Die Kriegstrommeln übertönen
In einem offenen Brief stärken zahlreiche Kunstschaffende der russischen Opernsängerin Anna Netrebko den Rücken, die anlässlich ihres jüngsten Auftritts in Berlin auf das Heftigste diffamiert wurde.
Der Krieg macht vor Kultur keinen Halt. Kultur- und Kunstschaffende aus dem zum Feind ernannten Land müssen nach der Kriegslogik diffamiert und — neudeutsch — „gecancelt“ werden. Denn am Ende entsteht noch so etwas wie eine Brücke, die für Verständigung zwischen beiden Seiten der Front sorgen kann. Das ist selbstredend nicht im Sinne der Kriegstreiber. So wird im aktuellen Fall des Ukrainekrieges ein erbarmungsloser Cancel-Culture-Feldzug gegen die russische Kultur geführt. Daran musste die russische Opernsängerin Anna Netrebko bereits 2022 glauben, als sie nicht der Forderung nachkam, sich von Putin zu distanzieren. Bei ihrem kürzlichen Auftritt in Berlin ergoss sich über sie abermals ein Kübel russophober Hetze. Jedoch lassen das diesmal die friedens- und freiheitsliebenden Kunstschaffenden in diesem Land nicht stillschweigend stehen. Netrebko hat passionsbedingt bereits eine starke Stimme, aber eine einzige Stimme genügt nicht, um dem Getöse der Hetzer und „Canceler“ etwas entgegenzusetzen. So ergriff Liedermacher Jens Fischer Rodrian die Initiative und setzte einen offenen Brief zur Unterstützung Netrebkos auf. Diesen haben bereits unzählige Kulturschaffende unterzeichnet. Der Brief wird nun auch hier bei Manova veröffentlicht.
Berlin, den 20. September 2023
Sehr geehrte Anna Netrebko,
die unten aufgeführten Kulturschaffenden begrüßen, dass Sie am Freitag, den 15. September 2023, in Berlin an der Staatsoper Unter den Linden aufgetreten sind. Nach der Diffamierungskampagne gegen Sie ist dies keine Selbstverständlichkeit. Dass Sie sich dennoch für eine Aufführung in Berlin entschieden haben, freut uns von Herzen.
Wir distanzieren uns in aller Form von der Aussage des ukrainischen Botschafters Oleksij Makejew, der Ihnen eine Mitschuld am Krieg in der Ukraine zuweist (Spiegel-Artikel vom 14. September 2023), denn sie befeuert zum einen die Diffamierungskampagne gegen russische Kulturschaffende und versucht darüber hinaus den Kriegskurs der jetzigen Bundesregierung zu rechtfertigen.
Der Krieg in der Ukraine ist mit nichts zu rechtfertigen, und wir verurteilen ihn zutiefst. Eine Großmacht, die sich zu einer kriegerischen Auseinandersetzung entschließt, hat jede friedliche Alternative zur Lösung des Konfliktes aufgegeben. Dies gilt aber auch für die illegalen Angriffskriege und Regime Changes der NATO, die bislang Millionen Menschen das Leben gekostet haben.
Dazu kommt, dass die nationalen Sicherheitsinteressen Russlands seit Jahrzehnten ignoriert werden, angefangen mit der NATO-Osterweiterung bis hin zum gebrochenen Minsk-II-Abkommen. Auch die USA, Deutschland, Frankreich und vor allem die NATO tragen eine Mitschuld an dem Konflikt in der Ukraine.
Selten zuvor mussten Künstler in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg einer solchen Hetzkampagne standhalten, der Sie und einige Ihrer Kolleginnen und Kollegen jetzt ausgesetzt sind. Dass selbst alte Meister wie Dostojewski und Tschaikowski von deutschen Bühnen verbannt werden oder dass der ukrainische Autor Serhij Schadan, der Russen als „Unrat“ bezeichnet, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekommt, zeigt deutlich, in welch desolatem Zustand sich unser Kulturbetrieb mittlerweile befindet.
Abschließend möchten wir vier Kernpunkte anführen, die unsere Haltung verdeutlichen sollen:
- Wir verurteilen jede Art von Cancel Culture.
