Die Krise als Chance
Mit Mitgefühl, Mut, Solidarität und Entschlusskraft erschaffen wir heute die Welt von morgen — eine bessere Welt.
Die Klimakatastrophe zwingt die Vergänglichkeit der Menschheit in mein Bewusstsein, die Coronakrise trägt sie in mein Gefühlsleben. Was mir die Klimajugend bewusst gemacht hat, ist die mögliche Selbstauslöschung der Menschheit. Ich kann unser selbstzerstörerisches Handeln und die lang verdrängte Katastrophe nicht mehr leugnen. Doch das Memento mori der erhitzten Atmosphäre beschäftigt bestenfalls meinen Verstand. Die Coronapandemie aber bewegt meine Gefühle. Darin liegt eine große Chance.
Ein Virus geht um in der Welt — das Coronavirus. Ausgehend von China erobert es binnen Monaten den ganzen Globus. Seine Auswirkungen betreffen sämtliche gesellschaftlichen Bereiche: Medizin und Wissenschaft, Finanz, Wirtschaft und Politik, Diplomatie und Militär, Kultur, Bildungswesen und Medien, Religion und Philosophie.
Die staatlich verordneten Schutzmaßnahmen wie Social Distancing, Schließung von Schulen und Geschäften, Reduzierung des Öffentlichen Verkehrs (ÖV) und des Flugverkehrs, Lockdown und Ausgangssperre zur Eindämmung der Pandemie treffen alle gleichermaßen: Regierende und Regierte, Eliten und Massen, Manager und Angestellte, Akademiker und Arbeiter, Alte und Junge, Erwachsene und Kinder. Die Menschen müssen wohl oder übel gehorchen und sich den Maßnahmen beugen. Sich von der Gesellschaft abzuschotten, ist aber gar nicht so leicht. Es verlangt dem Einzelnen Mut und Demut, Selbstdisziplin und Geduld ab.
Das alles verlangt mir die Klimakatastrophe nicht ab. Ich kenne die wissenschaftlichen Erhebungen und diesbezüglichen Tabellen, die horrenden CO2-Emissionen und die steigenden Temperaturen. Ich weiß von brennenden Regenwäldern, abschmelzenden Gletschern und Eisbergen, zunehmender Umweltverschmutzung und vom Artensterben.
Selten einmal regt sich mein Gewissen — beispielsweise wenn ich ins Auto oder Flugzeug steige — und verflüchtigt sich gleich wieder. Doch das Wissen um die fortgesetzte massive Zerstörung der Natur und ihre verheerenden Folgen für meine Zukunft nehme ich nur intellektuell wahr. Ich erkenne das Problem, doch es berührt mich nicht existenziell. Und weil ich emotional nicht beteiligt bin, bleibe ich handlungsunfähig. Denn nur was ich gefühlsmäßig durchlebe und auf diesem Weg seelisch verarbeite, befähigt mich zur Tat.
Die Krise
Die einen sehen im neu aufgetretenen Virus einen gefährlichen Fakt – nämlich eine hochansteckende Coronamutation. Die gesamte Menschheit sei betroffen und nur durch gemeinsames Handeln ließen sich die Zahl der schweren Erkrankungen mit Todesfolge begrenzen und die Überlastung des Gesundheitssystems vermeiden. Und es sei unumgänglich, baldmöglichst eine Ausgangssperre zu verhängen.
Die anderen sehen im neuen Virus einen gefährlichen Fake. Die Coronamutation werde sich als harmlos erweisen. Die Medien hätten die Sache aus angeborenem Interesse an Auflage und Quote hochgekocht. Die staatlichen Maßnahmen würden drastische Folgen haben. Die Weltwirtschaft werde in eine Rezession mit Massenarbeitslosigkeit rutschen. Um dies zu verhindern, müssten die westlichen Regierungen ihre Grundsätze aufgeben — demokratische Gesellschaften, offene Grenzen für Kapital, Güter und Menschen, freie Meinungsäußerung. Sie stellten damit ihre eigene Existenzberechtigung infrage.
Zum jetzigen Zeitpunkt, in dem bereits viele Staaten drastische Maßnahmen verordnet oder gar eine Ausgangssperre verhängt haben, ist die Frage nach Fakt oder Fake für den Einzelnen wohl zweitrangig. Jetzt geht es erst einmal darum, persönlich mit der außergewöhnlichen Situation klarzukommen.
