Die Krim und das Völkerrecht

Ist Russland ein Ag­gres­sor, der fremde Gebiete erobert und annektiert? Interview mit dem Rechtsphilosophen Professor Reinhard Merkel über die sogenannte Annexion der Krim.

„Hat Russland die Krim annektiert? Nein. Waren das Referendum auf der Krim und deren Abspaltung von der Ukraine völkerrechtswidrig? Nein. Waren sie also rechtens? Nein; sie verstießen gegen die ukrainische Verfassung (aber das ist keine Frage des Völkerrechts). Hätte aber Russland wegen dieser Verfassungswidrigkeit den Beitritt der Krim nicht ablehnen müssen? Nein; die ukrainische Verfassung bindet Russland nicht. War dessen Handeln also völkerrechtsgemäß? Nein; jedenfalls seine militärische Präsenz auf der Krim außerhalb seiner Pachtgebiete dort war völkerrechtswidrig. Folgt daraus nicht, dass die von dieser Militärpräsenz erst möglich gemachte Abspaltung der Krim null und nichtig war und somit deren nachfolgender Beitritt zu Russland doch nichts anderes als eine maskierte Annexion? Nein.“ So schrieb Reinhard Merkel am 8. April 2014 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Vielen gilt seine Position inzwischen als widerlegt. Doch ist sie es? Rubikon hat nachgefragt.

Herr Merkel, Politiker und Medien in Deutschland meinen bis heute auf der Krim habe ein Annexion stattgefunden. Was sagen Sie?

Ich war nach meiner Wahrnehmung in den für salonfähig gehaltenen Medien hier der einzige, der gesagt, lasst mal die Kirche im Dorf mit der Krim. Eine Annexion war das nicht. In welcher Hinsicht das völkerrechtswidrig war, lässt sich genau angeben. Aber verglichen mit einer manifesten Gewaltanwendung etwa der USA im Irak 2003, die völkerrechtswidrig war, ist das mit der Krim eine federleichte Bagatelle. Und hier hat man sich aufgeregt, so als ob die Russen mit dem dritten Weltkrieg spielen. Und das hat mich sehr geärgert.

Ich habe nach meinem Artikel, den ich 2014 in der FAZ veröffentlich habe, mit renommierten Völkerrechtlern, wenn auch beiläufig nach meinem Artikel in der FAZ über die Dinge geredet und gestritten, etwa mit der Direktorin des Max-Plank-Instituts für Völkerrecht in Heidelberg, Frau Anne Peters, die eine kluge Frau ist. Das war in Berlin anlässlich eines Fellow-Treffens am Wissenschaftskolleg. Sie hat sich hingestellt und gesagt, was man von den offiziellen Völkerrechtlern erwartet: „Das mit der Krim ist skandalös! Eine Annexion!“

Ich habe dann beiläufig zu ihr gesagt:

„Sie glauben mit Unrecht, dass die Frage der Annexion eine Frage des Völkerrechts ist. Es gibt kein völkerrechtliches Dokument, das den Begriff der Annexion definiert.“

Aber in ihrem Artikel in der FAZ haben Sie geschrieben, Annexion sei die gewaltsame Landnahme durch einen fremden Staat.

Es gibt natürlich einen Konsens, gewaltsame Landnahme durch einen fremden Staat. Aber dann haben Sie die Hintergrund-Phänomene, die hier eine Rolle gespielt haben, nämlich dass, wie immer man das Abstimmungsverfahren auf der Krim einschätzen will, es eigentlich zweifelsfrei war, dass eine deutliche Mehrheit der Krim-Bewohner zu Russland gewollt haben.

Es ist ja nach wie vor so, dass die lieber bei Russland als bei der Ukraine sind. Und ich habe als zusätzliches Kriterium, und das mache ich dann als Rechtstheoretiker und nicht als jemand, der sagt, da gibt es doch die Texte und die Dokumente und die völkerrechtlichen Konventionen, die gibt es eben dazu nicht.

Ich habe als zusätzliches Kriterium eingeführt, dass Annexion nur dann ein sinnvoller Begriff ist, wenn er nicht nur gegen den Willen der Regierung einer bestimmten Gegend, sondern auch gegen den Willen der Bevölkerung geht. Also, was Saddam Hussein mit Kuwait gemacht hat. Das war eine klare Annexion.

