Die Kreuzigung Julian Assanges

Der Wikileaks-Gründer hat sich letztlich für die Wahrheit und das Wohl der Weltgemeinschaft geopfert — unser Dank sollte sein, ihn nicht zu vergessen.

Im August 2023 hielt Chris Hedges, Journalist, Pulitzer-Preisträger, Bestsellerautor und ordinierter presbyterianischer Priester, eine Predigt in Oslo, die er Julian Assange widmete. Er erzählt von dem Leid, das Julian Assange wie viele Propheten vor ihm für uns alle auf sich genommen hat und von der von uns geforderten Wahl zwischen schweigender Gleichgültigkeit und dem mutigen Willen, selbst Verantwortung für die Wahrheit zu übernehmen — selbst um den Preis des eigenen Leidens.

Propheten sind bekanntermaßen schwierige Menschen. Sie sind keine Heiligen. Sie sind, wie Rabbi Abraham Heschel schreibt, Menschen des Schmerzes, deren „Leben und Seele auf dem Spiel stehen“. Den Propheten bewegen menschliche Ängste. Propheten sind keine Wahrsager, sie erraten die Zukunft nicht. Für den Propheten nimmt die Ungerechtigkeit „fast kosmische Ausmaße an.“

Wenn er von einer außergewöhnlichen Wut verzehrt wird, bezeugt ein Prophet „das göttliche Pathos“. „Gott“, schreibt Heschel, „wütet in den Worten des Propheten“. Er oder sie steht unerschrocken an der Seite der Gekreuzigten der Erde — sogar bis zur eigenen Vernichtung. „Während die Welt ruht und schläft“, schreibt Heschel, „fühlt der Prophet den himmlischen Sturm.“ Der Prophet sagt „Nein“ zu seiner Gesellschaft und „verurteilt ihre Gewohnheiten und Anmaßungen, ihre Selbstgefälligkeit, ihren Eigensinn und Synkretismus“. Und der Prophet fühlt sich oft gedrängt, das genaue Gegenteil dessen zu verkünden, was sein Herz begehrt.“

Propheten glauben an die Gerechtigkeit, selbst wenn die Welt um sie herum sagt, es werde keine Gerechtigkeit geben. Es ist nicht so, dass sie die Wirklichkeit transzendieren — sie sind vielmehr gezwungen, dagegen anzukämpfen, und sie weigern sich, zu schweigen, ganz gleich, wie hart das Leben wird.

Sie sind ergriffen von dem, was Reinhold Niebuhr „einen erhabenen Wahnsinn der Seele“ nennt, weil „nichts anderes als dieser Wahnsinn den Kampf mit heimtückischen Mächten“ und „spiritueller Bösartigkeit in hohen Positionen aufnehmen wird“. Dieser Wahnsinn ist gefährlich, aber lebenswichtig, weil ohne ihn die „Wahrheit verdunkelt wird“.

Dem Liberalismus, fährt Niebuhr fort, „fehlt der Geist des Enthusiasmus, um nicht zu sagen des Fanatismus, der so nötig ist, um die Welt aus den eingefahrenen Bahnen zu bringen. Er ist zu intellektuell und zu wenig emotional, um eine wirksame Kraft in der Geschichte zu sein“.

Aber wie der Priester Amazja über den Propheten Amos spricht: „Seine Worte sind unerträglich für das Land.“

Die biblischen Propheten — Elija, Amos, Jeremias, Jesaja — glaubten, dass alles, wofür es sich zu leben lohne, auch wert sei, dafür zu sterben. Ihr Feind war nicht nur das Leid, die Verleumdung, die Armut, die Ungerechtigkeit, sondern (auch) ein sinnentleertes Leben. „Du musst bereit sein, zu sterben, bevor du zu leben beginnen kannst“, sagte die Bürgerrechtsikone Fred Shuttlesworth. Propheten können nicht eingeschüchtert werden. Sie können nicht gekauft werden. Sie sind zielstrebig besessen. James Baldwin, selbst ein Prophet, versteht dies. Er schreibt:

„Letztendlich funktionieren der Künstler und der Revolutionär, wie sie funktionieren, und zahlen den Preis, den sie zahlen müssen, weil beide von einer Vision besessen sind, und sie folgen dieser Vision weniger, als dass sie von ihr getrieben werden. Andernfalls könnten sie das Leben, das zu führen sie gezwungen sind, nicht ertragen, geschweige denn annehmen.“

Die Mächtigen und die Reichen bekriegen den Propheten. Sie verleumden und beleidigen ihn. Sie stellen die geistige Gesundheit und die Motive des Propheten infrage. Sie erschweren sein Überleben, indem sie ihm seine magere Einkommensquelle nehmen. Sie bestrafen und marginalisieren jene, die zu ihm stehen.