Der Ausnahmezustand
Unabhängig davon, ob das neue Coronavirus nun hochgefährlich oder ebenso harmlos wie bisherige Grippeviren sei, scheint eines klar zu sein: Die Pandemie verunsichert, verwirrt und ängstigt. Eben melden die Medien, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel Kontakt mit einem Arzt hatte, der positiv auf das Virus getestet wurde, und unter Quarantäne gestellt wird. Allein an diesem Wochenende starben in Italien weitere 1.444 Erkrankte. Die Ärzte rufen öffentlich dazu auf, sich mit der Möglichkeit des eigenen Ablebens zu befassen und eine Patientenverfügung auszufüllen. Der äußere Druck auf den Einzelnen wächst, auch ich bin ihm ausgesetzt. Vorige Woche ging ich noch arbeiten, benutzte den ÖV, der mir nun — wie vieles andere — verwehrt ist.
Als besonders gefährdeter Arbeitnehmer mit Vorerkrankungen arbeite ich seit ein paar Tagen im Homeoffice. Ich sollte unbedingt zu Hause bleiben.
Ich stehe unter Schock. In meinem Kopf geht die Welt unter, während draußen die Sonne auf blühende Bäume scheint, auf deren Ästen muntere Spatzen hocken und um die Wette zwitschern. Ich fürchte mich vor dem unsichtbaren Virus, vor dem veränderten Alltag und dem veränderten Berufsleben, vor Erstarrung und Vereinsamung.
Wie geht es meinen Freunden und Verwandten? Das eigentliche Virus ist meine Angst vor dem Virus. Und die Angst vor dem Virus ist meine Angst vor dem sozialen und realen Tod.
Über meinem Schreibtisch hängt ein Zitat des amerikanischen Philosophen und Schriftstellers Ralph Waldo Emerson: „Tue das, vor dem du Angst hast, und die Angst hört todsicher auf.“ Schön und gut, in „normalen“ Zeiten sicher bedenkenswert, aber in Zeiten von Corona? Ich kann ja nicht, wie ich will. Ich habe nichts unter Kontrolle, das kollektive Schicksal mutiert gerade zum persönlichen. Mein Gefühlsleben spielt verrückt. Ich werde auf mich selbst zurückgeworfen und finde mich nicht unbedingt mutig und diszipliniert. Ich bin besorgt, empfinde angesichts von ungewohnter Gegenwart und düsterer Zukunft eine Beklemmung, die mich nachts nicht schlafen lässt. Ich empfinde Reue über Getanes und Reue über Unterlassenes. Ich bin irgendwie traurig. Warum nur?
Tastend gehe ich durch die Tage und weiß nicht ein noch aus. Fragen, die aus diffusen Emotionen auftauchen, bedrängen und belasten mich: Was, wenn es mich erwischt? Bin ich bereit für eine solche Krankheit mit Erstickungsanfällen und wochenlanger Isolation? Was, wenn ich meine Familie anstecke? Bin ich bereit, schon zu sterben? Und dann denke ich über mein bisheriges Leben nach: Habe ich meine Träume verwirklicht? Was habe ich menschlich und beruflich erreicht? Was möchte ich noch erreichen? War ich glücklich? Bin ich glücklich?
Das Ich
Indem mich das Memento mori überwältigt, ich meine Todesangst und die damit verbundene Hilflosigkeit emotional durchlebe, empfinde ich unerwartet einen ungeheuren Lebenshunger. Ja, ich überlasse mich dem Leben, wie es eben ist, ich überlasse mich meinem Schicksal — und wenn es der plötzliche Tod sein sollte. Doch noch will ich leben. Ich will die mir verbleibende Zeit, jede einzelne Stunde, jeden einzelnen Augenblick auskosten.
Wie still die Welt doch geworden ist! Kaum noch Flugzeuge am Himmel, auf den Straßen nur hin und wieder einzelne Autos. Was noch vor Tagen unmöglich schien, ist situationsbedingt möglich geworden: Es geht auch mit weniger Verkehr, mit weniger Luftverschmutzung, ohne dass die Zivilisation gleich zusammenbricht. Die tägliche Informationsflut mit ihren unzähligen Reizen, die vielen Verpflichtungen, Verabredungen und Begegnungen, die mich bis vor Kurzem beschäftigten, sind nicht mehr. Ich habe auf einmal viel freie Zeit zur Verfügung. Und ich begreife, wie gut es mir im Vergleich mit weniger Privilegierten geht.