Oder was die Israelis leider schleichend und dauernd machen, diese Landnahme dort. Leider sage ich dazu. Ich habe jede Menge gute Kontakte nach Israel und eine positive emotionale Beziehung zu der vitalen Zivilgesellschaft und zur intellektuellen Szene dort. Das ist intellektuell ein viel lebendigeres Land als die arabischen Staaten außen herum. Aber was die da machen, das sind Annexions-Handlungen. Aber das hören sie in Deutschland nicht.

Wer setzt die Regeln des Völkerrechts fest?

Seit Kant und schon davor wird das Völkerrecht von der Frage begleitet, ist es Recht oder Politik? Und die Trennlinie zwischen Recht und Politik ist im Völkerrecht viel unklarer und verwaschener als im innerstaatlichen Recht. Nach dem Einmarsch der Amerikaner in den Irak 2003 haben amerikanische Völkerrechtler, renommierte und kluge Leute, sich hingestellt und gesagt, wir sind der mächtigste Staat der Welt. Militärisch und ökonomisch. Unser Gewicht liegt mindestens bei 50 Prozent der ganzen Staatengemeinschaft. Wenn wir was tun, dann ist das so, als ob mehr als die Hälfte der Staatengemeinschaft das tun würde.

Sie argumentierten mit dem Völker-Gewohnheitsrecht in dem Sinne, wenn wir einen Krieg führen, der vorher eindeutig rechtswidrig war, wird er durch sein Durchführen selber rechtmäßig. Tatsächlich ist eine der wichtigsten Rechtsquellen des Völkerrechts das Völkergewohnheitsrecht. Es entsteht aus der Praxis der Staaten. Die Staaten sind die Gesetzgeber. Über ihnen gibt es keinen Gesetzgeber im Völkerrecht.

Die UNO ist nicht der Weltherrscher. Der UNO-Sicherheitsrat selbstverständlich auch nicht. Die Staaten selber setzen das Recht und eben das Völkergewohnheitsrecht durch ihre Art der Interaktion.

Und was sagen sie zu der Behauptung dieser amerikanischen Völkerrechtler?

Das ist absurd, so was zu sagen: Ein Angriff, der eigentlich nach allen Kriterien verboten ist, beschafft sich dadurch, dass er exekutiert wird, seine eigene Erlaubnis. Das ist absurd. Da sehen Sie, dass die alte Frage, is it law or politics, nicht wirklich erledigt ist. Wiewohl ich zu denen gehöre, die sagen, wir müssen das Völkerrecht ernster nehmen, als es oft gemacht wird.

Tatsächlich ist es so, dass im Völkerrecht die Rechtsbrüche zum Motor der Entwicklung neuer rechtlicher Normen werden. Der größte Teil des Völkerrechts ist aus ursprünglichen Rechtsbrüchen entstanden.

Das Völkerrecht hat die Rechtsbrüche im Nachhinein legitimiert?

Da schließen sich dann Staaten an und sagen, gut, das sehen wir auch so, und schon wird es nach und nach Gewohnheitsrecht. Das Völkerrecht entsteht langsam. Deshalb gibt es im Völkerrecht einen Begriff, den es in der sonstigen Rechtsordnung nicht gibt: „soft law“.

Das heißt?

„Soft law“ heißt: Wir wissen nicht genau, ist das schon Recht oder entsteht es erst? Das betrifft vor allem die sogenannte humanitäre Intervention. Also solche Dinge, wie sie im Kosovo im Jahre 1999 ohne die Autorisierung des UN-Sicherheitsrates geschehen sind. Aber ich behaupte, auch die Intervention in Libyen mit der Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat war nicht legitimierbar.

Man sieht, dass solche Dinge oft unklar sind und lange bleiben. Und dass es erst zu einer Konsolidierung der Rechtsüberzeugungen der Staaten kommen muss, die dann meistens auch geäußert wird, zum Beispiel in der UNO-Generalversammlung. Dann beginnt es, zum Recht zu werden.

Wer ist der Gesetzgeber im Völkerrecht?

Es gibt keinen Gesetzgeber im Völkerrecht. Es sind nur die Staaten selber und die sind zugleich die Rechtsunterworfenen. Das ist eine ganz singuläre Situation. Nun ist das theoretisch auch im innerstaatlichen Recht so. Wir, Sie und ich sind hier Rechtsunterworfene, sind aber Teil des Souveräns über unsere gewählten Abgeordneten. Aber im Völkerrecht ist das unmittelbar so. Bis hin zu der glatten Unverschämtheit, zu sagen, wir sind der mächtigste Staat der Welt, was wir machen ist immer Recht. Das ist absurd. Die Amerikaner hatten eine Weile diese Attitüde.