Sie bringen des Propheten Stimme durch Zensur, Inhaftierung und oft auch Mord zum Schweigen. Die Liste der gemarterten Propheten ist lang. Sokrates. Jeanne d´Arc. Isaak Babel. Federico García Lorca. Miklós Radnóti. Irène Némirovsky. Malcolm X. Martin Luther King Jr. Victor Jara. Ken Saro-Wiwa.

Die Wahrheit packt den Propheten, sodass er so fest an sie gebunden ist, dass nichts als der Tod ihn von ihr trennen kann. In dieser Wahrheit findet er Gott. „Man kann nie genug mit Gott ringen, wenn man es aus reiner Achtung vor der Wahrheit tut“, schreibt Simone Weil. „Christus möchte, dass wir die Wahrheit ihm vorziehen, weil er, bevor er Christus ist, die Wahrheit ist. Wenn man sich von ihm abwendet, um sich der Wahrheit zuzuwenden, kommt man nicht weit, ohne in seine Arme zu fallen.“ Wer kreuzigte Jesus? Die organisierte Religion. Die organisierte Politik. Die organisierte Wirtschaft.

Die Henker haben sich nicht verändert. Sie haben schlicht die Geschichte geändert, ein gefälschtes Evangelium geschaffen, wie der Dichter Langston Hughes schreibt:

Hör zu, Christus,
in deiner Zeit hast du recht gehandelt, denke ich —
aber diese Tage sind vorbei.
Auch dir haben sie eine tolle Geschichte erfunden,
nannten sie Bibel —
Aber nun ist sie tot.

Die Päpste und die Priester
haben zu viel Geld daraus geschlagen.
Sie verkauften dich
an viele Könige, Generäle, Räuber und Mörder —
selbst an Zaren und die Kosacken,
selbst an die Rockefeller-Kirche,
selbst an The Saturday Evening Post.
Du taugst nicht mehr.
Sie haben dich verpfändet,
bis du verschlissen warst.

Hannibal, General aus Karthago, der im Zweiten Punischen Krieg beinahe die römische Republik besiegt hätte, beging 181 vor Christus im Exil Selbstmord, als römische Soldaten in seine Residenz in Bithynien, der heutigen Türkei, eindrangen. Es war mehr als dreißig Jahre her, seit er seine Armee über die Alpen geführt und römische Legionen vernichtet hatte. Rom konnte sich nur vor der Niederlage retten, indem es Hannibals Militärtaktiken nachahmte.

Es spielte keine Rolle, dass es seit Hannibals Invasion mehr als 20 Konsuln gegeben hatte. Es spielte keine Rolle, dass Hannibal jahrzehntelang gejagt und gezwungen worden war, zu fliehen —immer knapp außerhalb des Zugriffs der römischen Behörden. Er hatte Rom gedemütigt. Er hatte dessen Mythos der Allmacht zerstört. Und dafür würde er zahlen. Mit seinem Leben. Jahre nach Hannibals Tod waren die Römer noch immer nicht zufrieden. In einem apokalyptischen Racheakt im Jahr 146 v. Chr. machten sie Karthago dem Erdboden gleich und verkauften die überlebende Bevölkerung in die Sklaverei. Cato der Zensor brachte die Gesinnung des Imperiums auf den Punkt: Carthaginem esse delendam — Karthago muss zerstört werden. Seitdem hat sich am Imperium nichts geändert.

Imperiale Mächte vergeben jenen nicht, die das schmutzige und unmoralische Innenleben des Imperiums offenlegen.

