Und während Schusterfleck sein „Bechterewsches Frühkonzert“ gibt, „das erste meines Lebens“, ist er gespannt darauf, „was den Balneologen an lebensrettenden Sofortmaßnahmen einfallen würde beim Ausbruch der Panik.“

Brutus und Niedecken

Doch hier ist nichts in Wände geritzt, keine Schrift flammt auf, kein Blitz, kein künstlerischer Stern erstrahlt, keine Symphonie, die durch das Elend klingt, erst schwach, dann anschwellend, dann mächtiger, lauter und lauter, ohrenbetäubend schließlich, vivace poco a poco accelerando. Nichts dergleichen. Keine Verschollene. Kein Franz Schubert. Nur Wolfgang Niedecken. Der sogenannte Kölsch-Rocker erscheint, und die Zeitschrift Gala weiß unter dem Titel „Seit einem Jahr nicht mehr im Supermarkt“ Folgendes über ihn zu berichten:

„‚Je mehr Impfstoffe verfügbar sind, desto schneller kriegen wir diese Seuche in den Griff‘, sagt er im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news. Skeptisch steht er nur einem Vakzin gegenüber: dem ‚Putin-Impfstoff‘, wie der Musiker Sputnik V bezeichnet. Wolfgang Niedeckens Abneigung gegenüber dem russischen Impfstoff liegt allerdings weniger am Vakzin als vielmehr am Präsidenten des Landes. ‚Egal ob Putin, Orbán oder Trump: Diesen Typen traue ich einfach nicht‘, lautet die Meinung des 69-Jährigen. Er vertraue keinen Populisten, ‚die ihr Fähnchen nach dem Wind drehen und nur das tun, was ihnen am meisten nützt. Auch wenn das bedeutet, Menschen einen nicht getesteten Impfstoff verabreichen zu lassen‘. Er setze auf das Urteil qualifizierter Wissenschaftler: ‚Sollte der Putin-Impfstoff gut getestet sein, nehme ich den auch.‘ Die Zulassung sei sehr schnell vonstattengegangen. ‚Aber wenn das Zeug okay ist, bin ich fein damit.‘“

Die Kunst kommt nicht vor, der Künstler hat nichts zu melden, denn kaum eine Berufsgruppe ist — entgegen dem „Freischaffenden“-Klischee – abhängiger und bestechlicher. Man erregt lieber keinen Anstoß, ruft keinen Unmut hervor — denn es wäre wohl das Letzte, was man gerufen hat, jedenfalls als relevanter Künstler. Die Autorität und das Prestige der Kunst: Es ist eine Illusion, man weiß es und fühlt sich trotzdem enttäuscht; es handelt sich um so ein „Auch du, mein Sohn Brutus!“-Gefühl.

Dafür jede Menge Menschen, die sich gegenseitig das größtmögliche Verderben wünschen, phantasierend von „Corona-Leugnern“, die auf der Intensivstation vergeblich um ein Beatmungsgerät winseln oder Geimpften drohen, alsbald werde sie das Wildvirus dahinraffen.

Wie erkennt im Theaterstück Der Weltverbesserer von Thomas Bernhard —den Hermann Burger einst seinen „Prosalehrer“ nannte und nach dessen Tod sich der schwer depressive Burger zwei Wochen später suizidierte — ein Philosoph angesichts einer kleinen Maus in der Mausefalle:

„Ausgerechnet der Mensch ist unmenschlich.“


Quellen und Anmerkungen:

(1) Damalige Schreibung. Seit 1. Januar 1997: Bad Gastein.

„Hermann Burger war einmal der strahlendste Stern am Schweizer Literaturhimmel. Nach seinem Tod verschwanden seine Werke merkwürdigerweise aus den Buchhandlungen. Wenn es eine Burger-Renaissance geben könnte, dann liefert die Werkausgabe im Verlag Nagel & Kimche die beste Grundlage dafür", so Philipp Theisohn am 20. Februar 2014 im Zürcher Tages-Anzeiger.

„Die Wasserfallfinsternis von Badgastein“ in:

„Blankenburg. Unglaubliche Geschichten und andere späte Prosa. Der Schuss auf die Kanzel. Erzählungen“. Gebundene Ausgabe, 384 Seiten. 22,90 €

Verlag Nagel & Kimche AG; 2. Edition (3. Februar 2014).

ISBN-13: 978-3312005949

https://nagel-kimche.ch/buecher/burger-blankenburg-et-al?rq=burger%20blankenburg

Antiquarisch auf den einschlägigen Plattformen wie ZVAB, Booklooker, Ebay, Amazon Marketplace in: „Die Wasserfallfinsternis von Badgastein und andere Erzählungen“, „Erzählungen“, „Blankenburg“, Diabelli-Blankenburg“ bei Fischer, Ammann und Deutscher Bücherbund.
https://www.gala.de/stars/interview/wolfgang-niedecken--seit-einem-jahr-nicht-mehr-im-supermarkt-22420060.html