Ja, bei George W. Bush diese völlig irre Idee der Neocons, zu sagen, jetzt führen wir ein halbes Dutzend Kriege, dann ist die Welt befriedet. Und alle sind froh, dass sie McDonalds und Coca Cola kriegen. Absurd.

2014 sprachen viele Politiker in Deutschland von einer sehr gefährlichen Situation. Das erste Mal seit 1945 seien Grenzen in Europa gewaltsam verändert worden. Was ist Ihre Meinung?

In einem formellen Sinn sind die Grenzen damals verändert worden. Insofern, als dass die Krim der Ukraine sozusagen entfernt und zu Russland gezogen wurde. Das ist eine Art Grenzveränderung. Aber die Formulierung von der ersten gewaltsamen Grenzveränderung seit 1945, die ja 2014 gang und gäbe war, hat eine Suggestion gehabt, die weit über das Ziel hinausgeschossen ist.

Der erste übertriebene Tonfall ist „gewaltsam“. Bei der sogenannten Krim-Annexion ist niemand ums Leben gekommen. Die Russen haben genötigt, gedroht mit dem Aufmarsch ihres Militärs vor den Kasernen der ukrainischen Soldaten. Aber die Drohgebärde war die eines turmhoch Überlegenen, der genau wusste, ich muss die Gebärde machen, dann gehorchen die. Es wird nicht zur Gewalt kommen. Und wenn an einzelnen Stellen, dann haben wir das schnell im Griff. Im Völkerrecht gibt es aber den Artikel 2, Absatz 4 der UNO-Charta, der verbietet die Gewaltanwendung zwischen Staaten, ausgenommen die durch den UN-Sicherheitsrat legitimierte Gewalt und die Selbstverteidigung nach einem Angriff auf einen Staat.

Die Völkerrechtler haben sich angewöhnt, das unter den Kurztitel Gewalt zu ziehen. Also hat man gesagt, die Russen haben auf der Krim Gewalt angedroht, wenn nicht gehorcht wird. Die haben nicht einfach gesagt, gleich geht’s los, sondern kusch, ihr haltet euch ruhig. Das ist eine Nötigungsdrohung. Das hat man dann unter den Begriff Gewalt gezogen. Die Bevölkerung, die das in allen Zeitungen gelesen hat, nimmt den Eindruck mit, hier hat jemand eine Art Krieg geführt. Und das ist falsch.

Könnte man nicht sagen, dass die Anwesenheit von russischem Militär außerhalb der Pachtgebiete auf der Krim der Bevölkerung der Halbinsel signalisierte: Wir haben die Hoheit über die Halbinsel schon übernommen und die Abstimmung ist nur noch eine reine Formsache?

So könnte man argumentieren. Aber dann müsste man konkreter zweierlei zeigen: Erstens, dass der Aufmarsch des russischen Militärs auch an die Bevölkerung adressiert war. Und zweitens, dass es Gründe gab anzunehmen, dass ein großer Teil der Bevölkerung der Krim bei der Ukraine bleiben will. Selbstverständlich gibt es immer einen Teil einer solchen Bevölkerung, die dagegen ist, dass die Staatszugehörigkeit gewechselt wird. Aber das wusste man und das war auch nicht ernsthaft bestritten im Westen, dass eine deutliche Mehrheit der Krim-Bevölkerung zu Russland wollte, also nichts dagegen hatte. Beim Referendum haben über 90 Prozent dafür gestimmt.

Ob die Auszählung sauber und korrekt war, da habe ich große Zweifel. Die ganze Abstimmung hatte nicht den Charakter einer ordentlichen und halbwegs formell legitimen Geschichte. Aber das Ergebnis der Abstimmung war schon vorher unstreitig. Jeder wusste das. Und die Krim-Bevölkerung hatte ja schon zweimal – 1991 und 1993 – deutlich zum Ausdruck gebracht, wir wollen zu Russland. Sie haben ja auch lange zu Russland gehört.

Es gibt im Völkerrecht also keinen Rechtsrahmen für Abspaltung?

Bei der Krim verzahnen sich ein externer Eingriff seitens Russlands, der hier Annexion genannt wurde, und interne Abspaltungsneigungen der Bevölkerung, die man Sezession nennt. Wichtig ist bei all diesen Überlegungen: Es gibt im Völkerrecht weder zur Annexion noch zur Sezession deutliche Normen. Und das liegt ganz trivial daran, dass die Staaten als die Gesetzgeber des Völkerrechtes sowas nicht wollen. Die wollen auch nicht die Sezession regeln.