Imperien sind zerbrechliche Gebilde. Ihre Macht beruht gleichermaßen auf Wahrnehmung und militärischer Stärke. Hinter der Maske der Tugenden, die sie aufrechtzuerhalten und zu verteidigen behaupten — üblicherweise im Namen ihrer überlegenen Zivilisation —, verbergen sich Plünderung, Korruption, Lügen, die Ausbeutung billiger Arbeitskraft, wahllose Massengewalt gegen Unschuldige und Staatsterror.

Deshalb wird das derzeitige US-Imperium, beschädigt und gedemütigt durch die Unmengen an internen, von WikiLeaks veröffentlichten Dokumenten, Julian für den Rest seines Lebens verfolgen. Es spielt dabei keine Rolle, wer der Präsident ist oder welche politische Partei an der Macht ist. Imperialisten sprechen nur mit einer despotischen Stimme.

Deshalb wird Julian in Zeitlupe hingerichtet. Sieben Jahre in der Botschaft Ecuadors in London eingesperrt. Vier Jahre im Gefängnis Belmarsh. Er hat den Schleier von den dunklen Machenschaften des US-Imperiums gerissen, vom massenhaften Abschlachten von Zivilisten im Irak und in Afghanistan, von den Lügen, von der Korruption, von der brutalen Unterdrückung derer, die versuchen, die Wahrheit auszusprechen. Das Imperium beabsichtigt, ihn dafür zahlen zu lassen. An ihm soll ein Exempel statuiert werden für alle, die daran denken könnten, es ihm gleich zu tun.

Julian hatte andere Möglichkeiten. Seine Genialität und seine Fähigkeiten als Programmierer und Kryptograph hätten ihm einträgliche Stellen bei Geheimdiensten, privaten Unternehmern oder im Silicon Valley eingebracht. Hätte er dem Imperium gedient, hätte er ein sehr komfortables Leben führen können. Seine Seele wäre — wie bei Christopher Marlow in Doctor Faustus zu sehen — vertrocknet und gestorben, wie die Seelen all jener, die sich der Macht andienen, aber der materielle Lohn wäre beachtlich gewesen. Er wäre ein Erfolg gewesen — zumindest in den Augen der Mächtigen und Reichen.

Satan verführt Jesus, indem er ihm Macht anbietet, „alle Königreiche der Erde“, dazu Ruhm und Autorität. „Wenn du mich anbetest“, sagt Satan, „wird alles dir gehören.“ Diese Versuchung ist die tödliche Krankheit jener, die der Macht dienen und damit der Hybris und der Gier, die „das Reich der Gewalt“ vorantreiben, wie der Prophet Amos sagt.

Und doch sind diese bösartigen Kräfte nicht die gefährlichsten. „Als Rabbi der jüdischen Gemeinde in Berlin unter dem Hitlerregime … war die wichtigste Lektion, die ich unter diesen tragischen Umständen lernte, dass Engstirnigkeit und Hass nicht die dringlichsten Probleme darstellten“, sagt Rabbi Joachim Prinz. „Das dringlichste und schändlichste, das beschämendste und tragischste Problem ist das Schweigen.“ Julians Kreuzigung ist ein öffentliches Spektakel. Es passiert nicht im Verborgenen. Und doch schauen wir passiv zu. Wir überfluten keine Straßen mit unserem Protest. Wir verdammen die Henker nicht, darunter Donald Trump und Joe Biden. Wir stimmen seiner Kreuzigung schweigend zu. W.H. Auden schreibt im Musée des Beaux Arts:

Beim Leiden haben sie sich nie geirrt,
die alten Meister; wie gut sie
seine menschliche Lage verstanden; wie es stattfindet,
während jemand anderes gerade isst oder ein Fenster öffnet oder
einfach nur dumpf dahinschreitet;
Wie es, wenn die Älteren ehrfürchtig, leidenschaftlich
auf die wundersame Geburt warten, immer auch
Kinder gibt, die es nicht unbedingt wollten und die
auf einem Teich am Rande des Waldes Schlittschuh laufen:
Sie haben nie vergessen,
dass selbst das schrecklichste Martyrium seinen Lauf nehmen muss
irgendwo in einer Ecke, an einem schmutzigen Ort,
Wo die Hunde ihr Hundeleben weiter leben und das Pferd des Folterers
seinen unschuldigen Hintern an einem Baum kratzt.