- Wir fordern alle Beteiligten an diesem Krieg auf, ohne Vorbedingungen in Verhandlungen zu treten und einen sofortigen Waffenstillstand zu vereinbaren.
- Wir suchen den Dialog und gehen für Frieden und Freiheit auf die Straße, auch wenn Bundeskanzler Olaf Scholz Friedensaktivisten als „gefallene Engel aus der Hölle“ bezeichnet.
- Wir fordern eine neutrale Berichterstattung, die Friedensbemühungen wie die des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett dokumentiert und deren Scheitern — für das US-Präsident Joe Biden mitverantwortlich ist — nicht ignoriert.
Deutschland sollte sich seiner historischen Verantwortung bewusst sein und alles dafür tun, zu deeskalieren, anstatt Waffen zu liefern.
Wir wünschen Ihnen, Frau Netrebko, für die weiteren Auftritte an der Staatsoper Berlin alles Gute. Wir freuen uns auf Sie.
Erstunterzeichner:
Jens Fischer Rodrian, Alexa Rodrian, Gabriele Gysi, Eva Herzig, Markus Stockhausen, Isi Reicht, Tino Eisbrenner, Karsten Troyke, Nina Maleika, Diether Dehm, Renée Morloc, Ugo D´Orazio,
Raphael Winterbloom, Boris Steinberg, Uli Masuth, Barbara Senator, Eva Schmidt, Sabrina Khalil, Tobias Morgenstern, Veit Wiesler, Günther Groissböck, Bustek & Lapaz, Thomas Unger, Oliver Pitt, Thomas Haberlah, Agnes Reuter, Tilmann Krumrey, Afshin Ghavami Kivi, Cathrin Pfeifer, Torsten Glas, Tomas Eckardt, Victoria Knobloch, Mouna Patni-Gentsch, Andre Krengel, Benedikt
Schnitzler, Susanna Bozzetti, Sabine Winterfeld, Almut Masuth, Gesa Korthus, Frauke Thalacker, Daniel Schäbe, Michael Bründel, Matthias Niemyt, Petra Schwung, Christine Hesse, Margit Pitt,
Caterina Serena Kittel, Arne Neumann, Rainald Noisten, Linus Roth, Andrea Haubold, Helmut Sinclair Schmickler, Ute Siegmund, Angela Liebold, Stefanie März, Annabelle N. Poertner, Christoph Gerhard, Regina Barthel, Christoph Abée, Eva-Maria Görres, Andreas Krennerich, Peter Röttig, Kathrin Schmidt, Gero Körner, Annette Becker, Raphaël Walter, Gregor Schulenburg, Katrin Hoos, Marlene Müller, HeikeB, Susan Stock, Conny Bruhn, Doris Köhler, Leonie Heinrich, Dietmar Fuhr, Valentin Holub, Christian Schubert, Nikolai Binner, Sabine Schwarzlose, Katja Brauneis, Annette Ruprecht, Moritz Schmidt, Andreas Mesli, Walfriede Schmitt, Paul Maasz, Marie Friederike Schöder, Hilmar Kuppe, Rebecca Rudolph, Dirk Zöllner, Neil Malik Abdullah, Juliane Tiefensee, Thomas Putensen, Torsten Hell, Björn Banane, Michael Schlabes, Arnulf Wenning, Frank Nowicky, Olaf Schöder, Maxim Kulikow, Hauke Möller, Maria Möller, Helga Sippel, Daniel Gundermann, Jana Bozkova, Veronika Hümpfer, Alexandra Petersamer, Clemens Posselt, Janos Orban, Stephan Gogolka, Stephan Schrader, Lena Sutor-Wernich, Michael Heim, Peggy Steiner, Martella Gutiérrez-Denhoff, Michael Denhoff, Renate Vornhusen, Anke Althoff, Gerda Maria Eiselmair, Uta Mücksch, Ana Kirchmayer-Wonnemann, Julia Haubold, Biruta Kviesite, Paul Cibis, Stefan Vinzberg, Anne-Marei Holter, Alessandro Nania Pacino, Saskia von Mendel, Doris Orsan, Morgaine, Äon