Sehen Sie mal, was in Katalonien jetzt passiert. Aber deswegen ist es auch nicht verboten. Es gibt im Völkerrecht – anders als im innerstaatlichen Recht – Gebiete, die sind nicht geregelt, weder erlaubt noch verboten.

Viele Medien und Politiker meinen, wenn man die Vereinigung der Krim mit Russland zulasse, dann riskiere man, dass demnächst Russen in den baltischen Staaten die Vereinigung mit Russland fordern.

Das ist ja nun ganz und gar abwegig. Die ganze Krim ist ja nun auch geographisch eine abgrenzbare Einheit. Die hat lange zu Russland gehört und eine über 300-jährige russische Geschichte. Außerdem ist der Wechsel zur Ukraine ein innerstaatlicher Akt der Sowjetunion gewesen und ein autoritativer, eigentlich willkürlicher Akt von Chruschtschow, der nie materiell besonders legitimiert war. Es ist nur kein Thema gewesen, weil es ein innerstaatlicher Akt war. Es würde auch kein besonderes Thema sein, wenn man sagt, Ulm gehört jetzt nicht mehr zu Baden-Württemberg, sondern zu Bayern.

Ihre Positionen unterscheiden sich sehr von der veröffentlichten Meinung in Deutschland. Wie kam das? Waren Sie auf der Krim?

Nein, aber ich habe mich mit diesem speziellen Punkt ein bisschen beschäftigt. Ich habe – nachdem mein Artikel in der FAZ erschienen war – mal kurz per E-Mail mit dem Juristen in der politischen Redaktion, Reinhard Müller, korrespondiert. Das ist ein kluger Kopf. Er hatte einen Kommentar geschrieben, wo von Annexion und dem Bruch des Völkerrechts die Rede war. Und er hat so getan, als ob die Russen genau das gemacht haben, was Saddam Hussein mit Kuweit gemacht hat. Da habe ich ihm geschrieben: Herr Müller, das haut doch hinten und vorne nicht hin.

Da kam bei mir dann der Satz, jeder weiß, dass die deutliche Mehrheit der Krim-Bewohner zu Russland wollte, niemand bestreitet das. Und alles, was bei ihm an Replik kam, war, woher wissen sie das so genau? Meiner Meinung nach ist das nur eine Geste zu sagen, ganz sicher kann man empirisch gar nichts wissen. Und das stimmt sogar für die Naturwissenschaften. Es ist billig sich auf so eine Gegenfrage zurückzuziehen.

Gab es auf der Krim die Gefahr eines Krieges?

Selbstverständlich hatte Kiew Militär eingesetzt. Die Russen haben das mit der nötigen Drohgebärde unterbunden. Hätten sie es zugelassen, dass da erstmal geschossen wird und wären dann da einmarschiert, dann wäre es zu einem militärischen Konflikt gekommen.

Also ich sage nicht, dass Russland da rechtmäßig gehandelt hat. In einem formellen Sinne hat Russland zweimal das Völkerrecht gebrochen. Russland hat auf einem Gebiet, das nicht zu Russland gehörte, eine militärische Drohgebärde gemacht und es hat am nächsten Tag gesagt, ihr dürft zu uns kommen, wir erkennen das an. Das ist völkerrechtswidrig.

Aber angesichts des historischen Hintergrunds, wie die Krim zur Ukraine kam, angesichts der qualifizierten Mehrheit von Ukrainern, die zu Russland wollten und dann angesichts der politisch geschickteren Option zu sagen, wir vermeiden Blutvergießen, wenn wir von Anfang an sagen, ihr haltet euch ruhig, kann man nur sagen, es war zwar rechtswidrig, aber eine Bagatelle.

Sogar die Bundeskanzlerin sagte, die Friedensordnung in Europa sei verletzt worden. Das sagte dieselbe Bundeskanzlerin, die 2003 den Einsatz der Amerikaner im Irak gutgeheißen hat. Dieser Einsatz hat bis heute eine halbe Millionen Menschleben gekostet und hat täglich noch immer fürchterliche Folgen.

Und dann kann man nur sagen, wer so mit gespaltener Zunge spricht, der muss sich einen deutlichen Widerspruch gefallen lassen. Russland hat völkerrechtswidrig gehandelt, aber das ist eine federleichte Angelegenheit gewesen, verglichen mit dem Irak.