In Breughels Ikarus zum Beispiel: Wie sich alles ganz gemächlich von der Katastrophe abwendet; der Pflüger mag das Aufklatschen,
den verlassenen Schrei gehört haben,
Für ihn war es jedoch kein wichtiges Scheitern; die Sonne schien,
wie sie es sollte, auf die weißen Beine, die im grünen Wasser
verschwanden, und das teure, zarte Schiff, das etwas
Erstaunliches gesehen haben muss, einen Jungen, der aus dem Himmel fiel,
musste ein Ziel erreichen und segelte ruhig weiter.

Opfer, Selbstopferung, ist der Preis der Anhängerschaft. Doch wenige nur sind bereit, diesen Preis zu bezahlen. Wir ziehen es vor, bei Leid wegzuschauen, bei einem Jungen, der aus dem Himmel fällt. Und es ist unsere Gleichgültigkeit, und mit unserer Gleichgültigkeit unsere Komplizenschaft, die alle Propheten verdammt.

„Aber was ist der Preis für den Frieden?“ fragt der radikale Priester Vater Daniel Berrigan, der zwei Jahre in einem Bundesgefängnis inhaftiert war, weil er während des Vietnamkriegs Einberufungsunterlagen verbrannte, in seinem Buch „No Bars to Manhood“.

Ich denke an die guten, anständigen, friedliebenden Menschen, die ich zu Tausenden kenne, und frage mich: Wie viele von ihnen sind so sehr an der verzehrenden Krankheit der Normalität erkrankt, dass sich ihre Hände selbst in dem Moment, in dem sie für den Frieden eintreten, mit einem instinktiven Zucken ausstrecken … in Richtung ihres Komforts, ihres Hauses, ihrer Sicherheit, ihres Einkommens, ihrer Zukunft, ihrer Pläne — dieses Fünfjahresplans des Studiums, dieses Zehnjahresplans des beruflichen Status, dieses Zwanzigjahresplans des Wachstums und der Einheit der Familie, dieses Fünfzigjahresplans eines anständigen Lebens und eines ehrenvollen natürlichen Ablebens?

„Natürlich, lasst uns den Frieden haben“, rufen wir, „aber lasst uns gleichzeitig Normalität haben, lasst uns nichts verlieren, lasst unsere Leben intakt bleiben, lasst uns weder das Gefängnis noch Verleumdung noch das Kappen von Verbindungen erleben.“ Und weil wir dieses umfassen und jenes schützen müssen, und weil um jeden Preis — um jeden Preis — unsere Hoffnungen nach Zeitplan marschieren müssen und weil es unerhört ist, dass im Namen des Friedens ein Schwert fällt und das feine und schlaue Netz zerreißt, das unsere Leben gewoben haben, und weil es unerhört ist, dass gute Menschen Ungerechtigkeit erleiden oder Familien zerrissen werden oder der gute Ruf verloren geht — deshalb schreien wir Frieden und wir schreien Frieden und da ist kein Friede. Da ist kein Friede, weil es keine Friedensstifter gibt. Da sind keine Friedensstifter, weil das Schaffen von Frieden mindestens so kostspielig ist wie das Schaffen von Krieg — mindestens so zwingend, mindestens so zerstörerisch, mindestens so anfällig für Schande und Gefängnis und Tod in seinem Gefolge.

Das Kreuz zu tragen, die Wahrheit zu leben — hierbei geht es nicht um das Streben nach Glück. Es geht nicht um die Illusion des unvermeidlichen menschlichen Fortschritts. Es geht nicht darum, Reichtum zu erlangen oder Berühmtheit oder Macht. Es bringt Opfer mit sich. Es geht um unseren Nachbarn. Die Organe der Staatssicherheit überwachen und schikanieren dich. Sie legen riesige Akten mit deinen Aktivitäten an. Sie bringen dein Leben durcheinander. Sie werfen dich, wie Julian, selbst dann ins Gefängnis, wenn du kein Verbrechen begangen hast. Es ist keine neue Geschichte. Auch unsere Gleichgültigkeit dem Bösen gegenüber — dem spürbaren Bösen vor uns — ist nicht neu.