Ich befinde mich weder in syrischen Hausruinen noch in einem überfüllten griechischen Flüchtlingslager, sondern in meiner geheizten Wohnung in einer kleinen Stadt im westlichen Europa. Ich leide weder an Krebs noch Hunger, sondern bin zurzeit gesund und mit genügend Lebensmitteln versorgt. Dies ist meine Heimat, hier bin ich zu Hause. Morgens schlafe ich länger aus, mittags unterhalte ich mich mit meiner Familie, nachmittags lese arbeite ich am Computer und abends lese ich in einem Buch oder schaue fern. Das ist die märchenhafte Wahrheit eines bevorzugten Lebens.
Obwohl alles ungewöhnlich, ja außergewöhnlich bleibt, tritt eine Beruhigung ein. Ich entspanne mich und werde kreativ. Das Außergewöhnliche führt womöglich zum Außerordentlichen — zu etwas, was außerhalb der bisherigen Ordnung unserer umweltzerstörerischen Zivilisation liegt. Das Außerordentliche vermag vielleicht eine neue, umweltverträgliche Ordnung zu schaffen. Doch vorerst muss sich mein Ich-Bewusstsein zu einem Wir-Bewusstsein entwickeln.
Das Wir
Die geheimnisvolle Gefahr, die vom Coronavirus ausgeht, trennt und eint die Menschen gleichermaßen. Sie zwingt uns eine örtliche Distanz auf und verstärkt unsere mentale Nähe. Sie isoliert uns und provoziert direkte Aktionen der Solidarität. Die neue Hilfsbereitschaft zeigt sich in einer Fülle von Angeboten, organisiert auf Plattformen und in den Sozialen Medien, aber auch in Form von uneigennütziger Nachbarschaftshilfe. Wir entdecken unser Mitgefühl und handeln in dessen Sinne. Das verstärkt das Vertrauen zueinander — und das ist in einer individualisierten und kommerzialisierten Gesellschaft etwas Außergewöhnliches, ja Außerordentliches, etwas Wunderbares und zutiefst Befreiendes.
Corona kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Kranz oder Krone, aber auch Kreis von Zuhörern und Zuschauern, kurz: Versammlung. Das Wort weist auf das Geistige und Verbindende unter den Menschen hin, auf die Gruppe, auf das ihr innewohnende Wir-Bewusstsein. Das Virus mit seinen Folgen — sowohl im Zwischenmenschlichen als auch im Gesellschaftlichen — könnte uns vielleicht zu einem neuen Verständnis von Menschsein hinführen, zu einem neuen Verständnis von Menschheit. Wir sind alle Teil eines großen Ganzen und haben eine gemeinsame Zukunft. Die Coronapandemie könnte die größte soziale Entwicklung der Menschheitsgeschichte einleiten — die Entwicklung zu tätiger Empathie und Solidarität aller Menschen untereinander.
Die Chance
Das chinesische Schriftzeichen für Krise steht zugleich auch für Chance. Darin spiegelt sich meine unerschütterliche Zuversicht, dass die gesundheitliche Krise, die wir gegenwärtig durchleben, eine einmalige gesellschaftliche Chance in sich trägt.
Jede Pandemie hat einen Anfang und ein Ende. Die Coronaforschung läuft auf Hochtouren, sie wird einen wirksamen Impfstoff und Medikamente gegen die Krankheit finden. Wie wird sich die Menschheit danach verhalten?
Gegen die Klimakatastrophe gibt es weder einen Impfstoff noch Medikamente. Ich vertraue darauf, dass uns die Erfahrungen des materiellen Verzichts und der seelischen Bereicherung und die neu entdeckte Solidarität auch in der Klimafrage zusammenschweißen. Ich vertraue darauf, dass wir uns nicht weiterhin wie parasitäre Viren von unserem Wirt, der Natur, ernähren und den Planeten weiter verschmutzen und aufheizen.
Ich vertraue darauf, dass wir die Coronakrise als Mahnung und Verheißung begreifen und das, was sie uns lehrt — Mitgefühl, Mut, Solidarität und Entschlusskraft —, zur Lösung der Klimakrise einsetzen.