Die Russen sagen, im Februar 2014 gab es in Kiew einen Staatsstreich. Aus der Sicht Russlands gab es dadurch ein Sicherheitsproblem. Denn in die Regierung zogen auch Faschisten ein, wie etwa der jetzige ukrainische Parlamentspräsident Andrej Parubi. Kann Russland die Umstände des Machtwechsels in Kiew als ein weiteres Argument für sein Handeln auf der Krim anführen?

Ja, das kommt dazu. Wenn man vernünftig hinguckt, ist dieser Machtwechsel illegitim, also so etwas wie ein illegitimer Staatsstreich gewesen. Und er hat Russlands Sicherheitsinteressen beeinträchtigt, da Russland damit rechnen musste, dass ihr Militärstützpunkt auf der Krim, den sie seit eh und je legitim da haben, umzingelt und abgeschnitten wird. Natürlich spricht das zugunsten Russlands in dieser Angelegenheit.

Sehen Sie die Gefahr, dass der Zerfall der Ukraine weiter geht, dass sich die international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk festigen und sich vielleicht sogar Charkow und Odessa irgendwann abspalten wollen?

Es ist eine Art Pulverfass, was da jetzt entstanden ist. Das bedroht die Stabilität- und Sicherheitsinteressen aller Staaten außenherum auch. Was dringend geboten wäre, wäre ein Blick auf die Prinzipien, die das Oberste Gericht von Kanada zu den Abspaltungsbestrebungen von Quebec formuliert hat. Der Supreme Court hat gesagt, Quebec hat kein Recht zur Abspaltung, aber was auf jeden Fall vermieden werden muss, ist ein Bürgerkrieg.

In solchen Krisensituationen darf nicht sofort Gewalt angewendet werden. Es müssen Vermittlungsversuche unternommen werden. Weiter hat das Oberste Gericht von Kanada gesagt, wenn es eine qualifizierte Mehrheit von 65 Prozent für eine Sezession gibt und alle Vermittlungsversuche gescheitert sind, muss das von der Zentralregierung akzeptiert werden, weil die Alternative Bürgerkrieg bedeuten würde.

Auch in der Ukraine müsste man versuchen vernünftig zu vermitteln. Kiew müsste gegenüber der Ostukraine weitere Zugeständnisse machen, das heißt mehr Autonomie zugestehen.

Warum zitieren Sie eigentlich die Entscheidung des Obersten Gerichts von Kanada. Hat diese Entscheidung internationale Bedeutung?

Das ist die einzige juristische Entscheidung, die wir zur Frage der Sezession haben und sie ist aus meiner Sicht als Rechtsphilosoph durch und durch vernünftig. Die Entscheidung ist kritisiert worden von denen, die sagen, eine Sezession wird niemals akzeptiert, die Entscheidung ist viel zu nachgiebig.

Wir leben in einer Zeit, in der das, was sie als grundlegendes ethisches Ziel postulieren, die Vermeidung eines Bürgerkrieges, immer mehr verletzt wird. Wenn die Staaten Autonomie-Bestrebungen generell als Realität annehmen und geforderte Autonomie-Rechte zugestehen, könnte die Welt dann stabiler werden?

Man muss den Regionen, die deutlich zur Abspaltung tendieren, mehr Autonomie-Rechte geben. Man muss ihnen aber auch sagen, es hat einen Sinn, dass wir formelle Staatsgrenzen haben. Von diesem Sinn profitiert ihr in Wahrheit auch. Die ganze völkerrechtliche Ordnung würde erschüttert, wenn jeder Verein seinen eigenen Staat aufmachen dürfte. Es müssten für solche Situationen – so meine ich – auf Seiten der UNO Institutionen mit für solche Fragen geschulten und von höchster Autorität beglaubigten Mediatoren geschaffen werden.

Der Konflikt in der Ukraine hat auch eine kulturelle Seite. Die Romane von Tolstoi und Dostojewski wurden jetzt vom Lehrplan genommen, weil diese Schriftsteller russisch-imperiale Sichtweisen vertreten.

Das ist nicht nur absurd, sondern auch eine militante Geste, die nicht gut ist. Was erzwungen werden müsste – und die westlichen Staaten hätten auf Kiew viel mehr Druck ausüben müssen – sind friedliche Formen der Mediation. Es gibt keine Patentlösung für diese Fragen. Die hätte es auch in Katalonien nicht gegeben, wenn die dort weiter auf Konfrontation gesetzt hätten.