Beim Lesen der hebräischen Bibel hören wir die Geschichte des Propheten Jeremia. Genau wie Julien deckte er die Korruption und Kriegslust der Mächtigen auf. Er warnte vor der Katastrophe, die unweigerlich eintritt, wenn der Bund mit Gott gebrochen wird. Er prangerte den Götzendienst, die Korruption der Könige, Priester und falscher Propheten an. Jeremia wurde festgenommen, geschlagen und an den Pranger gestellt. Das Predigen wurde ihm verboten. Auf sein Leben wurde ein Anschlag verübt.

Nachdem Ägypten von Babylon erobert wurde und Judäa sich auf einen Krieg vorbereitete, mahnte er den König in einem Orakel an, den Frieden zu wahren. König Zedekia ignorierte ihn und Babylon belagerte Jerusalem. Jeremia wurde festgenommen und inhaftiert. Die Babylonier befreiten ihn nach der Eroberung Jerusalems, aber er wurde nach Ägypten ins Exil gebracht, wo er der biblischen Überlieferung zufolge gesteinigt wurde.

Jeremia hat wie Julian verstanden, dass eine Gesellschaft ein Leben in Gerechtigkeit verunmöglicht, wenn sie es verbietet, die Wahrheit auszusprechen. Ja, wir alle, die wir Julian kennen und bewundern, prangern sein fortgesetztes Leiden und das Leiden seiner Familie an. Ja, wir fordern, dass das viele Unrecht und die vielen Ungerechtigkeiten, denen er ausgesetzt war, aufhören. Ja, wir ehren ihn für seinen Mut und seine Integrität. Aber der Kampf um Julians Freiheit war schon immer viel mehr als die Verfolgung eines Verlegers. Es ist der wichtigste Kampf um die Pressefreiheit und Wahrheit unserer Ära. Und wenn wir diesen Kampf verlieren, wird das verheerend sein — nicht nur für Julian und seine Familie, sondern für uns.

Seit biblischen Zeiten bis zum heutigen Tag verkehren Tyranneien die Rechtsstaatlichkeit in ihr Gegenteil. Sie verwandeln das Gesetz in ein Werkzeug der Ungerechtigkeit. Sie hüllen ihre Verbrechen in eine Scheinlegalität.

Sie nutzen die Gepflogenheiten der Gerichte und Prozesse, um ihre Kriminalität zu verschleiern. Jene, die wie Julian deren Verbrechertum der Öffentlichkeit vorführen, sind gefährlich, weil die Tyrannei ohne den Vorwand der Legalität ihre Glaubwürdigkeit verliert und dann nur noch Angst, Zwang und Gewalt zur Verfügung hat.

Die lange Kampagne gegen Julian und WikiLeaks ist ein Fenster in den Zusammenbruch der Rechtsstaatlichkeit, den Aufstieg dessen, was der Politikphilosoph Sheldon Wolin unser System des „umgekehrten Totalitarismus“ nennt — eine Form des Totalitarismus, der die Fiktion der alten kapitalistischen Demokratie aufrechterhält mitsamt ihrer Institutionen, Ikonographie, patriotischen Symbole und Rhetorik, aber innerlich die totale Kontrolle den Diktaten der globalen Konzerne unterworfen hat.

Ich befand mich in dem Londoner Gerichtssaal, als die Vorsitzende Richterin Vanessa Baraitser — eine moderne Version der Herzdame aus „Alice im Wunderland“ — bei Julians Auslieferungsanhörung die Strafe forderte, bevor sie das Urteil verkündete. Es war eine Justizfarce. Es gab keine Rechtsgrundlage für eine weitere Inhaftierung Julians. Es gab keine Rechtsgrundlage, ihn, einen australischen Staatsbürger, nach dem US-Spionagegesetz vor Gericht zu stellen.