Schauen sie mal auf England und Schottland, wie das da vor zwei Jahren gehandhabt wurde. Die Schotten haben abgestimmt und die Engländer haben gesagt, macht das bloß nicht. Aber die haben doch nicht gesagt, wenn ihr auf die Idee kommt, dann sind wir sofort mit der Armee dort. Natürlich haben die das nicht gesagt. Die haben gesagt, lieber nicht. Und sie haben sich auf eine Art Meinungskampf eingelassen. Und die Schotten haben sich nicht abgespalten.

Welche Lösung gibt es für die Krim-Frage heute? Der BND-Chef sagt, wir müssen uns mit der Krim lange beschäftigen.

Ja, aber der BND-Chef sagt, Russland ist ein potentieller Aggressor. Nicht eine Sekunde lang habe ich das je geglaubt. Das wurde ja hier in den Medien und der Politik hin und her dauernd rekapituliert. Russland könnte das Baltikum bedrohen und könnte in Polen einmarschieren.

Warum haben sie das nicht geglaubt?

Weil Putin, was immer man ihm sonst an Machtinstinkt und unguten Zügen zuschreiben kann, einer der intelligentesten internationalen Politiker ist, die wir haben und weil der Einmarsch in Polen und einem baltischen Staat auf der Stelle den Dritten Weltkrieg heraufbeschwören müsste. Das sind Nato-Mitglieder. Die Nato wäre verpflichtet einzugreifen. Das sind vollkommen absurde Zuschreibungen.

Wie meinen Sie das, einer der intelligentesten Politiker?

Selbstverständlich will Putin keinen Dritten Weltkrieg. Also ich sage ihnen ganz klar: Alle unsere Politiker, die gesagt haben, Russland könnte Polen, Estland, Lettland und Litauen militärisch bedrohen, keiner von denen hat das eine Sekunde lang geglaubt. Das ist doch eine völlig absurde These. Wenn Putin einen Krieg mit den USA anfangen würde, wäre er ein Selbstmörder, nicht nur für sich persönlich, sondern für sein ganzes Volk.

Sie haben in ihrem Aufsatz für die FAZ 2014 geschrieben, die vorschnelle Anerkennung der Krim durch Russland war völkerrechtswidrig. Russland hätte damit warten müssen.

Ich halte das für völkerrechtswidrig. Aber man muss dazu sagen, das gleiche ist mit dem Kosovo geschehen. Und jetzt möchte ich mal zwei Dinge an der Kosovo-Diskussion richtigstellen. Da ist ja immer gesagt worden, die Kosovo-Lage könne man nicht mit der Krim vergleichen, denn die Albaner seien von den Serben blutig geknechtet worden.

Das stimmte, als der Kosovo sich abgespalten hat, seit fast zehn Jahren nicht mehr. Der Kosovo war unter der Verwaltung der UNO und der Europäischen Union. Die haben ja dort die Polizeikräfte aufgebaut. Es gab eine neue serbische Regierung. Es gab eine neue serbische Verfassung. Milošević, der Schurke, der zehn Jahre vorher im Kosovo aggressiv agiert hatte, war in Den Haag in Haft und war schon gestorben, als der Kosovo sich abgespalten hat.

Und das Dritte ist: Hier in den Medien wurde immer gesagt, die Volksabstimmung auf der Krim sei nichts wert gewesen. Im Kosovo gab es überhaupt keine Volksabstimmung. Trotzdem wurde der Kosovo von den Amerikanern am nächsten und von Deutschland am zweiten Tag anerkannt. Wir haben also im Kosovo einen Präzedenzfall geschaffen. Und der Internationale Gerichtshof hat in einer intern hochumstrittenen Entscheidung gesagt, das Völkerrecht sagt nichts dazu.

Insofern war die Anerkennung des Abspaltungsreferendums auf der Krim durch Russland völkerrechtswidrig, aber auch dieser Völkerrechtsbruch war federleicht geworden durch das eigene Verhalten des Westens im Kosovo.

Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.


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Foto: Ulrich Heyden

Reinhard Merkel, Jahrgang 1950, ist Mitglied des Deutschen Ethik-Rates und Mitglied der Hinxton-Group, die sich mit Fragen der Lebenswissenschaften beschäftigt. Er ist emeritierter Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg und publiziert unter anderem zu Fragen des internationalen Rechts. Merkel meint, er habe Sympathien für die FDP, sei aber „verdrossen zahlendes“ Mitglied der SPD.