Über das spanische Unternehmen UC Global, das für die Sicherheit der Botschaft zuständig war, spionierte die CIA Julian in der Botschaft aus. Dazu gehörte auch die Aufzeichnung der vertraulichen Gespräche zwischen Julian und seinen Anwälten, in denen sie seine Verteidigung durchsprachen. Diese Tatsache alleine machte die Anhörung ungültig. Julian wird in einem Hochsicherheitsgefängnis festgehalten, damit, so bezeugte es Nils Melzer, Sonderbeauftragter der UN für Folter, der Staat die erniedrigenden Misshandlungen und Folterungen fortsetzen kann, von denen er sich Julians psychologischen, wenn nicht gar körperlichen Zerfall erhofft.

Die US-Regierung dirigierte den Londoner Anwalt James Lewis. Dieser legte diese Direktiven Baraitser vor, die sie wiederum als ihre juristische Entscheidung übernahm. Es war eine Justizpantomime. Lewis und der Richter betonten, sie versuchten nicht, Journalisten zu kriminalisieren und der Presse einen Maulkorb zu verpassen, während sie eifrig den rechtlichen Rahmen dafür schufen, Journalisten zu kriminalisieren und der Presse einen Maulkorb zu verpassen. Deshalb bemühte sich das Gericht so sehr, die Vorgänge vor der Öffentlichkeit zu verbergen, indem es den Zugang zum Gerichtssaal auf eine Handvoll Beobachter beschränkte und es schwer bis zeitweise unmöglich machte, die Anhörung online zu verfolgen. Es war ein billiger Schauprozess — die Ljubanka statt eines Beispiels bester englischer Jurisprudenz.

Propheten fordern Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt. Was sie verlangen, ist nicht radikal. Im politischen Spektrum ist es konservativ. Die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit. Es ist einfach und grundlegend. In einer funktionierenden Demokratie sollte das nicht als aufrührerisch gelten. Aber die Wahrheit in einem despotischen System zu leben, ist der höchste Akt der Renitenz. Diese Wahrheit versetzt die Machthaber in Angst und Schrecken.

Die Architekten des Imperialismus, die Meister des Krieges, die von Unternehmen kontrollierte Legislative, Judikative und Exekutive und ihre devoten Höflinge in den Medien, sind illegitim. Sprich diese einfache Wahrheit aus und du wirst an die Ränder der Medienlandschaft verbannt, so wie es vielen von uns ergangen ist. Beweise diese Wahrheit, wie es Julian, Chelsea Manning, Jeremy Hammond und Edward Snowden getan haben, indem sie uns erlaubt haben, einen Blick auf die inneren Machenschaften der Macht zu werfen, und du wirst gejagt und strafrechtlich verfolgt.

Im Oktober 2010 veröffentlichte WikiLeaks die Irak-Kriegsprotokolle. Diese dokumentierten zahlreiche von den USA begangene Kriegsverbrechen, darunter zweier Reuters-Journalisten und zehn anderer unbewaffneter Zivilisten im „Collateral Murder“ genannten Video sowie die routinemäßige Folter von irakischen Häftlingen, die Vertuschung tausender ziviler Toter und die Ermordung von fast 700 Zivilisten, die US-Kontrollpunkten zu nahe kamen. Die herausragenden Menschenrechtsanwälte Len Weinglass und mein guter Freund Michael Ratner — den ich später für ein Treffen mit Julian in die ecuadorianische Botschaft begleiten sollte — trafen sich mit Julian in einem Studioapartment im Zentrum Londons.

Julians persönliche Bankkarten waren gesperrt worden. Drei verschlüsselte Laptops mit Dokumenten, die Kriegsverbrechen der USA genau beschrieben, waren auf dem Weg nach London aus seinem Gepäck verschwunden. Die schwedische Polizei fabrizierte einen Fall gegen ihn, der, so warnte Ratner, die Auslieferung Julians an die Vereinigten Staaten zur Folge hätte.

„WikiLeaks und Sie persönlich befinden sich in einem Kampf, der sowohl rechtlicher als auch politischer Natur ist“, sagte Weinglass zu Julian.

„Wie wir im Fall der Pentagon Papers erfahren haben, mag es die US-Regierung nicht, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Und sie mag es nicht, gedemütigt zu werden. Egal ob es sich um Nixon oder Obama, Republikaner oder Demokraten im Weißen Haus handelt. Die US-Regierung wird versuchen, Sie von der Veröffentlichung ihrer schmutzigen Geheimnisse abzuhalten — und wenn sie dafür Sie und den Ersten Verfassungszusatz und die Rechte der Verleger mit Ihnen zerstören müssen. Wir sind davon überzeugt, dass sie hinter WikiLeaks und Ihnen, Julian, als dessen Herausgeber her sein werden.“

„Weswegen sollen sie hinter mir her sein?“, fragte Julian.
„Spionage“, fuhr Weinglass fort.

„Sie werden Bradley Manning wegen Verrats gemäß des Spionagegesetzes von 1917 anklagen. Wir glauben nicht, dass es auf ihn zutrifft, weil er Whistleblower ist und kein Spion. Wir glauben auch nicht, dass es auf Sie zutrifft, weil Sie Verleger sind. Sie werden jedoch versuchen, Manning dazu zu bringen, Sie als seinen Kollaborateur zu beschuldigen.“

„Weswegen sollen sie hinter mir her sein?“
Das ist die Frage.

Sie waren nicht wegen seiner Verbrechen, sondern wegen seiner Tugenden hinter ihm her. Sie waren hinter ihm her, weil er die mehr als 15.000 verschwiegenen Todesfälle irakischer Zivilisten enthüllte. Weil er die Folter und Misshandlung von etwa 800 Männern und Jungen im Alter von 14 bis 89 Jahren in Guantánamo enthüllte. Weil er enthüllte, dass Hillary Clinton im Jahr 2009 US-Diplomaten anwies, UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon und andere UN-Vertreter aus China, Frankreich, Russland und dem Vereinigten Königreich auszuspionieren, wozu die Beschaffung von DNA, Iris-Scans, Fingerabdrücken und persönlichen Passwörtern gehörte — Teil einer langen Reihe illegaler Überwachungen, darunter auch das Abhören von UN-Generalsekretär Kofi Annan in den Wochen vor der US-geführten Invasion des Irak.

Weil er enthüllte, dass Barack Obama, Hillary Clinton und die CIA den Militärputsch in Honduras im Juni 2009 unterstützten, der den demokratisch gewählten Präsident Manuel Zelaya stürzte und diesen durch ein mörderisches und korruptes Militärregime ersetzte. Weil er enthüllte, dass George W. Bush, Barack Obama und General David Petraeus einen Krieg im Irak führten, der nach den Nürnberger Prozessen als verbrecherischer Angriffskrieg, als Kriegsverbrechen gilt, dass sie Hunderte von gezielten Tötungen autorisierten, darunter auch von US-Zivilisten im Jemen, und dass sie heimlich Raketen-, Bomben- und Drohnenangriffe im Jemen veranlassten, bei denen zig Zivilisten ums Leben kamen.

Weil Julian die Inhalte der Reden enthüllte, die Hillary Clinton bei Goldman Sachs hielt und für die sie 675.000 US-Dollar erhielt — eine so hohe Summe, dass sie nur als Bestechung angesehen werden kann—, und weil er enthüllte, dass sie privat Unternehmensführern versicherte, sie würde nach deren Pfeife tanzen, während sie gleichzeitig der Öffentlichkeit eine Finanzregulierung und -reform versprach. Weil er enthüllte, wie die von der CIA und der NSA eingesetzten Hacker-Instrumente die Überwachung unserer Fernseher, Computer, Smartphones und Antivirus-Software im großen Stil ermöglichen und die Regierung dadurch befähigen, unsere Gespräche, Bilder, privaten Textnachrichten, selbst von verschlüsselten Apps, aufzuzeichnen und zu speichern.

Julian enthüllte die Wahrheit. Er enthüllte sie immer und immer und immer wieder, bis kein Zweifel mehr an der endemischen Illegalität, Korruption und Verlogenheit bestand, die die globale herrschende Klasse auszeichnen. Und wegen dieser Wahrheiten waren sie hinter Julian her, wie sie hinter allen her waren, die es wagten, den Schleier der Macht zu lüften.

„Die Rote Rosa ist nun auch verschwunden“, schrieb Bertolt Brecht, nachdem die deutsche Sozialistin Rosa Luxemburg ermordet wurde. „Sie erzählte den Armen, worum es im Leben ging, und so wurde sie von den Reichen ausradiert.“

Wir haben einen korporativen Putsch erlebt, in dem arme und arbeitende Männer und Frauen zu Arbeitslosigkeit und Hunger verdammt werden, in dem Krieg, Finanzspekulation und interne Überwachung die einzigen echten Geschäfte des Staates sind, in dem selbst das Habeas Corpus (das Recht zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Verhaftung durch ein Gericht; Anmerkung der Übersetzerin) nicht mehr existiert, in dem wir als Bürger für die korporatistischen Machtsysteme nicht mehr sind als Waren, die gebraucht, ausgebeutet und entsorgt werden.

Die Weigerung, sich zu wehren, den Schwachen, Unterdrückten und Leidenden die Hand zu reichen und zu helfen, den Planeten vor dem Ökozid zu schützen, die nationalen und internationalen Verbrechen der herrschenden Klasse anzuprangern, Gerechtigkeit zu fordern, in der Wahrheit zu leben bedeutet, das Mal des Kain zu tragen. Die Machthaber müssen unseren Zorn spüren, und das bedeutet andauernde Akte massenweisen zivilen Ungehorsams, es bedeutet ständige Akte sozialer und politischer Umwälzungen, weil diese organisierte Macht von unten die einzige Macht ist, die uns retten und die einzige Macht, die Julian befreien wird. Politik ist ein Spiel mit der Angst. Es ist unsere moralische sowie unsere Bürgerpflicht, den Machthabern sehr, sehr viel Angst zu machen.

Die kriminelle herrschende Klasse hält uns alle in ihrem Todesgriff gefangen. Sie kann nicht reformiert werden. Sie hat die Rechtsstaatlichkeit abgeschafft. Sie verdunkelt und verfälscht die Wahrheit. Sie strebt nach der Verfestigung ihres obszönen Reichtums und ihrer obszönen Macht. Um dies jedoch zu tun, müssen wir — wie Julian es getan hat, wie alle Propheten es getan haben — das Kreuz auf uns nehmen und seine furchtbare Last auf unserem Rücken ertragen.

„Dies ist das Kreuz, das wir für die Freiheit unseres Volkes tragen müssen …“, erinnert uns Martin Luther King Jr.

„Dem Kreuz, das wir tragen, folgt die Krone, die wir tragen. Um ein Christ zu sein, muss man das Kreuz auf sich nehmen, mit all seinen Schwierigkeiten, all dem Leid, all der Spannung, und es tragen, bis eben dieses Kreuz uns zeichnet und erlöst, zu jenem außerordentlichen Weg, der nur durch das Leid führt … Als ich das Kreuz auf mich nahm, erkannte ich dessen Bedeutung … Das Kreuz ist etwas, das man (er)trägt, und an dem man schließlich stirbt.“

„Die Hoffnung hat zwei wunderschöne Töchter“, schreibt Augustinus. „Sie heißen Zorn und Mut: Zorn darüber, wie die Dinge sind, und Mut, dafür zu sorgen, dass sie nicht so bleiben, wie sie sind.“

Nach dem Verständnis des Soziologen Emile Durkeim sind diejenigen, die am Ewigen und Heiligen, an der Wahrheit festhalten, nicht einfach nur diejenigen, die neue Wahrheiten sehen, von denen andere nichts wissen, sondern Männer und Frauen, die von einem erhabenen Wahnsinn besessen sind, die angetrieben werden von einer transzendenten Kraft, die sie befähigt, die Prüfungen des Daseins zu ertragen oder sie zu überwinden. Sie verwandeln die Welt durch (ihr) Leiden.

Mein Freund Julian leidet. Er leidet für unsere Sünden und unsere Gleichgültigkeit. „Manche sind schuldig, aber alle sind verantwortlich“, erinnert uns Rabbi Heschel. Wir haben die Wahl. Entweder stehen wir für die Wahrheit ein, für Julian, und befreien ihn. Wir finden den Mut zur Verantwortung, zum Tragen des Kreuzes. Oder wir machen uns zu Komplizen der dunklen Nacht der Unternehmenstyrannei, die uns alle umfangen wird.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel"Watch This Service for Julian Assange “ bei The Chris Hedges Report. Er wurde von Gabriele Herb ehrenamtlich übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratsteam lektoriert.